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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Jungelsaß und die neudeutsche Rnltur

epigonenhafte Sinnenkultur aus, in der bürgerliche Sättigung ihr Genüge fand.
So fiel die politische Entfernung in eine entscheidende Epoche, die hüben wie
drüben auch in kultureller Hinsicht die Wege auseinanderführte. Das Ergebnis
war eine seelische Entfremdung der beiderseitigen gebildeten Oberschichten, die
tatsächlich viel größer war, als die unbestreitbare Gemeinschaftlichkeit des völ¬
kischen Typus, einer jahrtausendelangen Geschichte und in weitem Umfang
immer noch der Sprache annehmen ließ.

Diese in früherem Zusammenhang breiter auseinandergelegten Voraus¬
setzungen müssen uns immer gegenwärtig sein, wenn wir das Verhältnis zwischen
den einheimischen Elsässern und Lothringern und zwischen den altdeutschen Ein¬
wanderern und dem Reich überhaupt in bessere Bahnen leiten wollen. Denn
auf diesen Grundlagen fußt das elsässtsche Kulturproblem. Versäumte historische
Gemeinschaftserlebnifse lassen sich nicht nachholen. Wir selbst haben heute zum
Idealismus unserer klassischen Epoche ein viel zu epigonenhaftes Verhältnis,
um ihn nachträglich Eisässern und Lothringern zu vermitteln. In diesem Sinne
sind gutgesinnte, aber dünne und späte Versuche, wie die des Elsäfsers Friedrich
Lienhard, dem Land den Weg nach Weimar zu weisen, im Kern verfehlt und
von vornherein zum Mißlingen verurteilt. Mit diesem abgeblaßten Idealismus,
der auch im Reiche die Primaner und einige Stifte im Lande begeistert, aber
keineswegs dem vorwärtsschreitenden Leben das Rückgrat gibt, dürfen wir
gerade dem skeptisch-rationalen Elsässer nicht kommen. Das eigentliche Problem
ist. den Elsässer und Lothringer durch Hinzuziehung zu positiver Mitarbeit an
der deutschen Kultur zu interessieren und ihn so auf demselben Weg dem
Deutschtum wieder völlig zuzuführen, auf dem er vor knapp hundert Jahren
dem Deutschtum entfremdet worden ist. Noch weiter tragen die Analogien:
wie es damals ein aufkommender Stand war, mit dem die Franzosen das
Elsaß gewannen, so kommen wir auch heute nicht darum herum, den Komo
moon8 zielbewußt zum Vorspann der deutschen Sache zu machen. Nicht auf
den absterbenden Ästen darf sich der deutsche Adler niederlassen. Aus dem
aufstrebenden elsässischen Volke wächst der Zukunft ein kräftiges deutsches
Geschlecht entgegen.

Ein Wort entschiedenster Anerkennung gebührt in diesem Zusammenhang
der Sozialdemokratie des bisherigen Reichslandes. Sie. die Partei der Inter¬
nationale, hat im Lande in der Tat fast die rationalste, d. h. die entschiedenste
Reichspolitik getrieben. Eine konservative Partei gab es nicht. Der stark
demokratische Liberalismus war innerlich so schwach, daß er sich -- um Wähler
buhlend -- aufs äußerste partikularistisch gebärden mußte, nur um notdürftig
existieren zu kommend Das Zentrum sonderte sich im Reichstag als elsässtsches
Zentrum ab und war im Lande weit entfernt, überall entschlossene deutsche
Kulturpolitit zu treiben. Zeitweise verband es sich eng mit dem berüchtigten
französischen Nationalismus. Einzig die Sozialdemokratie kannte keine Rhein¬
grenze und betonte so die allgemein deutsche Solidarität so stark oder so schwach,


Jungelsaß und die neudeutsche Rnltur

epigonenhafte Sinnenkultur aus, in der bürgerliche Sättigung ihr Genüge fand.
So fiel die politische Entfernung in eine entscheidende Epoche, die hüben wie
drüben auch in kultureller Hinsicht die Wege auseinanderführte. Das Ergebnis
war eine seelische Entfremdung der beiderseitigen gebildeten Oberschichten, die
tatsächlich viel größer war, als die unbestreitbare Gemeinschaftlichkeit des völ¬
kischen Typus, einer jahrtausendelangen Geschichte und in weitem Umfang
immer noch der Sprache annehmen ließ.

Diese in früherem Zusammenhang breiter auseinandergelegten Voraus¬
setzungen müssen uns immer gegenwärtig sein, wenn wir das Verhältnis zwischen
den einheimischen Elsässern und Lothringern und zwischen den altdeutschen Ein¬
wanderern und dem Reich überhaupt in bessere Bahnen leiten wollen. Denn
auf diesen Grundlagen fußt das elsässtsche Kulturproblem. Versäumte historische
Gemeinschaftserlebnifse lassen sich nicht nachholen. Wir selbst haben heute zum
Idealismus unserer klassischen Epoche ein viel zu epigonenhaftes Verhältnis,
um ihn nachträglich Eisässern und Lothringern zu vermitteln. In diesem Sinne
sind gutgesinnte, aber dünne und späte Versuche, wie die des Elsäfsers Friedrich
Lienhard, dem Land den Weg nach Weimar zu weisen, im Kern verfehlt und
von vornherein zum Mißlingen verurteilt. Mit diesem abgeblaßten Idealismus,
der auch im Reiche die Primaner und einige Stifte im Lande begeistert, aber
keineswegs dem vorwärtsschreitenden Leben das Rückgrat gibt, dürfen wir
gerade dem skeptisch-rationalen Elsässer nicht kommen. Das eigentliche Problem
ist. den Elsässer und Lothringer durch Hinzuziehung zu positiver Mitarbeit an
der deutschen Kultur zu interessieren und ihn so auf demselben Weg dem
Deutschtum wieder völlig zuzuführen, auf dem er vor knapp hundert Jahren
dem Deutschtum entfremdet worden ist. Noch weiter tragen die Analogien:
wie es damals ein aufkommender Stand war, mit dem die Franzosen das
Elsaß gewannen, so kommen wir auch heute nicht darum herum, den Komo
moon8 zielbewußt zum Vorspann der deutschen Sache zu machen. Nicht auf
den absterbenden Ästen darf sich der deutsche Adler niederlassen. Aus dem
aufstrebenden elsässischen Volke wächst der Zukunft ein kräftiges deutsches
Geschlecht entgegen.

Ein Wort entschiedenster Anerkennung gebührt in diesem Zusammenhang
der Sozialdemokratie des bisherigen Reichslandes. Sie. die Partei der Inter¬
nationale, hat im Lande in der Tat fast die rationalste, d. h. die entschiedenste
Reichspolitik getrieben. Eine konservative Partei gab es nicht. Der stark
demokratische Liberalismus war innerlich so schwach, daß er sich — um Wähler
buhlend — aufs äußerste partikularistisch gebärden mußte, nur um notdürftig
existieren zu kommend Das Zentrum sonderte sich im Reichstag als elsässtsches
Zentrum ab und war im Lande weit entfernt, überall entschlossene deutsche
Kulturpolitit zu treiben. Zeitweise verband es sich eng mit dem berüchtigten
französischen Nationalismus. Einzig die Sozialdemokratie kannte keine Rhein¬
grenze und betonte so die allgemein deutsche Solidarität so stark oder so schwach,


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[0103] Jungelsaß und die neudeutsche Rnltur epigonenhafte Sinnenkultur aus, in der bürgerliche Sättigung ihr Genüge fand. So fiel die politische Entfernung in eine entscheidende Epoche, die hüben wie drüben auch in kultureller Hinsicht die Wege auseinanderführte. Das Ergebnis war eine seelische Entfremdung der beiderseitigen gebildeten Oberschichten, die tatsächlich viel größer war, als die unbestreitbare Gemeinschaftlichkeit des völ¬ kischen Typus, einer jahrtausendelangen Geschichte und in weitem Umfang immer noch der Sprache annehmen ließ. Diese in früherem Zusammenhang breiter auseinandergelegten Voraus¬ setzungen müssen uns immer gegenwärtig sein, wenn wir das Verhältnis zwischen den einheimischen Elsässern und Lothringern und zwischen den altdeutschen Ein¬ wanderern und dem Reich überhaupt in bessere Bahnen leiten wollen. Denn auf diesen Grundlagen fußt das elsässtsche Kulturproblem. Versäumte historische Gemeinschaftserlebnifse lassen sich nicht nachholen. Wir selbst haben heute zum Idealismus unserer klassischen Epoche ein viel zu epigonenhaftes Verhältnis, um ihn nachträglich Eisässern und Lothringern zu vermitteln. In diesem Sinne sind gutgesinnte, aber dünne und späte Versuche, wie die des Elsäfsers Friedrich Lienhard, dem Land den Weg nach Weimar zu weisen, im Kern verfehlt und von vornherein zum Mißlingen verurteilt. Mit diesem abgeblaßten Idealismus, der auch im Reiche die Primaner und einige Stifte im Lande begeistert, aber keineswegs dem vorwärtsschreitenden Leben das Rückgrat gibt, dürfen wir gerade dem skeptisch-rationalen Elsässer nicht kommen. Das eigentliche Problem ist. den Elsässer und Lothringer durch Hinzuziehung zu positiver Mitarbeit an der deutschen Kultur zu interessieren und ihn so auf demselben Weg dem Deutschtum wieder völlig zuzuführen, auf dem er vor knapp hundert Jahren dem Deutschtum entfremdet worden ist. Noch weiter tragen die Analogien: wie es damals ein aufkommender Stand war, mit dem die Franzosen das Elsaß gewannen, so kommen wir auch heute nicht darum herum, den Komo moon8 zielbewußt zum Vorspann der deutschen Sache zu machen. Nicht auf den absterbenden Ästen darf sich der deutsche Adler niederlassen. Aus dem aufstrebenden elsässischen Volke wächst der Zukunft ein kräftiges deutsches Geschlecht entgegen. Ein Wort entschiedenster Anerkennung gebührt in diesem Zusammenhang der Sozialdemokratie des bisherigen Reichslandes. Sie. die Partei der Inter¬ nationale, hat im Lande in der Tat fast die rationalste, d. h. die entschiedenste Reichspolitik getrieben. Eine konservative Partei gab es nicht. Der stark demokratische Liberalismus war innerlich so schwach, daß er sich — um Wähler buhlend — aufs äußerste partikularistisch gebärden mußte, nur um notdürftig existieren zu kommend Das Zentrum sonderte sich im Reichstag als elsässtsches Zentrum ab und war im Lande weit entfernt, überall entschlossene deutsche Kulturpolitit zu treiben. Zeitweise verband es sich eng mit dem berüchtigten französischen Nationalismus. Einzig die Sozialdemokratie kannte keine Rhein¬ grenze und betonte so die allgemein deutsche Solidarität so stark oder so schwach,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/103>, abgerufen am 06.10.2024.