Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland besten Wurzeln unserer Kraft ihren Mutterboden haben? Es gehört zum Wesen Wir haben bisher tatenlos diesem Mißverkennen zugesehen, wir haben ge¬ Aber freilich, rein theoretisch ist das Problem der rechten Kenntnis unseres Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland besten Wurzeln unserer Kraft ihren Mutterboden haben? Es gehört zum Wesen Wir haben bisher tatenlos diesem Mißverkennen zugesehen, wir haben ge¬ Aber freilich, rein theoretisch ist das Problem der rechten Kenntnis unseres <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333061"/> <fw type="header" place="top"> Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland</fw><lb/> <p xml:id="ID_1120" prev="#ID_1119"> besten Wurzeln unserer Kraft ihren Mutterboden haben? Es gehört zum Wesen<lb/> des einzelnen Deutschen wie des gesamten Volkes, daß es größere Widersprüche<lb/> in sich zu vereinen vermag als die meisten anderen Völker und ihre Individuen.<lb/> Es wird darum leichter mißkannt und einseitig beurteilt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1121"> Wir haben bisher tatenlos diesem Mißverkennen zugesehen, wir haben ge¬<lb/> schwiegen, uns gewundert, vielleicht sogar gelacht. Ein Buch wie das vonFouillee<lb/> hat — soviel ich weiß — keine Widerlegung, nicht einmal ein Gegenstück in der<lb/> deutschen Wissenschaft gefunden. Das muß anders werden! Unsere Psychologie<lb/> muß heraus aus ihren Laboratorien, hinweg von ihren mühseligen Experimenten.<lb/> Das wahre Laboratorium der Psychologie ist die Geschichte! Hier ist experimentiert<lb/> worden in einem Umfang, wie es das bestausgestattete Univerfitätsinstitut nicht<lb/> entfernt vermag! Das herrlichste Material liegt ziemlich unbenutzt in unüberseh¬<lb/> barer Masse vor uns! Es wartet auf den Synthetiker, der es zu meistern wagt!</p><lb/> <p xml:id="ID_1122"> Aber freilich, rein theoretisch ist das Problem der rechten Kenntnis unseres<lb/> Nationalcharakters im Auslande — und auch im Inlands — kaum zu lösen. Es<lb/> muß in dieser Hinsicht von den repräsentativen Stellen des Staates mehr getan<lb/> werden, als bisher geschehen ist. Es ist kein Zweifel, daß der Staat — speziell<lb/> der preußische — zu wenig Ausdruck auch des geistigen Deutschland gewesen<lb/> ist. Nicht nur die Regierung, mindestens ebensosehr die Volksvertretungen haben<lb/> da vieles versäumt. Wir, die wir mitten im deutschen Geistesleben stehen, wissen,<lb/> daß Ministerreden über künstlerische und wissenschaftliche Dinge so wenig wie<lb/> Reichstagsdebattm über gleiche Themata rechte Spiegelungen jener Bestrebungen<lb/> sind, die im eigentlichen Volke an der Arbeit sind. Man hat uns allzuoft die<lb/> schönen Reden über Realpolitik vorgehalten: es wäre zeitgemäßer, die „Ideal-<lb/> Politik" zu vertreten, nicht im Sinne eines verstiegenen Jdeologentums, nein, im<lb/> Sinne des Ausdruckes der vielen geistigen Kräfte, die unter uns — wenn auch<lb/> oft nur im stillen — an der Arbeit sind. Vielleicht bringt die neue Vorlage<lb/> über die Zusammensetzung des Herrenhauses die Möglichkeit mit sich, auch Männer<lb/> der Kunst und der Wissenschaft mehr zur Geltung zu bringen in der Vertre¬<lb/> tung unseres Volkes. Das würde nach innen wie nach außen seine Wirkung<lb/> nicht verfehlen. Man braucht nicht mit Plato der Ansicht zu sein, daß ein wahr¬<lb/> haft guter Staat von Philosophen geleitet werden müsse: man braucht darum<lb/> aber auch nicht die Männer der Geisteswelt in dem Maße von der Regierung<lb/> auszuschließen, wie das bei uns geschehen ist. In England haben große Denker<lb/> von Bacon und Hume an, sogar Dichter wie Baconsfield starken Einfluß auf die<lb/> Politik gehabt und noch ein Haldane, der ein Werk über Schopenhauer ge¬<lb/> schrieben, war nicht der schlechteste Minister. Bei uns genügt es, wenn ein<lb/> Bethmann Hollweg zwei Zitate aus Kant in seinen Reden anbringt, um als<lb/> „Philosoph" in politischen Mißkredit zu kommen. „Freie Bahn dem Tüchtigen!"<lb/> muß nicht allein im Sinn des äußeren „realen" Erfolges gedeutet werden; es<lb/> muß auch heißen, daß der Geist wieder mehr Einfluß gewinnen muß, auf die<lb/> Gestaltung der Dinge. Und wenn ein Erscheinen bedeutender Denker oder<lb/> Künstler in der weithin sichtbaren Vertretung unseres Volkes keinen anderen<lb/> Wert hätte, als das Bild von unserem Nationalcharakter im Ausland zu ver-<lb/> bessern, auch dann hätte es bereits seinen Wert in sich selbst.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland
besten Wurzeln unserer Kraft ihren Mutterboden haben? Es gehört zum Wesen
des einzelnen Deutschen wie des gesamten Volkes, daß es größere Widersprüche
in sich zu vereinen vermag als die meisten anderen Völker und ihre Individuen.
Es wird darum leichter mißkannt und einseitig beurteilt.
Wir haben bisher tatenlos diesem Mißverkennen zugesehen, wir haben ge¬
schwiegen, uns gewundert, vielleicht sogar gelacht. Ein Buch wie das vonFouillee
hat — soviel ich weiß — keine Widerlegung, nicht einmal ein Gegenstück in der
deutschen Wissenschaft gefunden. Das muß anders werden! Unsere Psychologie
muß heraus aus ihren Laboratorien, hinweg von ihren mühseligen Experimenten.
Das wahre Laboratorium der Psychologie ist die Geschichte! Hier ist experimentiert
worden in einem Umfang, wie es das bestausgestattete Univerfitätsinstitut nicht
entfernt vermag! Das herrlichste Material liegt ziemlich unbenutzt in unüberseh¬
barer Masse vor uns! Es wartet auf den Synthetiker, der es zu meistern wagt!
Aber freilich, rein theoretisch ist das Problem der rechten Kenntnis unseres
Nationalcharakters im Auslande — und auch im Inlands — kaum zu lösen. Es
muß in dieser Hinsicht von den repräsentativen Stellen des Staates mehr getan
werden, als bisher geschehen ist. Es ist kein Zweifel, daß der Staat — speziell
der preußische — zu wenig Ausdruck auch des geistigen Deutschland gewesen
ist. Nicht nur die Regierung, mindestens ebensosehr die Volksvertretungen haben
da vieles versäumt. Wir, die wir mitten im deutschen Geistesleben stehen, wissen,
daß Ministerreden über künstlerische und wissenschaftliche Dinge so wenig wie
Reichstagsdebattm über gleiche Themata rechte Spiegelungen jener Bestrebungen
sind, die im eigentlichen Volke an der Arbeit sind. Man hat uns allzuoft die
schönen Reden über Realpolitik vorgehalten: es wäre zeitgemäßer, die „Ideal-
Politik" zu vertreten, nicht im Sinne eines verstiegenen Jdeologentums, nein, im
Sinne des Ausdruckes der vielen geistigen Kräfte, die unter uns — wenn auch
oft nur im stillen — an der Arbeit sind. Vielleicht bringt die neue Vorlage
über die Zusammensetzung des Herrenhauses die Möglichkeit mit sich, auch Männer
der Kunst und der Wissenschaft mehr zur Geltung zu bringen in der Vertre¬
tung unseres Volkes. Das würde nach innen wie nach außen seine Wirkung
nicht verfehlen. Man braucht nicht mit Plato der Ansicht zu sein, daß ein wahr¬
haft guter Staat von Philosophen geleitet werden müsse: man braucht darum
aber auch nicht die Männer der Geisteswelt in dem Maße von der Regierung
auszuschließen, wie das bei uns geschehen ist. In England haben große Denker
von Bacon und Hume an, sogar Dichter wie Baconsfield starken Einfluß auf die
Politik gehabt und noch ein Haldane, der ein Werk über Schopenhauer ge¬
schrieben, war nicht der schlechteste Minister. Bei uns genügt es, wenn ein
Bethmann Hollweg zwei Zitate aus Kant in seinen Reden anbringt, um als
„Philosoph" in politischen Mißkredit zu kommen. „Freie Bahn dem Tüchtigen!"
muß nicht allein im Sinn des äußeren „realen" Erfolges gedeutet werden; es
muß auch heißen, daß der Geist wieder mehr Einfluß gewinnen muß, auf die
Gestaltung der Dinge. Und wenn ein Erscheinen bedeutender Denker oder
Künstler in der weithin sichtbaren Vertretung unseres Volkes keinen anderen
Wert hätte, als das Bild von unserem Nationalcharakter im Ausland zu ver-
bessern, auch dann hätte es bereits seinen Wert in sich selbst.
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