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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropa

Nachdem Friedrich Naumann*) seine zündende Schrift veröffentlicht hatte, scheint die
deutsche nationale Publizistik wenigstens in Norddeutschland keine Gedanken
darüber mehr vorzutragen gehabt zu haben; der freisinnige Parteimann Gothein hat
die Frage noch einmal publizistisch, allerdings ganz östlich orientiert behandelt;
im übrigen waren es Fachmänner der Wissenschaft und Vertreter der Bureaukratie der
in Betracht kommenden Länder, die die Erörterungen über Mitteleuropa an sich
brachten und sie in das ruhige Fahrwasser volkswirtschaftlicher Studien und die Ver¬
schwiegenheit der Amtszimmer lenkten. Den größten Anteil an dieser Arbeit
und ein hohes Verdienst um eine sachlich in hohem Maße zufriedenstellende
Vorbereitung der bereits zwischen den amtlichen Stellen von Berlin, Wien und
Budapest schwebenden Verhandlungen hat der "Verein für Sozialpolitik"
erworben durch sein zweibändiges Sammelwerk "Die wirtschaftliche An¬
näherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten"**).
Daneben darf auch der "Arbeitsausschuß für Mitteleuropa"***), der eine
wöchentlich erscheinende Fachzeitschrift herausgibt und Friedrich Naumann,
Frhrn. von Rechenberg, Eugen Schiffer und Robert Schmidt zu seinen Mit¬
gliedern zählt, nicht vergessen werden.

Die Durchsicht der Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik, zu
denen noch eine Anzahl selbständiger Arbeiten von Jastrow, Wolff, Stolper u. a.
treten, zeigt, worauf es im Augenblick für die Schaffung eines mitteleuro¬
päischen Fundaments ankommt.

Der Gedanke an Mitteleuropa hat seine Begründung in einer einfachen
Erwägung, für die uns der Krieg, die inneren Ursachen seines Entstehens sowie
seine Entwicklung von dem Überfall der europäischen Ententemächte bis zur
allgemeinen Weltkoalition gegen Deutschland das Gehirn geschärft haben:
Geographisch zusammengehörige Gebiete müssen politisch zusammengeschlossen
werden, damit ihre Bewohner im wirtschaftlichen Daseinskampfe auf der Erd¬
oberfläche bestehen können. Die freie Existenz der Bewohner der Gebiete
Mitteleuropas ist bedroht durch den angelsächsischen und neuerdings mongolischen
Kapitalismus, weil diese sich durch Zusammenfassung gewaltiger Länder¬
komplexe den Luxus wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit (Autarkie) leisten können.
Die Völkerschaften Mitteleuropas haben die Wahl, entweder unter bewußter
Preisgabe gewisser äußerlicher Attribute ihrer politischen Selbständigkeit, sich zu
gemeinsamer, Erfolg sichernder Arbeit zusammenzutun oder aber unter tatsäch¬
licher Preisgabe ihres Anspruchs auf organisierte Tätigkeit in der Weltwirt¬
schaft den Schein politischer Selbständigkeit gegeneinander aufrechtzuerhalten.
"Alle Mitkämpfer des Weltkrieges fühlen unmittelbar, schreibt Friedrich
Naumann, daß in der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit keine kleinen und





*) "Mitteleuropa", Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1916.
**) Herausgegeben von Dr. Heinrich Zerkner, Verlag von Duncker u. Humblot, München
und Leipzig 19 Is.
"**) "Mitteleuropa" (bisher 8 Hefte), Druck und Verlag Ullstein u. Co., Berlin.
Mitteleuropa

Nachdem Friedrich Naumann*) seine zündende Schrift veröffentlicht hatte, scheint die
deutsche nationale Publizistik wenigstens in Norddeutschland keine Gedanken
darüber mehr vorzutragen gehabt zu haben; der freisinnige Parteimann Gothein hat
die Frage noch einmal publizistisch, allerdings ganz östlich orientiert behandelt;
im übrigen waren es Fachmänner der Wissenschaft und Vertreter der Bureaukratie der
in Betracht kommenden Länder, die die Erörterungen über Mitteleuropa an sich
brachten und sie in das ruhige Fahrwasser volkswirtschaftlicher Studien und die Ver¬
schwiegenheit der Amtszimmer lenkten. Den größten Anteil an dieser Arbeit
und ein hohes Verdienst um eine sachlich in hohem Maße zufriedenstellende
Vorbereitung der bereits zwischen den amtlichen Stellen von Berlin, Wien und
Budapest schwebenden Verhandlungen hat der „Verein für Sozialpolitik"
erworben durch sein zweibändiges Sammelwerk „Die wirtschaftliche An¬
näherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten"**).
Daneben darf auch der „Arbeitsausschuß für Mitteleuropa"***), der eine
wöchentlich erscheinende Fachzeitschrift herausgibt und Friedrich Naumann,
Frhrn. von Rechenberg, Eugen Schiffer und Robert Schmidt zu seinen Mit¬
gliedern zählt, nicht vergessen werden.

Die Durchsicht der Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik, zu
denen noch eine Anzahl selbständiger Arbeiten von Jastrow, Wolff, Stolper u. a.
treten, zeigt, worauf es im Augenblick für die Schaffung eines mitteleuro¬
päischen Fundaments ankommt.

Der Gedanke an Mitteleuropa hat seine Begründung in einer einfachen
Erwägung, für die uns der Krieg, die inneren Ursachen seines Entstehens sowie
seine Entwicklung von dem Überfall der europäischen Ententemächte bis zur
allgemeinen Weltkoalition gegen Deutschland das Gehirn geschärft haben:
Geographisch zusammengehörige Gebiete müssen politisch zusammengeschlossen
werden, damit ihre Bewohner im wirtschaftlichen Daseinskampfe auf der Erd¬
oberfläche bestehen können. Die freie Existenz der Bewohner der Gebiete
Mitteleuropas ist bedroht durch den angelsächsischen und neuerdings mongolischen
Kapitalismus, weil diese sich durch Zusammenfassung gewaltiger Länder¬
komplexe den Luxus wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit (Autarkie) leisten können.
Die Völkerschaften Mitteleuropas haben die Wahl, entweder unter bewußter
Preisgabe gewisser äußerlicher Attribute ihrer politischen Selbständigkeit, sich zu
gemeinsamer, Erfolg sichernder Arbeit zusammenzutun oder aber unter tatsäch¬
licher Preisgabe ihres Anspruchs auf organisierte Tätigkeit in der Weltwirt¬
schaft den Schein politischer Selbständigkeit gegeneinander aufrechtzuerhalten.
„Alle Mitkämpfer des Weltkrieges fühlen unmittelbar, schreibt Friedrich
Naumann, daß in der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit keine kleinen und





*) „Mitteleuropa", Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1916.
**) Herausgegeben von Dr. Heinrich Zerkner, Verlag von Duncker u. Humblot, München
und Leipzig 19 Is.
"**) „Mitteleuropa" (bisher 8 Hefte), Druck und Verlag Ullstein u. Co., Berlin.
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[0238] Mitteleuropa Nachdem Friedrich Naumann*) seine zündende Schrift veröffentlicht hatte, scheint die deutsche nationale Publizistik wenigstens in Norddeutschland keine Gedanken darüber mehr vorzutragen gehabt zu haben; der freisinnige Parteimann Gothein hat die Frage noch einmal publizistisch, allerdings ganz östlich orientiert behandelt; im übrigen waren es Fachmänner der Wissenschaft und Vertreter der Bureaukratie der in Betracht kommenden Länder, die die Erörterungen über Mitteleuropa an sich brachten und sie in das ruhige Fahrwasser volkswirtschaftlicher Studien und die Ver¬ schwiegenheit der Amtszimmer lenkten. Den größten Anteil an dieser Arbeit und ein hohes Verdienst um eine sachlich in hohem Maße zufriedenstellende Vorbereitung der bereits zwischen den amtlichen Stellen von Berlin, Wien und Budapest schwebenden Verhandlungen hat der „Verein für Sozialpolitik" erworben durch sein zweibändiges Sammelwerk „Die wirtschaftliche An¬ näherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten"**). Daneben darf auch der „Arbeitsausschuß für Mitteleuropa"***), der eine wöchentlich erscheinende Fachzeitschrift herausgibt und Friedrich Naumann, Frhrn. von Rechenberg, Eugen Schiffer und Robert Schmidt zu seinen Mit¬ gliedern zählt, nicht vergessen werden. Die Durchsicht der Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik, zu denen noch eine Anzahl selbständiger Arbeiten von Jastrow, Wolff, Stolper u. a. treten, zeigt, worauf es im Augenblick für die Schaffung eines mitteleuro¬ päischen Fundaments ankommt. Der Gedanke an Mitteleuropa hat seine Begründung in einer einfachen Erwägung, für die uns der Krieg, die inneren Ursachen seines Entstehens sowie seine Entwicklung von dem Überfall der europäischen Ententemächte bis zur allgemeinen Weltkoalition gegen Deutschland das Gehirn geschärft haben: Geographisch zusammengehörige Gebiete müssen politisch zusammengeschlossen werden, damit ihre Bewohner im wirtschaftlichen Daseinskampfe auf der Erd¬ oberfläche bestehen können. Die freie Existenz der Bewohner der Gebiete Mitteleuropas ist bedroht durch den angelsächsischen und neuerdings mongolischen Kapitalismus, weil diese sich durch Zusammenfassung gewaltiger Länder¬ komplexe den Luxus wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit (Autarkie) leisten können. Die Völkerschaften Mitteleuropas haben die Wahl, entweder unter bewußter Preisgabe gewisser äußerlicher Attribute ihrer politischen Selbständigkeit, sich zu gemeinsamer, Erfolg sichernder Arbeit zusammenzutun oder aber unter tatsäch¬ licher Preisgabe ihres Anspruchs auf organisierte Tätigkeit in der Weltwirt¬ schaft den Schein politischer Selbständigkeit gegeneinander aufrechtzuerhalten. „Alle Mitkämpfer des Weltkrieges fühlen unmittelbar, schreibt Friedrich Naumann, daß in der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit keine kleinen und *) „Mitteleuropa", Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1916. **) Herausgegeben von Dr. Heinrich Zerkner, Verlag von Duncker u. Humblot, München und Leipzig 19 Is. "**) „Mitteleuropa" (bisher 8 Hefte), Druck und Verlag Ullstein u. Co., Berlin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/238>, abgerufen am 23.07.2024.