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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Lebensform

hervorgehen ließ und die "volonte Zenöraw" von der arithmetisch sum¬
mierten "voIont6 6s ton8" unterschied; deswegen wird er auch von Cochin
mitsamt Hobbes verworfen zugunsten des klaren Descartes, der mit der
Gewißheit des Ich vor allem auch seine Unabhängigkeit von jeder höheren
Kollektivgemeinschaft festgestellt habe.)

Bei Kjellön kennzeichnet der bloße Zusatz "als Lebensform" den Uni¬
versalisten. Und zwar wird es der Verfasser auf rein empirischem Wege.
Dabei offenbart sich ihm der Staat zunächst als Rechtssubjekt, als
Hüter der Rechtsordnung. Bald aber mischen sich soziale und wirtschaftliche
Züge in das Bild, schon hierdurch es abrundend, "materialisierend", konkreter
gestaltend. Doch so weit haben uns schon Gierke und Jellinek geführt. Kjellen
aber fragt, "ob nicht aus einer noch reicheren, volleren Vielheit eine wirkliche
Einheit entsprießen kann." Er ändert jetzt den Standpunkt des Beobachters.
Bisher sahen wir den Staat von innen, als isoliertes Objekt, gleichsam in
seinen häuslichen Beziehungen. Wie aber präsentiert er sich im Zusammenhang
des großen Weltgeschehens, im Schieben und Drängen des internationalen
Daseinskampfes? Da verändern sich plötzlich seine Züge. Das Rechtssubjekt
wird Machtsubjekt. Auch die Sprache redet gern von "Mächten". Die Elemente
aber, um die es sich handelt, sind nicht mehr "Verfassung", "Gesellschaft" oder
"Wirtschaft", sondern "Land" (Reich) und "Volk". Sehr fein erbringt KjeWn
an dieser Stelle den Nachweis, wie es sich bei dem zweiten, dem völkerrecht¬
lichen Staatsbegriff, um altes Gut der Rechtswissenschaft handelt, das diese
sich immer mehr von anderen Disziplinen, der Geographie und Geschichte hat
entreißen lassen und, wie in Wirklichkeit der Staat als Rechtssubjekt und der
Staat als Macht zwei Seiten ein und derselben Sache, nur unter verschiedener
Perspektive, darstellen. Nur so wird der Totaleindruck, das plastische Schauen
erreicht. Gerade nun der bisher von den Juristen so stiefmütterlich behandelten
"Naturseite" des Staates, unter welchem Namen Kjellön die Einzelgebiete der
"Geopolitik" und der "Demo- (Ethno-) Politik" zusammenfaßt, soll in seinem
Buche besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, während von der sogenannten
"Kulturseite" mehr eine gedrängte Übersicht ("Der Staat als Haushalt, Gesell¬
schaft und Regiment") geboten wird und eine besondere Behandlung vorbehalten
bleibt. Erst dann wäre eigentlich das Gesamtgemälde des Staates "als Lebens¬
form" vollendet.

Eine neue Welt umgibt uns: statt abstrakten Verfassungsrechtes der konkrete
Begriff des "Landes" (wem tritt nicht bei Nennung der Namen Deutschland
oder Frankreich sofort und zuerst das Kartenbild vor Augen!), statt komplizierter
wirtschaftlicher oder sozialer Erscheinungen das sinnlichem Denken ebenfalls so
zusagende Substrat des Volkes. Rankes "Große Mächte" tauchen auf, jene
"moralischen Energien" und übermenschlichen "Persönlichkeiten", wie seine
Meisterhand sie uns geschildert, und als "Nationen" erscheinen die Staaten im
Glänze gesteigertster Aktivität und Lebenskraft. In dieser Welt wird kollektivistisch"


Der Staat als Lebensform

hervorgehen ließ und die „volonte Zenöraw" von der arithmetisch sum¬
mierten „voIont6 6s ton8" unterschied; deswegen wird er auch von Cochin
mitsamt Hobbes verworfen zugunsten des klaren Descartes, der mit der
Gewißheit des Ich vor allem auch seine Unabhängigkeit von jeder höheren
Kollektivgemeinschaft festgestellt habe.)

Bei Kjellön kennzeichnet der bloße Zusatz „als Lebensform" den Uni¬
versalisten. Und zwar wird es der Verfasser auf rein empirischem Wege.
Dabei offenbart sich ihm der Staat zunächst als Rechtssubjekt, als
Hüter der Rechtsordnung. Bald aber mischen sich soziale und wirtschaftliche
Züge in das Bild, schon hierdurch es abrundend, „materialisierend", konkreter
gestaltend. Doch so weit haben uns schon Gierke und Jellinek geführt. Kjellen
aber fragt, „ob nicht aus einer noch reicheren, volleren Vielheit eine wirkliche
Einheit entsprießen kann." Er ändert jetzt den Standpunkt des Beobachters.
Bisher sahen wir den Staat von innen, als isoliertes Objekt, gleichsam in
seinen häuslichen Beziehungen. Wie aber präsentiert er sich im Zusammenhang
des großen Weltgeschehens, im Schieben und Drängen des internationalen
Daseinskampfes? Da verändern sich plötzlich seine Züge. Das Rechtssubjekt
wird Machtsubjekt. Auch die Sprache redet gern von „Mächten". Die Elemente
aber, um die es sich handelt, sind nicht mehr „Verfassung", „Gesellschaft" oder
„Wirtschaft", sondern „Land" (Reich) und „Volk". Sehr fein erbringt KjeWn
an dieser Stelle den Nachweis, wie es sich bei dem zweiten, dem völkerrecht¬
lichen Staatsbegriff, um altes Gut der Rechtswissenschaft handelt, das diese
sich immer mehr von anderen Disziplinen, der Geographie und Geschichte hat
entreißen lassen und, wie in Wirklichkeit der Staat als Rechtssubjekt und der
Staat als Macht zwei Seiten ein und derselben Sache, nur unter verschiedener
Perspektive, darstellen. Nur so wird der Totaleindruck, das plastische Schauen
erreicht. Gerade nun der bisher von den Juristen so stiefmütterlich behandelten
„Naturseite" des Staates, unter welchem Namen Kjellön die Einzelgebiete der
„Geopolitik" und der „Demo- (Ethno-) Politik" zusammenfaßt, soll in seinem
Buche besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, während von der sogenannten
„Kulturseite" mehr eine gedrängte Übersicht („Der Staat als Haushalt, Gesell¬
schaft und Regiment") geboten wird und eine besondere Behandlung vorbehalten
bleibt. Erst dann wäre eigentlich das Gesamtgemälde des Staates „als Lebens¬
form" vollendet.

Eine neue Welt umgibt uns: statt abstrakten Verfassungsrechtes der konkrete
Begriff des „Landes" (wem tritt nicht bei Nennung der Namen Deutschland
oder Frankreich sofort und zuerst das Kartenbild vor Augen!), statt komplizierter
wirtschaftlicher oder sozialer Erscheinungen das sinnlichem Denken ebenfalls so
zusagende Substrat des Volkes. Rankes „Große Mächte" tauchen auf, jene
„moralischen Energien" und übermenschlichen „Persönlichkeiten", wie seine
Meisterhand sie uns geschildert, und als „Nationen" erscheinen die Staaten im
Glänze gesteigertster Aktivität und Lebenskraft. In dieser Welt wird kollektivistisch«


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[0264] Der Staat als Lebensform hervorgehen ließ und die „volonte Zenöraw" von der arithmetisch sum¬ mierten „voIont6 6s ton8" unterschied; deswegen wird er auch von Cochin mitsamt Hobbes verworfen zugunsten des klaren Descartes, der mit der Gewißheit des Ich vor allem auch seine Unabhängigkeit von jeder höheren Kollektivgemeinschaft festgestellt habe.) Bei Kjellön kennzeichnet der bloße Zusatz „als Lebensform" den Uni¬ versalisten. Und zwar wird es der Verfasser auf rein empirischem Wege. Dabei offenbart sich ihm der Staat zunächst als Rechtssubjekt, als Hüter der Rechtsordnung. Bald aber mischen sich soziale und wirtschaftliche Züge in das Bild, schon hierdurch es abrundend, „materialisierend", konkreter gestaltend. Doch so weit haben uns schon Gierke und Jellinek geführt. Kjellen aber fragt, „ob nicht aus einer noch reicheren, volleren Vielheit eine wirkliche Einheit entsprießen kann." Er ändert jetzt den Standpunkt des Beobachters. Bisher sahen wir den Staat von innen, als isoliertes Objekt, gleichsam in seinen häuslichen Beziehungen. Wie aber präsentiert er sich im Zusammenhang des großen Weltgeschehens, im Schieben und Drängen des internationalen Daseinskampfes? Da verändern sich plötzlich seine Züge. Das Rechtssubjekt wird Machtsubjekt. Auch die Sprache redet gern von „Mächten". Die Elemente aber, um die es sich handelt, sind nicht mehr „Verfassung", „Gesellschaft" oder „Wirtschaft", sondern „Land" (Reich) und „Volk". Sehr fein erbringt KjeWn an dieser Stelle den Nachweis, wie es sich bei dem zweiten, dem völkerrecht¬ lichen Staatsbegriff, um altes Gut der Rechtswissenschaft handelt, das diese sich immer mehr von anderen Disziplinen, der Geographie und Geschichte hat entreißen lassen und, wie in Wirklichkeit der Staat als Rechtssubjekt und der Staat als Macht zwei Seiten ein und derselben Sache, nur unter verschiedener Perspektive, darstellen. Nur so wird der Totaleindruck, das plastische Schauen erreicht. Gerade nun der bisher von den Juristen so stiefmütterlich behandelten „Naturseite" des Staates, unter welchem Namen Kjellön die Einzelgebiete der „Geopolitik" und der „Demo- (Ethno-) Politik" zusammenfaßt, soll in seinem Buche besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, während von der sogenannten „Kulturseite" mehr eine gedrängte Übersicht („Der Staat als Haushalt, Gesell¬ schaft und Regiment") geboten wird und eine besondere Behandlung vorbehalten bleibt. Erst dann wäre eigentlich das Gesamtgemälde des Staates „als Lebens¬ form" vollendet. Eine neue Welt umgibt uns: statt abstrakten Verfassungsrechtes der konkrete Begriff des „Landes" (wem tritt nicht bei Nennung der Namen Deutschland oder Frankreich sofort und zuerst das Kartenbild vor Augen!), statt komplizierter wirtschaftlicher oder sozialer Erscheinungen das sinnlichem Denken ebenfalls so zusagende Substrat des Volkes. Rankes „Große Mächte" tauchen auf, jene „moralischen Energien" und übermenschlichen „Persönlichkeiten", wie seine Meisterhand sie uns geschildert, und als „Nationen" erscheinen die Staaten im Glänze gesteigertster Aktivität und Lebenskraft. In dieser Welt wird kollektivistisch«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/264>, abgerufen am 26.06.2024.