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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

reichische staatsrechtliche Literatur dem Wesen dieser "Landesgesetze" nicht voll
gerecht geworden.

Auf Verkennung des eigenartigen staatsrechtlichen Verhältnisses beruht es,
wenn man neuerdings die elsaß-lothringischen Kammern -- nach der Verfassung
von 1911 an Stelle des Landesausschusses die Träger der Autonomie --als
Reichsorgane bezeichnet hat.

Der Vergleich mit Österreich ergibt den bedeutsamen Unterschied, daß dort
die Autonomie der Länder verfassungsmäßig sichergestellt ist, für Elsaß-Loth¬
ringen aber auf bloßer, jederzeit widerruflicher Gewährung der Reichsgewalt
beruht. Dem Reichslande kann die Mitwirkung an der Gesetzgebung, wenn
diese Gestattung sich nicht bewährt und das Reichsinteresse für die Beseitigung
spricht, ohne weiteres durch Neichsgesetz wieder entzogen werden. Eine solche
Vergünstigung auf Widerruf heißt in der Rechtssprache ein precarium. Da
ein ganz gleichbedeutendes deutsches Wort nicht zur Verfügung steht, so nennen
wir die Autonomie Elsaß-Lothringens "prekaristisch"; die österreichischen Länder
dagegen haben Eigenrechts-Autonomie.

Nach dem Reichsgesetze vom 2. Mai 1877 ist die Autonomie Elsaß-
Lothringens ferner insofern eine beschränkte, als sich das Reich im § 2 aus¬
drücklich vorbehalten hat, Landesangelegenheiten im Wege der Reichsgesetzgebung
zu ordnen.

Das Neichsgesetz vom 4. Juli 1879, betreffend die Verfassung und Ver¬
waltung Elsaß-Lothringens, das ältere Verfafsungsgesetz des Landes, hat daran
nichts geändert. In der neuen Verfassung des Reichslandes vom 31. Mai 1911
kehrt der Vorbehalt des Gesetzes von 1877 nicht wieder. Doch darf daraus,
wie sich alsbald zeigen wird, keineswegs die Unzulässtgkeit von Reichsgesetzen
über Landesangelegenheiten geschlossen werden.

Reichsgesetze im Rahmen der Reichszuständigkeit -- Art. 4 Reichsver-
fassung --, z. B. über Gegenstände des bürgerlichen Rechtes, des Strasrechtes,
haben für das Reichsland die gleiche Bedeutung wie für die Reichsstaaten.
Die Eigentümlichkeiten der Organisation des Reichslandes, der Wechsel in seiner
staatsrechtlichen Ausgestaltung kommen diesen Gesetzen gegenüber nicht in Betracht.

Die Gesetze speziell sür Elsaß-Lothringen stehen seit Gewährung der
Autonomie unter besonderen Grundsätzen.

Diese Reichsteilgesetze -- für einen Reichsten bestimmten Gesetze -- waren
ursprünglich schlechthin vom Reich erlassene Gesetze, nur daß sie bis zur Ein¬
führung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen die Form kaiserlicher Ver¬
ordnungen hatten, indem sie ohne Mitwirkung des Reichstages ergingen. Oh-
r>ohl Reichsgesetze in Frage standen, erfolgte die Verkündung nicht im Reichs-
gesetzblatt, sondern in einem Gefetzblatt für Elsaß'Lothringen, Neichsgesetz vom
3- Juli 1871.

Seit dieser Reichsten, das Reichsland, beschränkte Autonomie erhalten
hatte, trat eine Scheidung seiner Gesetze in Reichsteilgesetze im engeren Sinn


Gttnzbotcn III 1917 24
Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

reichische staatsrechtliche Literatur dem Wesen dieser „Landesgesetze" nicht voll
gerecht geworden.

Auf Verkennung des eigenartigen staatsrechtlichen Verhältnisses beruht es,
wenn man neuerdings die elsaß-lothringischen Kammern — nach der Verfassung
von 1911 an Stelle des Landesausschusses die Träger der Autonomie —als
Reichsorgane bezeichnet hat.

Der Vergleich mit Österreich ergibt den bedeutsamen Unterschied, daß dort
die Autonomie der Länder verfassungsmäßig sichergestellt ist, für Elsaß-Loth¬
ringen aber auf bloßer, jederzeit widerruflicher Gewährung der Reichsgewalt
beruht. Dem Reichslande kann die Mitwirkung an der Gesetzgebung, wenn
diese Gestattung sich nicht bewährt und das Reichsinteresse für die Beseitigung
spricht, ohne weiteres durch Neichsgesetz wieder entzogen werden. Eine solche
Vergünstigung auf Widerruf heißt in der Rechtssprache ein precarium. Da
ein ganz gleichbedeutendes deutsches Wort nicht zur Verfügung steht, so nennen
wir die Autonomie Elsaß-Lothringens „prekaristisch"; die österreichischen Länder
dagegen haben Eigenrechts-Autonomie.

Nach dem Reichsgesetze vom 2. Mai 1877 ist die Autonomie Elsaß-
Lothringens ferner insofern eine beschränkte, als sich das Reich im § 2 aus¬
drücklich vorbehalten hat, Landesangelegenheiten im Wege der Reichsgesetzgebung
zu ordnen.

Das Neichsgesetz vom 4. Juli 1879, betreffend die Verfassung und Ver¬
waltung Elsaß-Lothringens, das ältere Verfafsungsgesetz des Landes, hat daran
nichts geändert. In der neuen Verfassung des Reichslandes vom 31. Mai 1911
kehrt der Vorbehalt des Gesetzes von 1877 nicht wieder. Doch darf daraus,
wie sich alsbald zeigen wird, keineswegs die Unzulässtgkeit von Reichsgesetzen
über Landesangelegenheiten geschlossen werden.

Reichsgesetze im Rahmen der Reichszuständigkeit — Art. 4 Reichsver-
fassung —, z. B. über Gegenstände des bürgerlichen Rechtes, des Strasrechtes,
haben für das Reichsland die gleiche Bedeutung wie für die Reichsstaaten.
Die Eigentümlichkeiten der Organisation des Reichslandes, der Wechsel in seiner
staatsrechtlichen Ausgestaltung kommen diesen Gesetzen gegenüber nicht in Betracht.

Die Gesetze speziell sür Elsaß-Lothringen stehen seit Gewährung der
Autonomie unter besonderen Grundsätzen.

Diese Reichsteilgesetze — für einen Reichsten bestimmten Gesetze — waren
ursprünglich schlechthin vom Reich erlassene Gesetze, nur daß sie bis zur Ein¬
führung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen die Form kaiserlicher Ver¬
ordnungen hatten, indem sie ohne Mitwirkung des Reichstages ergingen. Oh-
r>ohl Reichsgesetze in Frage standen, erfolgte die Verkündung nicht im Reichs-
gesetzblatt, sondern in einem Gefetzblatt für Elsaß'Lothringen, Neichsgesetz vom
3- Juli 1871.

Seit dieser Reichsten, das Reichsland, beschränkte Autonomie erhalten
hatte, trat eine Scheidung seiner Gesetze in Reichsteilgesetze im engeren Sinn


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[0381] Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande reichische staatsrechtliche Literatur dem Wesen dieser „Landesgesetze" nicht voll gerecht geworden. Auf Verkennung des eigenartigen staatsrechtlichen Verhältnisses beruht es, wenn man neuerdings die elsaß-lothringischen Kammern — nach der Verfassung von 1911 an Stelle des Landesausschusses die Träger der Autonomie —als Reichsorgane bezeichnet hat. Der Vergleich mit Österreich ergibt den bedeutsamen Unterschied, daß dort die Autonomie der Länder verfassungsmäßig sichergestellt ist, für Elsaß-Loth¬ ringen aber auf bloßer, jederzeit widerruflicher Gewährung der Reichsgewalt beruht. Dem Reichslande kann die Mitwirkung an der Gesetzgebung, wenn diese Gestattung sich nicht bewährt und das Reichsinteresse für die Beseitigung spricht, ohne weiteres durch Neichsgesetz wieder entzogen werden. Eine solche Vergünstigung auf Widerruf heißt in der Rechtssprache ein precarium. Da ein ganz gleichbedeutendes deutsches Wort nicht zur Verfügung steht, so nennen wir die Autonomie Elsaß-Lothringens „prekaristisch"; die österreichischen Länder dagegen haben Eigenrechts-Autonomie. Nach dem Reichsgesetze vom 2. Mai 1877 ist die Autonomie Elsaß- Lothringens ferner insofern eine beschränkte, als sich das Reich im § 2 aus¬ drücklich vorbehalten hat, Landesangelegenheiten im Wege der Reichsgesetzgebung zu ordnen. Das Neichsgesetz vom 4. Juli 1879, betreffend die Verfassung und Ver¬ waltung Elsaß-Lothringens, das ältere Verfafsungsgesetz des Landes, hat daran nichts geändert. In der neuen Verfassung des Reichslandes vom 31. Mai 1911 kehrt der Vorbehalt des Gesetzes von 1877 nicht wieder. Doch darf daraus, wie sich alsbald zeigen wird, keineswegs die Unzulässtgkeit von Reichsgesetzen über Landesangelegenheiten geschlossen werden. Reichsgesetze im Rahmen der Reichszuständigkeit — Art. 4 Reichsver- fassung —, z. B. über Gegenstände des bürgerlichen Rechtes, des Strasrechtes, haben für das Reichsland die gleiche Bedeutung wie für die Reichsstaaten. Die Eigentümlichkeiten der Organisation des Reichslandes, der Wechsel in seiner staatsrechtlichen Ausgestaltung kommen diesen Gesetzen gegenüber nicht in Betracht. Die Gesetze speziell sür Elsaß-Lothringen stehen seit Gewährung der Autonomie unter besonderen Grundsätzen. Diese Reichsteilgesetze — für einen Reichsten bestimmten Gesetze — waren ursprünglich schlechthin vom Reich erlassene Gesetze, nur daß sie bis zur Ein¬ führung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen die Form kaiserlicher Ver¬ ordnungen hatten, indem sie ohne Mitwirkung des Reichstages ergingen. Oh- r>ohl Reichsgesetze in Frage standen, erfolgte die Verkündung nicht im Reichs- gesetzblatt, sondern in einem Gefetzblatt für Elsaß'Lothringen, Neichsgesetz vom 3- Juli 1871. Seit dieser Reichsten, das Reichsland, beschränkte Autonomie erhalten hatte, trat eine Scheidung seiner Gesetze in Reichsteilgesetze im engeren Sinn Gttnzbotcn III 1917 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/381>, abgerufen am 04.07.2024.