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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

II. Beide Umgestaltungen haben, so verschieden sie unter sich sind, eine
staatsrechtliche Voraussetzung gemeinsam.

1. Die eine wie die andere bedeutet eine Änderung der Reichsverfassung.
Zwar das Reichsgebiet wird nicht betroffen, aber es bleibt Elsaß-Lothringen
dann nicht mehr als Reichsland beim Reiche. In dieser Gestalt ist im geltenden
Reichsrecht die Zugehörigkeit der von Frankreich abgetretenen Gebiete zum Reiche
verfassungsmäßig bestimmt.

Schon die Aufnahme Elsaß-Lothringens als Reichsland in den Reichs-
verband ergab zweifellos eine Änderung der Reichsverfassung, da diese im
Art. 1 das Bundesgebiet gleichsetzt den Gebieten der Bundesstaaten und das
Reichsland nicht mit aufführt. Seit der Erwerbung Elsaß-Lothringens bestand
das Reich nicht mehr nur ans den Bundesstaaten, sondern aus ihnen und dem
Reichsland. Diese Änderung des Art. 1 wurde im § 2 des Reichgesetzes vom
23. Juni 1873 über die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen
formell ausgesprochen. Aber im Texte der Reichsverfassung Art. 1 blieb die
Änderung unberücksichtigt. Folglich kann auf diesen Vorgang das Erfordernis
verfassungsändernden Reichsgesetzes zur Beseitigung der Reichslandeigenschaft
Elsaß-Lothringens nicht gestützt werden. Denn die erschwerende Vorschrift für
verfassungsändernde Reichsgesetze, die Art. 78 Abs. 1 Reichsverfassung dahin
gibt, daß die Vorlage als abgelehnt erachtet wird, wenn sie im Bundesrate
vierzehn Stimmen gegen sich hat. setzt voraus, daß der Text der Reichsverfassung
betroffen wird, nicht teilt sich diese Garantie des Bestandes von selbst auch ver¬
fassungsändernden Reichsgesetzen außerhalb der Reichsverfassung mit. Soll
eine solche Bestimmung ihrerseits der Gewähr des Art. 78 Abs. 1 teilhaftig
werden, so muß sie dem Verfassungsgesetze eingefügt oder doch der Geltung
des Artikels ausdrücklich unterworfen werden.

Aber die elsaß-lothringische Verfassung von 1911 hat die bis dahin unter¬
bliebene textliche Änderung der Reichsverfassung gebracht. Durch Art. I jener
Verfassung wurde als Art. 6a in die Reichsverfassung folgende Vorschrift ein-
gestellt: "Elsaß-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, solange die
Vorschriften im Art. II Z 1. § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Ver¬
fassung Elsaß-Lothringens ... in Kraft sind"; der weitere Inhalt des Art. 6a
kann hier außer Betracht bleiben. Von den so in Bezug genommenen
Vorschriften enthält Art. II § 1: "Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übt
der Kaiser aus" die Anerkennung der Reichslandeigenschaft, während die andere,
Art. II H 2 Abs. 1 und 3, das Bestehen von Statthaltern nach kaiserlicher Er¬
nennung und die Ernennung und Jnstruierung der Buudesratsbevollmächtigten
durch den Statthalter zum Gegenstand haben. Nein wörtliche Auslegung könnte
den Artikel dahin deuten, daß verfassungsmüßig nur das Stimmrecht Elsaß>
Lothringens, bedingt durch die Reichslandseigenschaft usw., nicht die letzter:
selbst sichergestellt sei. Es würde dann nur zur Aufhebung des Stimmrechts,
während Elsaß-Lothringen Reichsland bliebe, eines verfassungsändernden Reichs-


Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

II. Beide Umgestaltungen haben, so verschieden sie unter sich sind, eine
staatsrechtliche Voraussetzung gemeinsam.

1. Die eine wie die andere bedeutet eine Änderung der Reichsverfassung.
Zwar das Reichsgebiet wird nicht betroffen, aber es bleibt Elsaß-Lothringen
dann nicht mehr als Reichsland beim Reiche. In dieser Gestalt ist im geltenden
Reichsrecht die Zugehörigkeit der von Frankreich abgetretenen Gebiete zum Reiche
verfassungsmäßig bestimmt.

Schon die Aufnahme Elsaß-Lothringens als Reichsland in den Reichs-
verband ergab zweifellos eine Änderung der Reichsverfassung, da diese im
Art. 1 das Bundesgebiet gleichsetzt den Gebieten der Bundesstaaten und das
Reichsland nicht mit aufführt. Seit der Erwerbung Elsaß-Lothringens bestand
das Reich nicht mehr nur ans den Bundesstaaten, sondern aus ihnen und dem
Reichsland. Diese Änderung des Art. 1 wurde im § 2 des Reichgesetzes vom
23. Juni 1873 über die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen
formell ausgesprochen. Aber im Texte der Reichsverfassung Art. 1 blieb die
Änderung unberücksichtigt. Folglich kann auf diesen Vorgang das Erfordernis
verfassungsändernden Reichsgesetzes zur Beseitigung der Reichslandeigenschaft
Elsaß-Lothringens nicht gestützt werden. Denn die erschwerende Vorschrift für
verfassungsändernde Reichsgesetze, die Art. 78 Abs. 1 Reichsverfassung dahin
gibt, daß die Vorlage als abgelehnt erachtet wird, wenn sie im Bundesrate
vierzehn Stimmen gegen sich hat. setzt voraus, daß der Text der Reichsverfassung
betroffen wird, nicht teilt sich diese Garantie des Bestandes von selbst auch ver¬
fassungsändernden Reichsgesetzen außerhalb der Reichsverfassung mit. Soll
eine solche Bestimmung ihrerseits der Gewähr des Art. 78 Abs. 1 teilhaftig
werden, so muß sie dem Verfassungsgesetze eingefügt oder doch der Geltung
des Artikels ausdrücklich unterworfen werden.

Aber die elsaß-lothringische Verfassung von 1911 hat die bis dahin unter¬
bliebene textliche Änderung der Reichsverfassung gebracht. Durch Art. I jener
Verfassung wurde als Art. 6a in die Reichsverfassung folgende Vorschrift ein-
gestellt: „Elsaß-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, solange die
Vorschriften im Art. II Z 1. § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Ver¬
fassung Elsaß-Lothringens ... in Kraft sind"; der weitere Inhalt des Art. 6a
kann hier außer Betracht bleiben. Von den so in Bezug genommenen
Vorschriften enthält Art. II § 1: „Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übt
der Kaiser aus" die Anerkennung der Reichslandeigenschaft, während die andere,
Art. II H 2 Abs. 1 und 3, das Bestehen von Statthaltern nach kaiserlicher Er¬
nennung und die Ernennung und Jnstruierung der Buudesratsbevollmächtigten
durch den Statthalter zum Gegenstand haben. Nein wörtliche Auslegung könnte
den Artikel dahin deuten, daß verfassungsmüßig nur das Stimmrecht Elsaß>
Lothringens, bedingt durch die Reichslandseigenschaft usw., nicht die letzter:
selbst sichergestellt sei. Es würde dann nur zur Aufhebung des Stimmrechts,
während Elsaß-Lothringen Reichsland bliebe, eines verfassungsändernden Reichs-


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[0037] Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande II. Beide Umgestaltungen haben, so verschieden sie unter sich sind, eine staatsrechtliche Voraussetzung gemeinsam. 1. Die eine wie die andere bedeutet eine Änderung der Reichsverfassung. Zwar das Reichsgebiet wird nicht betroffen, aber es bleibt Elsaß-Lothringen dann nicht mehr als Reichsland beim Reiche. In dieser Gestalt ist im geltenden Reichsrecht die Zugehörigkeit der von Frankreich abgetretenen Gebiete zum Reiche verfassungsmäßig bestimmt. Schon die Aufnahme Elsaß-Lothringens als Reichsland in den Reichs- verband ergab zweifellos eine Änderung der Reichsverfassung, da diese im Art. 1 das Bundesgebiet gleichsetzt den Gebieten der Bundesstaaten und das Reichsland nicht mit aufführt. Seit der Erwerbung Elsaß-Lothringens bestand das Reich nicht mehr nur ans den Bundesstaaten, sondern aus ihnen und dem Reichsland. Diese Änderung des Art. 1 wurde im § 2 des Reichgesetzes vom 23. Juni 1873 über die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen formell ausgesprochen. Aber im Texte der Reichsverfassung Art. 1 blieb die Änderung unberücksichtigt. Folglich kann auf diesen Vorgang das Erfordernis verfassungsändernden Reichsgesetzes zur Beseitigung der Reichslandeigenschaft Elsaß-Lothringens nicht gestützt werden. Denn die erschwerende Vorschrift für verfassungsändernde Reichsgesetze, die Art. 78 Abs. 1 Reichsverfassung dahin gibt, daß die Vorlage als abgelehnt erachtet wird, wenn sie im Bundesrate vierzehn Stimmen gegen sich hat. setzt voraus, daß der Text der Reichsverfassung betroffen wird, nicht teilt sich diese Garantie des Bestandes von selbst auch ver¬ fassungsändernden Reichsgesetzen außerhalb der Reichsverfassung mit. Soll eine solche Bestimmung ihrerseits der Gewähr des Art. 78 Abs. 1 teilhaftig werden, so muß sie dem Verfassungsgesetze eingefügt oder doch der Geltung des Artikels ausdrücklich unterworfen werden. Aber die elsaß-lothringische Verfassung von 1911 hat die bis dahin unter¬ bliebene textliche Änderung der Reichsverfassung gebracht. Durch Art. I jener Verfassung wurde als Art. 6a in die Reichsverfassung folgende Vorschrift ein- gestellt: „Elsaß-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, solange die Vorschriften im Art. II Z 1. § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Ver¬ fassung Elsaß-Lothringens ... in Kraft sind"; der weitere Inhalt des Art. 6a kann hier außer Betracht bleiben. Von den so in Bezug genommenen Vorschriften enthält Art. II § 1: „Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übt der Kaiser aus" die Anerkennung der Reichslandeigenschaft, während die andere, Art. II H 2 Abs. 1 und 3, das Bestehen von Statthaltern nach kaiserlicher Er¬ nennung und die Ernennung und Jnstruierung der Buudesratsbevollmächtigten durch den Statthalter zum Gegenstand haben. Nein wörtliche Auslegung könnte den Artikel dahin deuten, daß verfassungsmüßig nur das Stimmrecht Elsaß> Lothringens, bedingt durch die Reichslandseigenschaft usw., nicht die letzter: selbst sichergestellt sei. Es würde dann nur zur Aufhebung des Stimmrechts, während Elsaß-Lothringen Reichsland bliebe, eines verfassungsändernden Reichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/37>, abgerufen am 09.11.2024.