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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Kurs des neuen Kanzlers

deutet einmal, was ohnehin jeder, der Ohren zu hören und Augen zu sehen
hatte, aus den Reden des Herrn I)r. Michaelis und aus der Veröffentlichung
der "Norddeutschen Allgemeinen" vom 24. Juli entnehmen konnte: daß der
deutsche Reichskanzler klar und entschieden in wesentlicher Übereinstimmung mit
der Friedensresolution der Mehrheitsparteien im Reichstage die Grundlinie
eines Ausgleichs- und Verständigungsfriedens auch für die kommende Zeit fest¬
hält, und es bedeutet zum anderen, daß er ebenfalls sich eins weiß mit seinem
Vorgänger in dem Streben, die Sozialdemokratie als vollwertig den übrigen
nationalen Parteien einzureihen. Es bedeutet, daß die kaiserliche Parole des
4. August "Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche", der manches
konservative Blatt nur eine vorübergehende Bedeutung beimessen wollte, nach
wie vor in voller, uneingeschränkter Geltung bleibt. Es bedeutet in der Tat,
was die "Kreuzzeitung" fürchtete, daß es auch unter dem Reichskanzler Michaelis
für keinen Staatsbürger ein Pudendum sein kann, sich zur Sozialdemokratie,
so lange sie als ihr Kriegsziel nach den neuerlichen Scheidemannschen Worten
die "Sicherung des deutschen Landes sowie der deutschen Zukunft" festhält, zu
bekennen, für sie einzutreten und sie zu fördern. Uns scheint es aus den in
diesen Blättern oft dargelegten Gründen von der allergrößten Wichtigkeit zu
sein, daß Herr Dr. Michaelis gerade in diesem Punkte das Erbe seines Vor¬
gängers im Prinzip antritt; denn uns steht es fest, daß -- ich eigne mir die
Worte Georg Cleinows aus Ur. 30 der "Grenzboten" an -- noch unsere Kinder
und Kindeskinder es Herrn von Bethmann Hollweg als bleibendes Verdienst
danken werden, die deutsche Sozialdemokratie in die Front der den Staat, das
Deutsche Reich erhaltenden Parteien eingereiht zu haben. Ja, wir möchten
hoffen, daß es Herrn Dr. Michaelis noch mehr als seinem Vorgänger gelingen
möge, die in den Reihen der Sozialdemokratie und nicht bloß in dieser Parder
vorhandene Scheu vor einer Anteilnahme an der Verantwortung für die staats¬
politische Leitung zu überwinden. Wenn Scheidemann in seiner Berliner Rede
vom 26. Juli ausgesprochen hat: "Wir könnten an der Negierung nur teil¬
nehmen, wenn alle Sondergesetze, die die Arbeiterschaft bedrücken, aufgehoben
würden", so ist in den "Grenzboten" schon wiederholt der Aufhebung des H 153
der Gewerbeordnung, der Ausdehnung des Koalitionsrechts auf die Landarbeiter
unter den gegebenen Kautelen -- diese beiden Punkte hatte Scheidemann wohl
hauptsächlich im Auge -- das Wort geredet worden. Man darf vertrauen,
daß Herr Dr. Michaelis, der keine tönenden Versprechungen liebt, sondern der
Mann der Tat ist, an diesen beiden Punkten nicht erst mit Verheißungen,
sondern gleich mit der gesetzgeberischen Tat eingreifen wird. Solches Vertrauen
wird dadurch erhöht, daß an die Spitze des aus dem Reichsamt des Innern
ausgeschiedenen Neichswirtschaftsamts, dem die Handels- und Wirtschafts- sowie
die Sozialpolitik zufallen soll, der Oberbürgermeister von Straßburg i. Elsaß
Dr. Schwander gestellt ist, dessen Name als der eines ungewöhnlich weitblickenden
und fortgeschrittenen Sozialpolitikers bekannt ist.


Der Kurs des neuen Kanzlers

deutet einmal, was ohnehin jeder, der Ohren zu hören und Augen zu sehen
hatte, aus den Reden des Herrn I)r. Michaelis und aus der Veröffentlichung
der „Norddeutschen Allgemeinen" vom 24. Juli entnehmen konnte: daß der
deutsche Reichskanzler klar und entschieden in wesentlicher Übereinstimmung mit
der Friedensresolution der Mehrheitsparteien im Reichstage die Grundlinie
eines Ausgleichs- und Verständigungsfriedens auch für die kommende Zeit fest¬
hält, und es bedeutet zum anderen, daß er ebenfalls sich eins weiß mit seinem
Vorgänger in dem Streben, die Sozialdemokratie als vollwertig den übrigen
nationalen Parteien einzureihen. Es bedeutet, daß die kaiserliche Parole des
4. August „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche", der manches
konservative Blatt nur eine vorübergehende Bedeutung beimessen wollte, nach
wie vor in voller, uneingeschränkter Geltung bleibt. Es bedeutet in der Tat,
was die „Kreuzzeitung" fürchtete, daß es auch unter dem Reichskanzler Michaelis
für keinen Staatsbürger ein Pudendum sein kann, sich zur Sozialdemokratie,
so lange sie als ihr Kriegsziel nach den neuerlichen Scheidemannschen Worten
die „Sicherung des deutschen Landes sowie der deutschen Zukunft" festhält, zu
bekennen, für sie einzutreten und sie zu fördern. Uns scheint es aus den in
diesen Blättern oft dargelegten Gründen von der allergrößten Wichtigkeit zu
sein, daß Herr Dr. Michaelis gerade in diesem Punkte das Erbe seines Vor¬
gängers im Prinzip antritt; denn uns steht es fest, daß — ich eigne mir die
Worte Georg Cleinows aus Ur. 30 der „Grenzboten" an — noch unsere Kinder
und Kindeskinder es Herrn von Bethmann Hollweg als bleibendes Verdienst
danken werden, die deutsche Sozialdemokratie in die Front der den Staat, das
Deutsche Reich erhaltenden Parteien eingereiht zu haben. Ja, wir möchten
hoffen, daß es Herrn Dr. Michaelis noch mehr als seinem Vorgänger gelingen
möge, die in den Reihen der Sozialdemokratie und nicht bloß in dieser Parder
vorhandene Scheu vor einer Anteilnahme an der Verantwortung für die staats¬
politische Leitung zu überwinden. Wenn Scheidemann in seiner Berliner Rede
vom 26. Juli ausgesprochen hat: „Wir könnten an der Negierung nur teil¬
nehmen, wenn alle Sondergesetze, die die Arbeiterschaft bedrücken, aufgehoben
würden", so ist in den „Grenzboten" schon wiederholt der Aufhebung des H 153
der Gewerbeordnung, der Ausdehnung des Koalitionsrechts auf die Landarbeiter
unter den gegebenen Kautelen — diese beiden Punkte hatte Scheidemann wohl
hauptsächlich im Auge — das Wort geredet worden. Man darf vertrauen,
daß Herr Dr. Michaelis, der keine tönenden Versprechungen liebt, sondern der
Mann der Tat ist, an diesen beiden Punkten nicht erst mit Verheißungen,
sondern gleich mit der gesetzgeberischen Tat eingreifen wird. Solches Vertrauen
wird dadurch erhöht, daß an die Spitze des aus dem Reichsamt des Innern
ausgeschiedenen Neichswirtschaftsamts, dem die Handels- und Wirtschafts- sowie
die Sozialpolitik zufallen soll, der Oberbürgermeister von Straßburg i. Elsaß
Dr. Schwander gestellt ist, dessen Name als der eines ungewöhnlich weitblickenden
und fortgeschrittenen Sozialpolitikers bekannt ist.


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[0208] Der Kurs des neuen Kanzlers deutet einmal, was ohnehin jeder, der Ohren zu hören und Augen zu sehen hatte, aus den Reden des Herrn I)r. Michaelis und aus der Veröffentlichung der „Norddeutschen Allgemeinen" vom 24. Juli entnehmen konnte: daß der deutsche Reichskanzler klar und entschieden in wesentlicher Übereinstimmung mit der Friedensresolution der Mehrheitsparteien im Reichstage die Grundlinie eines Ausgleichs- und Verständigungsfriedens auch für die kommende Zeit fest¬ hält, und es bedeutet zum anderen, daß er ebenfalls sich eins weiß mit seinem Vorgänger in dem Streben, die Sozialdemokratie als vollwertig den übrigen nationalen Parteien einzureihen. Es bedeutet, daß die kaiserliche Parole des 4. August „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche", der manches konservative Blatt nur eine vorübergehende Bedeutung beimessen wollte, nach wie vor in voller, uneingeschränkter Geltung bleibt. Es bedeutet in der Tat, was die „Kreuzzeitung" fürchtete, daß es auch unter dem Reichskanzler Michaelis für keinen Staatsbürger ein Pudendum sein kann, sich zur Sozialdemokratie, so lange sie als ihr Kriegsziel nach den neuerlichen Scheidemannschen Worten die „Sicherung des deutschen Landes sowie der deutschen Zukunft" festhält, zu bekennen, für sie einzutreten und sie zu fördern. Uns scheint es aus den in diesen Blättern oft dargelegten Gründen von der allergrößten Wichtigkeit zu sein, daß Herr Dr. Michaelis gerade in diesem Punkte das Erbe seines Vor¬ gängers im Prinzip antritt; denn uns steht es fest, daß — ich eigne mir die Worte Georg Cleinows aus Ur. 30 der „Grenzboten" an — noch unsere Kinder und Kindeskinder es Herrn von Bethmann Hollweg als bleibendes Verdienst danken werden, die deutsche Sozialdemokratie in die Front der den Staat, das Deutsche Reich erhaltenden Parteien eingereiht zu haben. Ja, wir möchten hoffen, daß es Herrn Dr. Michaelis noch mehr als seinem Vorgänger gelingen möge, die in den Reihen der Sozialdemokratie und nicht bloß in dieser Parder vorhandene Scheu vor einer Anteilnahme an der Verantwortung für die staats¬ politische Leitung zu überwinden. Wenn Scheidemann in seiner Berliner Rede vom 26. Juli ausgesprochen hat: „Wir könnten an der Negierung nur teil¬ nehmen, wenn alle Sondergesetze, die die Arbeiterschaft bedrücken, aufgehoben würden", so ist in den „Grenzboten" schon wiederholt der Aufhebung des H 153 der Gewerbeordnung, der Ausdehnung des Koalitionsrechts auf die Landarbeiter unter den gegebenen Kautelen — diese beiden Punkte hatte Scheidemann wohl hauptsächlich im Auge — das Wort geredet worden. Man darf vertrauen, daß Herr Dr. Michaelis, der keine tönenden Versprechungen liebt, sondern der Mann der Tat ist, an diesen beiden Punkten nicht erst mit Verheißungen, sondern gleich mit der gesetzgeberischen Tat eingreifen wird. Solches Vertrauen wird dadurch erhöht, daß an die Spitze des aus dem Reichsamt des Innern ausgeschiedenen Neichswirtschaftsamts, dem die Handels- und Wirtschafts- sowie die Sozialpolitik zufallen soll, der Oberbürgermeister von Straßburg i. Elsaß Dr. Schwander gestellt ist, dessen Name als der eines ungewöhnlich weitblickenden und fortgeschrittenen Sozialpolitikers bekannt ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/208>, abgerufen am 23.06.2024.