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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der mitteleuropäische Gedanke

Autarkie der europäischen Nationen und Nationalstaaten vorüber ist, daß die
Böller sich zu großen wirtschaftlichen Gruppen ordnen, denen ein wohlver¬
standener Nationalismus sich anpassen muß. Auch wir Deutschen haben unsere
"kleindeutsche" Zeit erlebt, wo wir nichts als Nation für uns sein wollten.
Aber unsere Weltpoliti! hat uns bald begreiflich gemacht, daß auch die
Nationen füreinander da sind. Nur der Tod gibt ein Recht, dauernd allein
zu bleiben, die Lebendigen müssen Gemeinschaften bilden, gerade um zu leben.
Der deutsche Gedanke müßte verkümmern, wenn er nicht in die Welt hinaus¬
treten und auch mit anderen Nationalideen zusammenarbeiten wollte. Auch
bei uns gibt es Patrioten, die gerade aus den Erfahrungen des Krieges ein¬
seitigen nationalen Egoismus lernen zu müssen glauben. Die fruchtbaren
Träger des deutschen Nationalismus wissen aber bereits, daß dies ein ver¬
hängnisvoller Irrtum ist, daß wohlverstandene deutsche Interessenpolitik auch
das Interesse anderer verbündeter Völker zu dem ihren machen und ihm zu
Zugeständnissen bereit sein muß.

Man hat von unseren ungarischen Bundesgenossen noch nicht den Eindruck,
als ob ihr Nationalismus schon den Grad des Verständnisses für übernationale
Notwendigkeiten erreicht hätte, den unser deutscher zu zeigen beginnt. Die
Magyaren sind ein sehr rationalistisch gesinntes Volk, sie zeigen gern ihre rot¬
weiß-grüne Flagge und benehmen sich in dem frischen Selbstbewußtsein einer
jugendlichen Nation, als brauchten sie nach niemand anders zu fragen. In
dieser Lage sind sie aber denn doch nicht. Eine ungarische Politik, die heute
nichts nach den Interessen des Deutschtums fragen wollte, wäre vielleicht noch
kurzsichtiger, wie eine deutsche, die keine Rücksicht auf Ungarn nähme. Es soll
nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, bestimmte Zugeständnisse Ungarns an den
mitteleuropäischen Gedanken oder gar schon bestimmte Formen deutsch-öster-
reichisch-ungarischer Gemeinschaft zu verlangen, sondern ich möchte heute nur
einmal die Tatsache aussprechen, daß man als Deutscher, der sich bemüht, die
politischen Aussichten der mitteleuropäischen Idee ohne Illusionen zu betrachten,
öfters finden kann, daß der ungarische Nationalismus noch eine kleine innere
Wandlung durchmachen muß, ehe er ihr so entsprechen kann, wie heute schon
der deutsche. Ich glaube daher auch nicht, daß bestimmte Formen der mittel¬
europäischen Gemeinschaft besonders schnell kommen werden. Wahrscheinlich
wird man es erst auf die Probe ankommen lassen, ob auch wirklich der Wirt'
schaftskrieg der Ententestaaten gegen uns einsetzt. Man wird erst darauf warten,
ob Deutschland, Österreich und Ungarn nach Friedensschluß wirklich noch genau
so eng zusammenhalten müssen wie jetzt. Solange die Völker die Zuchtrute
des Schicksals nicht spüren, glauben sie noch nicht recht an sie, auch wenn sie
mit dem Munde immer schon eifrig davon reden. Wir werden es ja erleben,
wie unsere wirtschaftliche Lage nach Friedensschluß sein wird, und je nach den
vorliegenden Notwendigkeiten wird sich auch das entsprechende Maß von gutem
Willen einstellen. Heute kann man nur finden, daß das deutsche politische


Der mitteleuropäische Gedanke

Autarkie der europäischen Nationen und Nationalstaaten vorüber ist, daß die
Böller sich zu großen wirtschaftlichen Gruppen ordnen, denen ein wohlver¬
standener Nationalismus sich anpassen muß. Auch wir Deutschen haben unsere
„kleindeutsche" Zeit erlebt, wo wir nichts als Nation für uns sein wollten.
Aber unsere Weltpoliti! hat uns bald begreiflich gemacht, daß auch die
Nationen füreinander da sind. Nur der Tod gibt ein Recht, dauernd allein
zu bleiben, die Lebendigen müssen Gemeinschaften bilden, gerade um zu leben.
Der deutsche Gedanke müßte verkümmern, wenn er nicht in die Welt hinaus¬
treten und auch mit anderen Nationalideen zusammenarbeiten wollte. Auch
bei uns gibt es Patrioten, die gerade aus den Erfahrungen des Krieges ein¬
seitigen nationalen Egoismus lernen zu müssen glauben. Die fruchtbaren
Träger des deutschen Nationalismus wissen aber bereits, daß dies ein ver¬
hängnisvoller Irrtum ist, daß wohlverstandene deutsche Interessenpolitik auch
das Interesse anderer verbündeter Völker zu dem ihren machen und ihm zu
Zugeständnissen bereit sein muß.

Man hat von unseren ungarischen Bundesgenossen noch nicht den Eindruck,
als ob ihr Nationalismus schon den Grad des Verständnisses für übernationale
Notwendigkeiten erreicht hätte, den unser deutscher zu zeigen beginnt. Die
Magyaren sind ein sehr rationalistisch gesinntes Volk, sie zeigen gern ihre rot¬
weiß-grüne Flagge und benehmen sich in dem frischen Selbstbewußtsein einer
jugendlichen Nation, als brauchten sie nach niemand anders zu fragen. In
dieser Lage sind sie aber denn doch nicht. Eine ungarische Politik, die heute
nichts nach den Interessen des Deutschtums fragen wollte, wäre vielleicht noch
kurzsichtiger, wie eine deutsche, die keine Rücksicht auf Ungarn nähme. Es soll
nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, bestimmte Zugeständnisse Ungarns an den
mitteleuropäischen Gedanken oder gar schon bestimmte Formen deutsch-öster-
reichisch-ungarischer Gemeinschaft zu verlangen, sondern ich möchte heute nur
einmal die Tatsache aussprechen, daß man als Deutscher, der sich bemüht, die
politischen Aussichten der mitteleuropäischen Idee ohne Illusionen zu betrachten,
öfters finden kann, daß der ungarische Nationalismus noch eine kleine innere
Wandlung durchmachen muß, ehe er ihr so entsprechen kann, wie heute schon
der deutsche. Ich glaube daher auch nicht, daß bestimmte Formen der mittel¬
europäischen Gemeinschaft besonders schnell kommen werden. Wahrscheinlich
wird man es erst auf die Probe ankommen lassen, ob auch wirklich der Wirt'
schaftskrieg der Ententestaaten gegen uns einsetzt. Man wird erst darauf warten,
ob Deutschland, Österreich und Ungarn nach Friedensschluß wirklich noch genau
so eng zusammenhalten müssen wie jetzt. Solange die Völker die Zuchtrute
des Schicksals nicht spüren, glauben sie noch nicht recht an sie, auch wenn sie
mit dem Munde immer schon eifrig davon reden. Wir werden es ja erleben,
wie unsere wirtschaftliche Lage nach Friedensschluß sein wird, und je nach den
vorliegenden Notwendigkeiten wird sich auch das entsprechende Maß von gutem
Willen einstellen. Heute kann man nur finden, daß das deutsche politische


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[0386] Der mitteleuropäische Gedanke Autarkie der europäischen Nationen und Nationalstaaten vorüber ist, daß die Böller sich zu großen wirtschaftlichen Gruppen ordnen, denen ein wohlver¬ standener Nationalismus sich anpassen muß. Auch wir Deutschen haben unsere „kleindeutsche" Zeit erlebt, wo wir nichts als Nation für uns sein wollten. Aber unsere Weltpoliti! hat uns bald begreiflich gemacht, daß auch die Nationen füreinander da sind. Nur der Tod gibt ein Recht, dauernd allein zu bleiben, die Lebendigen müssen Gemeinschaften bilden, gerade um zu leben. Der deutsche Gedanke müßte verkümmern, wenn er nicht in die Welt hinaus¬ treten und auch mit anderen Nationalideen zusammenarbeiten wollte. Auch bei uns gibt es Patrioten, die gerade aus den Erfahrungen des Krieges ein¬ seitigen nationalen Egoismus lernen zu müssen glauben. Die fruchtbaren Träger des deutschen Nationalismus wissen aber bereits, daß dies ein ver¬ hängnisvoller Irrtum ist, daß wohlverstandene deutsche Interessenpolitik auch das Interesse anderer verbündeter Völker zu dem ihren machen und ihm zu Zugeständnissen bereit sein muß. Man hat von unseren ungarischen Bundesgenossen noch nicht den Eindruck, als ob ihr Nationalismus schon den Grad des Verständnisses für übernationale Notwendigkeiten erreicht hätte, den unser deutscher zu zeigen beginnt. Die Magyaren sind ein sehr rationalistisch gesinntes Volk, sie zeigen gern ihre rot¬ weiß-grüne Flagge und benehmen sich in dem frischen Selbstbewußtsein einer jugendlichen Nation, als brauchten sie nach niemand anders zu fragen. In dieser Lage sind sie aber denn doch nicht. Eine ungarische Politik, die heute nichts nach den Interessen des Deutschtums fragen wollte, wäre vielleicht noch kurzsichtiger, wie eine deutsche, die keine Rücksicht auf Ungarn nähme. Es soll nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, bestimmte Zugeständnisse Ungarns an den mitteleuropäischen Gedanken oder gar schon bestimmte Formen deutsch-öster- reichisch-ungarischer Gemeinschaft zu verlangen, sondern ich möchte heute nur einmal die Tatsache aussprechen, daß man als Deutscher, der sich bemüht, die politischen Aussichten der mitteleuropäischen Idee ohne Illusionen zu betrachten, öfters finden kann, daß der ungarische Nationalismus noch eine kleine innere Wandlung durchmachen muß, ehe er ihr so entsprechen kann, wie heute schon der deutsche. Ich glaube daher auch nicht, daß bestimmte Formen der mittel¬ europäischen Gemeinschaft besonders schnell kommen werden. Wahrscheinlich wird man es erst auf die Probe ankommen lassen, ob auch wirklich der Wirt' schaftskrieg der Ententestaaten gegen uns einsetzt. Man wird erst darauf warten, ob Deutschland, Österreich und Ungarn nach Friedensschluß wirklich noch genau so eng zusammenhalten müssen wie jetzt. Solange die Völker die Zuchtrute des Schicksals nicht spüren, glauben sie noch nicht recht an sie, auch wenn sie mit dem Munde immer schon eifrig davon reden. Wir werden es ja erleben, wie unsere wirtschaftliche Lage nach Friedensschluß sein wird, und je nach den vorliegenden Notwendigkeiten wird sich auch das entsprechende Maß von gutem Willen einstellen. Heute kann man nur finden, daß das deutsche politische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/386>, abgerufen am 04.07.2024.