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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Die Stellung des höheren Lehrerstandes

Gefühl, anderen Ständen gegenüber, mit denen man sich vergleichen konnte,
von den Behörden zurückgesetzt worden zu sein, tiefe Wurzel gefaßt, wodurch
wieder die Bereitwilligkeit an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen leiden
mußte. Aber andererseits läßt sich auch nicht leugnen, daß, wie die Ent¬
wicklung des Schulwesens so auch die des Oberlehrerstandes nicht überall gleichen
Schritt gehalten hat mit dem schnellen Vordrängen der letzten Jahrzehnte.
Damit soll durchaus kein Tadel ausgesprochen sein. Vielmehr, wenn sich ideale
wissenschaftliche Gesinnung von dem zunehmenden materialistischen Nützlichkeits¬
wahn abgestoßen fühlte, so konnte solche vornehme Zurückhaltung nur, zur Ehre
gereichen. Aber das hindert nicht, daß nun doch viele und vielleicht die besten
von dem geistigen Leben der Zeit abseits standen und der Stand als ganzer
nicht die Teilnahme an den allgemeinen Kulturaufgaben zeigte, die wohl von
ihm zu erwarten war.

Schon die Vorbildung der Philologen wirkt in dieser Richtung. Die
lange und eingehende Beschäftigung mit einer oder nur wenigen Fachwissen¬
schaften, die zum Teil recht abstrakt sind, bringt leicht eine gewisse Einseitigkeit
mit sich. Innerhalb der notwendig gezogenen Grenzen aber fehlt auch dem
Wissen die Gegenwartsbeziehung; der Lebenswert steht ganz zurück gegen den
reinen Wissenschaftswert. So konnte man die Lehrbefähigung im Deutschen
für alle Klassen erlangen, ohne auch nur eine ganz oberflächliche Kenntnis der
neuesten Literatur, geschweige denn einen ausgebildeten literarischen Geschmack
zu besitzen. Und mancher Naturwissenschaftler ist in der uns umgebenden
"wirklichen" Natur recht wenig zu Hause. Daher war der Vorwurf der Welt¬
fremdheit nicht immer unberechtigt. Dann aber nahm auch der jahrelange
Kampf um wirtschaftliche und soziale Hebung, der sich bei den in Deutschland
herrschenden Verhältnissen auch auf eine an sich so äußerliche Sache wie die
Titelfrage erstrecken mußte, die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch,
daß er weniger tief angelegte Naturen wohl von geistigen Bestrebungen ab¬
lenken konnte. Nicht zu vergessen ist ferner die stärkere Betonung des Beamten-
chamlters, die das Lebens- und Berufsgefühl des einzelnen stark beeinflußte.
Der heutige Lehrer ist "Erziehungsbeamter"; und das Beamtenbewußtsein, das
in einer eigentümlichen Mischung von Abhängigkeit- und Unabhüngigkeitsgefühl
besteht, hat das frühere Gelehrtenbewußtsein ganz zurückgedrängt. Der Lehrer
weiß sich jetzt mindestens ebensosehr im Dienste des Staates als in dem der
Wissenschaft stehend. Und doch ist im tiefsten Grunde freie Wissenschaftlichkeit
mit der Abhängigkeit des Beamten unvereinbar.

Vielleicht noch mehr als bei den Lehrern hat sich diese Veränderung bei
den höheren Stellen des Standes, den Direktoren und Provinzialschulrüten,
geltend gemacht. Die Zeit der pädagogisch und wissenschaftlich hervorragenden
Direktoren fiel wesentlich mit der Periode des Neuhumanismus vor etwa
hundert Jahren zusammen. Durch die zunehmende staatliche Organisation und
die Vergrößerung der Lehranstalten sind deren Leiter mehr und mehr zu Ver-


Die Stellung des höheren Lehrerstandes

Gefühl, anderen Ständen gegenüber, mit denen man sich vergleichen konnte,
von den Behörden zurückgesetzt worden zu sein, tiefe Wurzel gefaßt, wodurch
wieder die Bereitwilligkeit an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen leiden
mußte. Aber andererseits läßt sich auch nicht leugnen, daß, wie die Ent¬
wicklung des Schulwesens so auch die des Oberlehrerstandes nicht überall gleichen
Schritt gehalten hat mit dem schnellen Vordrängen der letzten Jahrzehnte.
Damit soll durchaus kein Tadel ausgesprochen sein. Vielmehr, wenn sich ideale
wissenschaftliche Gesinnung von dem zunehmenden materialistischen Nützlichkeits¬
wahn abgestoßen fühlte, so konnte solche vornehme Zurückhaltung nur, zur Ehre
gereichen. Aber das hindert nicht, daß nun doch viele und vielleicht die besten
von dem geistigen Leben der Zeit abseits standen und der Stand als ganzer
nicht die Teilnahme an den allgemeinen Kulturaufgaben zeigte, die wohl von
ihm zu erwarten war.

Schon die Vorbildung der Philologen wirkt in dieser Richtung. Die
lange und eingehende Beschäftigung mit einer oder nur wenigen Fachwissen¬
schaften, die zum Teil recht abstrakt sind, bringt leicht eine gewisse Einseitigkeit
mit sich. Innerhalb der notwendig gezogenen Grenzen aber fehlt auch dem
Wissen die Gegenwartsbeziehung; der Lebenswert steht ganz zurück gegen den
reinen Wissenschaftswert. So konnte man die Lehrbefähigung im Deutschen
für alle Klassen erlangen, ohne auch nur eine ganz oberflächliche Kenntnis der
neuesten Literatur, geschweige denn einen ausgebildeten literarischen Geschmack
zu besitzen. Und mancher Naturwissenschaftler ist in der uns umgebenden
„wirklichen" Natur recht wenig zu Hause. Daher war der Vorwurf der Welt¬
fremdheit nicht immer unberechtigt. Dann aber nahm auch der jahrelange
Kampf um wirtschaftliche und soziale Hebung, der sich bei den in Deutschland
herrschenden Verhältnissen auch auf eine an sich so äußerliche Sache wie die
Titelfrage erstrecken mußte, die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch,
daß er weniger tief angelegte Naturen wohl von geistigen Bestrebungen ab¬
lenken konnte. Nicht zu vergessen ist ferner die stärkere Betonung des Beamten-
chamlters, die das Lebens- und Berufsgefühl des einzelnen stark beeinflußte.
Der heutige Lehrer ist „Erziehungsbeamter"; und das Beamtenbewußtsein, das
in einer eigentümlichen Mischung von Abhängigkeit- und Unabhüngigkeitsgefühl
besteht, hat das frühere Gelehrtenbewußtsein ganz zurückgedrängt. Der Lehrer
weiß sich jetzt mindestens ebensosehr im Dienste des Staates als in dem der
Wissenschaft stehend. Und doch ist im tiefsten Grunde freie Wissenschaftlichkeit
mit der Abhängigkeit des Beamten unvereinbar.

Vielleicht noch mehr als bei den Lehrern hat sich diese Veränderung bei
den höheren Stellen des Standes, den Direktoren und Provinzialschulrüten,
geltend gemacht. Die Zeit der pädagogisch und wissenschaftlich hervorragenden
Direktoren fiel wesentlich mit der Periode des Neuhumanismus vor etwa
hundert Jahren zusammen. Durch die zunehmende staatliche Organisation und
die Vergrößerung der Lehranstalten sind deren Leiter mehr und mehr zu Ver-


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[0284] Die Stellung des höheren Lehrerstandes Gefühl, anderen Ständen gegenüber, mit denen man sich vergleichen konnte, von den Behörden zurückgesetzt worden zu sein, tiefe Wurzel gefaßt, wodurch wieder die Bereitwilligkeit an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen leiden mußte. Aber andererseits läßt sich auch nicht leugnen, daß, wie die Ent¬ wicklung des Schulwesens so auch die des Oberlehrerstandes nicht überall gleichen Schritt gehalten hat mit dem schnellen Vordrängen der letzten Jahrzehnte. Damit soll durchaus kein Tadel ausgesprochen sein. Vielmehr, wenn sich ideale wissenschaftliche Gesinnung von dem zunehmenden materialistischen Nützlichkeits¬ wahn abgestoßen fühlte, so konnte solche vornehme Zurückhaltung nur, zur Ehre gereichen. Aber das hindert nicht, daß nun doch viele und vielleicht die besten von dem geistigen Leben der Zeit abseits standen und der Stand als ganzer nicht die Teilnahme an den allgemeinen Kulturaufgaben zeigte, die wohl von ihm zu erwarten war. Schon die Vorbildung der Philologen wirkt in dieser Richtung. Die lange und eingehende Beschäftigung mit einer oder nur wenigen Fachwissen¬ schaften, die zum Teil recht abstrakt sind, bringt leicht eine gewisse Einseitigkeit mit sich. Innerhalb der notwendig gezogenen Grenzen aber fehlt auch dem Wissen die Gegenwartsbeziehung; der Lebenswert steht ganz zurück gegen den reinen Wissenschaftswert. So konnte man die Lehrbefähigung im Deutschen für alle Klassen erlangen, ohne auch nur eine ganz oberflächliche Kenntnis der neuesten Literatur, geschweige denn einen ausgebildeten literarischen Geschmack zu besitzen. Und mancher Naturwissenschaftler ist in der uns umgebenden „wirklichen" Natur recht wenig zu Hause. Daher war der Vorwurf der Welt¬ fremdheit nicht immer unberechtigt. Dann aber nahm auch der jahrelange Kampf um wirtschaftliche und soziale Hebung, der sich bei den in Deutschland herrschenden Verhältnissen auch auf eine an sich so äußerliche Sache wie die Titelfrage erstrecken mußte, die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, daß er weniger tief angelegte Naturen wohl von geistigen Bestrebungen ab¬ lenken konnte. Nicht zu vergessen ist ferner die stärkere Betonung des Beamten- chamlters, die das Lebens- und Berufsgefühl des einzelnen stark beeinflußte. Der heutige Lehrer ist „Erziehungsbeamter"; und das Beamtenbewußtsein, das in einer eigentümlichen Mischung von Abhängigkeit- und Unabhüngigkeitsgefühl besteht, hat das frühere Gelehrtenbewußtsein ganz zurückgedrängt. Der Lehrer weiß sich jetzt mindestens ebensosehr im Dienste des Staates als in dem der Wissenschaft stehend. Und doch ist im tiefsten Grunde freie Wissenschaftlichkeit mit der Abhängigkeit des Beamten unvereinbar. Vielleicht noch mehr als bei den Lehrern hat sich diese Veränderung bei den höheren Stellen des Standes, den Direktoren und Provinzialschulrüten, geltend gemacht. Die Zeit der pädagogisch und wissenschaftlich hervorragenden Direktoren fiel wesentlich mit der Periode des Neuhumanismus vor etwa hundert Jahren zusammen. Durch die zunehmende staatliche Organisation und die Vergrößerung der Lehranstalten sind deren Leiter mehr und mehr zu Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/284>, abgerufen am 03.07.2024.