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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Rei-hslande

Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung. Rechtsprechung untergeordnet ist. eines
Teiles seiner Zuständigkeiten zugunsten des Ganzen sich entäußert hat. Aber
wenn einem Gebiete alle Eigengewalt fehlt, es ganz unter dem Willen einer
höheren Macht steht und nur das Maß freier Bewegung hat, das ihm der
Machthaber nach seinem Ermessen beläßt, ist es nicht mehr ein "Staat".

Elsaß-Lothringen war unselbständiger Teil des französischen Staates, mit
der Einverleibung in das Reich ist es dessen Teil, aber nicht selbständig
geworden.

In der Folge der organisierenden Reichsgesetze für Elsaß-Lothringen zeigt
sich wohl wachsende Annäherung an die Rechtslage, wie ein eigenes Staats-
wesen sie hat. aber es ist doch die volle Abhängigkeit von der Reichsgewalt
geblieben, nie, auch in der Verfassung von 1911 nicht, zugunsten einer Eigen¬
berechtigung des Landes aufgegeben worden. Alle Rechte, die dem Reichs¬
lande zuteil geworden sind, können ihm jederzeit durch Neichsgesetz wieder ent¬
zogen werden. Wie könnte es einen Staat geben, über dem fortgesetzt das
Damoklesschwert der Vernichtung schwebte durch einen Akt der Gesetzgebung,
durch ein Gesetz der Herrschermacht, die ihm unter dem Vorbehalte freien
Widerrufs Rechte gewährt hat? Für ein Territorium, das staatsfrei war und
sich zum Staate zu organisieren strebt, mag es schwer sein, nach inneren
Gründen die Entwicklungsstufe genau zu bestimmen, auf der dieses Ziel erreicht,
das neue Staatswesen vorhanden ist. Aber ein staatsunterworfenes Gebiet,
dem widerruflich autonomische Berechtigungen zuteil werden, erwächst auf diesem
Wege nimmermehr selbst zum Staate.

Elsaß-Lothringen hat keine Gebietshoheit, muß eine Veränderung seiner
Grenzen durch das Reich sich gefallen lassen. Es entbehrt der Militärhoheit.
Es ist nicht völkerrechtliche Persönlichkeit, kann nicht diplomatische Vertreter
entsenden, empfangen, nicht Verträge schließen mit ausländischen oder deutschen
Staaten, es müßte denn das Reich (ausdrücklich oder stillschweigend) die Auto-
risation dazu geben, wodurch der Vertrag die Bedeutung eines vom Reiche
geschlossenen erhielte.

Eine elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit existiert nicht. Nur eine
Landesangehörigkeit, ähnlich der Staatsangehörigkeit, ist bei Einführung der
Gesetze über Reichs- und Staatsangehörigkeit im Reichslande angenommen
worden*). "Elsaß-Lothringen gilt im Sinne dieses Gesetzes als Bundesstaat".
2 Reichsgesetz vom 22. Juli 1913. Damit ist klar verneint, daß Elsaß-
Lothringen ein Bundesstaat wirklich sei.



*) Doch knüpfen die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit nach dem elsaß-lothringischen
Wahlgesetz vom 31. Mai 1911 (dazu Verf.-Gesetz Art. II ß ö unter II und III) an Reichs¬
angehörigkeit, nicht an Landesangehörigkeit an. Die Begründung des Berfassungsentwurfs
weist auf die zahlreichen im Reichslande ansässigen Angehörigen der deutschen Bundesstaaten
hin: ganz überwiegend reichstreue Elemente, auf deren Beteiligung bei den Wahlen man
begreiflicherweise nicht verzichten wollte.
Reichsgewalt und Landesverfassung im Rei-hslande

Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung. Rechtsprechung untergeordnet ist. eines
Teiles seiner Zuständigkeiten zugunsten des Ganzen sich entäußert hat. Aber
wenn einem Gebiete alle Eigengewalt fehlt, es ganz unter dem Willen einer
höheren Macht steht und nur das Maß freier Bewegung hat, das ihm der
Machthaber nach seinem Ermessen beläßt, ist es nicht mehr ein „Staat".

Elsaß-Lothringen war unselbständiger Teil des französischen Staates, mit
der Einverleibung in das Reich ist es dessen Teil, aber nicht selbständig
geworden.

In der Folge der organisierenden Reichsgesetze für Elsaß-Lothringen zeigt
sich wohl wachsende Annäherung an die Rechtslage, wie ein eigenes Staats-
wesen sie hat. aber es ist doch die volle Abhängigkeit von der Reichsgewalt
geblieben, nie, auch in der Verfassung von 1911 nicht, zugunsten einer Eigen¬
berechtigung des Landes aufgegeben worden. Alle Rechte, die dem Reichs¬
lande zuteil geworden sind, können ihm jederzeit durch Neichsgesetz wieder ent¬
zogen werden. Wie könnte es einen Staat geben, über dem fortgesetzt das
Damoklesschwert der Vernichtung schwebte durch einen Akt der Gesetzgebung,
durch ein Gesetz der Herrschermacht, die ihm unter dem Vorbehalte freien
Widerrufs Rechte gewährt hat? Für ein Territorium, das staatsfrei war und
sich zum Staate zu organisieren strebt, mag es schwer sein, nach inneren
Gründen die Entwicklungsstufe genau zu bestimmen, auf der dieses Ziel erreicht,
das neue Staatswesen vorhanden ist. Aber ein staatsunterworfenes Gebiet,
dem widerruflich autonomische Berechtigungen zuteil werden, erwächst auf diesem
Wege nimmermehr selbst zum Staate.

Elsaß-Lothringen hat keine Gebietshoheit, muß eine Veränderung seiner
Grenzen durch das Reich sich gefallen lassen. Es entbehrt der Militärhoheit.
Es ist nicht völkerrechtliche Persönlichkeit, kann nicht diplomatische Vertreter
entsenden, empfangen, nicht Verträge schließen mit ausländischen oder deutschen
Staaten, es müßte denn das Reich (ausdrücklich oder stillschweigend) die Auto-
risation dazu geben, wodurch der Vertrag die Bedeutung eines vom Reiche
geschlossenen erhielte.

Eine elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit existiert nicht. Nur eine
Landesangehörigkeit, ähnlich der Staatsangehörigkeit, ist bei Einführung der
Gesetze über Reichs- und Staatsangehörigkeit im Reichslande angenommen
worden*). „Elsaß-Lothringen gilt im Sinne dieses Gesetzes als Bundesstaat".
2 Reichsgesetz vom 22. Juli 1913. Damit ist klar verneint, daß Elsaß-
Lothringen ein Bundesstaat wirklich sei.



*) Doch knüpfen die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit nach dem elsaß-lothringischen
Wahlgesetz vom 31. Mai 1911 (dazu Verf.-Gesetz Art. II ß ö unter II und III) an Reichs¬
angehörigkeit, nicht an Landesangehörigkeit an. Die Begründung des Berfassungsentwurfs
weist auf die zahlreichen im Reichslande ansässigen Angehörigen der deutschen Bundesstaaten
hin: ganz überwiegend reichstreue Elemente, auf deren Beteiligung bei den Wahlen man
begreiflicherweise nicht verzichten wollte.
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[0410] Reichsgewalt und Landesverfassung im Rei-hslande Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung. Rechtsprechung untergeordnet ist. eines Teiles seiner Zuständigkeiten zugunsten des Ganzen sich entäußert hat. Aber wenn einem Gebiete alle Eigengewalt fehlt, es ganz unter dem Willen einer höheren Macht steht und nur das Maß freier Bewegung hat, das ihm der Machthaber nach seinem Ermessen beläßt, ist es nicht mehr ein „Staat". Elsaß-Lothringen war unselbständiger Teil des französischen Staates, mit der Einverleibung in das Reich ist es dessen Teil, aber nicht selbständig geworden. In der Folge der organisierenden Reichsgesetze für Elsaß-Lothringen zeigt sich wohl wachsende Annäherung an die Rechtslage, wie ein eigenes Staats- wesen sie hat. aber es ist doch die volle Abhängigkeit von der Reichsgewalt geblieben, nie, auch in der Verfassung von 1911 nicht, zugunsten einer Eigen¬ berechtigung des Landes aufgegeben worden. Alle Rechte, die dem Reichs¬ lande zuteil geworden sind, können ihm jederzeit durch Neichsgesetz wieder ent¬ zogen werden. Wie könnte es einen Staat geben, über dem fortgesetzt das Damoklesschwert der Vernichtung schwebte durch einen Akt der Gesetzgebung, durch ein Gesetz der Herrschermacht, die ihm unter dem Vorbehalte freien Widerrufs Rechte gewährt hat? Für ein Territorium, das staatsfrei war und sich zum Staate zu organisieren strebt, mag es schwer sein, nach inneren Gründen die Entwicklungsstufe genau zu bestimmen, auf der dieses Ziel erreicht, das neue Staatswesen vorhanden ist. Aber ein staatsunterworfenes Gebiet, dem widerruflich autonomische Berechtigungen zuteil werden, erwächst auf diesem Wege nimmermehr selbst zum Staate. Elsaß-Lothringen hat keine Gebietshoheit, muß eine Veränderung seiner Grenzen durch das Reich sich gefallen lassen. Es entbehrt der Militärhoheit. Es ist nicht völkerrechtliche Persönlichkeit, kann nicht diplomatische Vertreter entsenden, empfangen, nicht Verträge schließen mit ausländischen oder deutschen Staaten, es müßte denn das Reich (ausdrücklich oder stillschweigend) die Auto- risation dazu geben, wodurch der Vertrag die Bedeutung eines vom Reiche geschlossenen erhielte. Eine elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit existiert nicht. Nur eine Landesangehörigkeit, ähnlich der Staatsangehörigkeit, ist bei Einführung der Gesetze über Reichs- und Staatsangehörigkeit im Reichslande angenommen worden*). „Elsaß-Lothringen gilt im Sinne dieses Gesetzes als Bundesstaat". 2 Reichsgesetz vom 22. Juli 1913. Damit ist klar verneint, daß Elsaß- Lothringen ein Bundesstaat wirklich sei. *) Doch knüpfen die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit nach dem elsaß-lothringischen Wahlgesetz vom 31. Mai 1911 (dazu Verf.-Gesetz Art. II ß ö unter II und III) an Reichs¬ angehörigkeit, nicht an Landesangehörigkeit an. Die Begründung des Berfassungsentwurfs weist auf die zahlreichen im Reichslande ansässigen Angehörigen der deutschen Bundesstaaten hin: ganz überwiegend reichstreue Elemente, auf deren Beteiligung bei den Wahlen man begreiflicherweise nicht verzichten wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/410>, abgerufen am 04.07.2024.