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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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daß z. B. eine gründlichere Beschäftigung der künftigen Oberlehrer mit den
allgemeinsten Problemen der Kultur-- und Naturwissenschaft in ihrer Beziehung
M den Bildungs- und Erziehungsaufgaben dereinst den vielfach recht müßigen
Streit um gymnasiale oder realistische Vorbildung auf eine höhere, sozusagen
fachmännische Stufe erheben würde. Dazu aber bedarf es beispielsweise auf
dem Sondergebiet der sprachlich-literarischen Fächer einer akademischen Schulung,
die über den begrenzten Gesichtskreis des modernen Spezialistentums hinweg¬
sehen lehrt, die jedenfalls neben der klassischen, der romanischen, der englischen,
deutschen Philologie mindestens in die Grundprobleme und Anschauungen der
allgemeinen Sprach- und Literaturgeschichte, der Phonetik, der Kulturgeschichte
und dergleichen einführt. Ohne die dazu notwendige organisatorische Vorarbeit
wird es künftig immer schwerer werden, vereint zu schlagen, wo getrennt
marschiert wird.

Die letztverflossenen Jahrzehnte mit ihrem einseitigen Fachmenschentum
sind der Befruchtung unseres Bildungswesens mit philosophischen Gedanken
wenig zugänglich gewesen. Was Rudolf Eucken mit Bezug auf den altsprach¬
lichen Unterricht sagt, gilt ohne grundsätzliche Änderung wohl auch von vielen
anderen Sondergebieten des höheren wie des Hochschulnnterrichts: "Viel zu
sehr neigen namentlich wir Deutschen dahin, für eine innere Belebung eine
gelehrte Beschäftigung einzusetzen und statt einer geistigen Substanz viel schul¬
gerechtes Wissen zu bieten. So hat es guten Grund, wenn das klassische
Altertum unsere Jugend nicht sowohl begeistert als ermüdet, aber die Schuld
dessen liegt nicht am Altertum, sondern sie liegt an uns selbst und der Art,
wie wir es im Unterricht ohne eine Verwandlung in eigenen Besitz mit kühler
Gelehrsamkeit behandeln. Denn wie könnte zum ganzen Menschen wirken, was
nicht vom ganzen Menschen kommt?" (Grundlinien einer neuen Lebensanschauung,
S. 285. Leipzig 1907.)

Ich glaube, daß dieses zutreffende Wort, in seiner vollen Tragweite er¬
kannt und folgerichtig ausgeführt, wie kaum ein zweites geeignet ist, den An¬
knüpfungspunkt zu einer gegenseitigen Würdigung der Arbeit und der Eigenart
M bilden, die humanistische und realistische Lehranstalten, Hochschulen und
höhere Schulen dereinst zu leisten haben werden.




daß z. B. eine gründlichere Beschäftigung der künftigen Oberlehrer mit den
allgemeinsten Problemen der Kultur-- und Naturwissenschaft in ihrer Beziehung
M den Bildungs- und Erziehungsaufgaben dereinst den vielfach recht müßigen
Streit um gymnasiale oder realistische Vorbildung auf eine höhere, sozusagen
fachmännische Stufe erheben würde. Dazu aber bedarf es beispielsweise auf
dem Sondergebiet der sprachlich-literarischen Fächer einer akademischen Schulung,
die über den begrenzten Gesichtskreis des modernen Spezialistentums hinweg¬
sehen lehrt, die jedenfalls neben der klassischen, der romanischen, der englischen,
deutschen Philologie mindestens in die Grundprobleme und Anschauungen der
allgemeinen Sprach- und Literaturgeschichte, der Phonetik, der Kulturgeschichte
und dergleichen einführt. Ohne die dazu notwendige organisatorische Vorarbeit
wird es künftig immer schwerer werden, vereint zu schlagen, wo getrennt
marschiert wird.

Die letztverflossenen Jahrzehnte mit ihrem einseitigen Fachmenschentum
sind der Befruchtung unseres Bildungswesens mit philosophischen Gedanken
wenig zugänglich gewesen. Was Rudolf Eucken mit Bezug auf den altsprach¬
lichen Unterricht sagt, gilt ohne grundsätzliche Änderung wohl auch von vielen
anderen Sondergebieten des höheren wie des Hochschulnnterrichts: „Viel zu
sehr neigen namentlich wir Deutschen dahin, für eine innere Belebung eine
gelehrte Beschäftigung einzusetzen und statt einer geistigen Substanz viel schul¬
gerechtes Wissen zu bieten. So hat es guten Grund, wenn das klassische
Altertum unsere Jugend nicht sowohl begeistert als ermüdet, aber die Schuld
dessen liegt nicht am Altertum, sondern sie liegt an uns selbst und der Art,
wie wir es im Unterricht ohne eine Verwandlung in eigenen Besitz mit kühler
Gelehrsamkeit behandeln. Denn wie könnte zum ganzen Menschen wirken, was
nicht vom ganzen Menschen kommt?" (Grundlinien einer neuen Lebensanschauung,
S. 285. Leipzig 1907.)

Ich glaube, daß dieses zutreffende Wort, in seiner vollen Tragweite er¬
kannt und folgerichtig ausgeführt, wie kaum ein zweites geeignet ist, den An¬
knüpfungspunkt zu einer gegenseitigen Würdigung der Arbeit und der Eigenart
M bilden, die humanistische und realistische Lehranstalten, Hochschulen und
höhere Schulen dereinst zu leisten haben werden.




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[0187] daß z. B. eine gründlichere Beschäftigung der künftigen Oberlehrer mit den allgemeinsten Problemen der Kultur-- und Naturwissenschaft in ihrer Beziehung M den Bildungs- und Erziehungsaufgaben dereinst den vielfach recht müßigen Streit um gymnasiale oder realistische Vorbildung auf eine höhere, sozusagen fachmännische Stufe erheben würde. Dazu aber bedarf es beispielsweise auf dem Sondergebiet der sprachlich-literarischen Fächer einer akademischen Schulung, die über den begrenzten Gesichtskreis des modernen Spezialistentums hinweg¬ sehen lehrt, die jedenfalls neben der klassischen, der romanischen, der englischen, deutschen Philologie mindestens in die Grundprobleme und Anschauungen der allgemeinen Sprach- und Literaturgeschichte, der Phonetik, der Kulturgeschichte und dergleichen einführt. Ohne die dazu notwendige organisatorische Vorarbeit wird es künftig immer schwerer werden, vereint zu schlagen, wo getrennt marschiert wird. Die letztverflossenen Jahrzehnte mit ihrem einseitigen Fachmenschentum sind der Befruchtung unseres Bildungswesens mit philosophischen Gedanken wenig zugänglich gewesen. Was Rudolf Eucken mit Bezug auf den altsprach¬ lichen Unterricht sagt, gilt ohne grundsätzliche Änderung wohl auch von vielen anderen Sondergebieten des höheren wie des Hochschulnnterrichts: „Viel zu sehr neigen namentlich wir Deutschen dahin, für eine innere Belebung eine gelehrte Beschäftigung einzusetzen und statt einer geistigen Substanz viel schul¬ gerechtes Wissen zu bieten. So hat es guten Grund, wenn das klassische Altertum unsere Jugend nicht sowohl begeistert als ermüdet, aber die Schuld dessen liegt nicht am Altertum, sondern sie liegt an uns selbst und der Art, wie wir es im Unterricht ohne eine Verwandlung in eigenen Besitz mit kühler Gelehrsamkeit behandeln. Denn wie könnte zum ganzen Menschen wirken, was nicht vom ganzen Menschen kommt?" (Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, S. 285. Leipzig 1907.) Ich glaube, daß dieses zutreffende Wort, in seiner vollen Tragweite er¬ kannt und folgerichtig ausgeführt, wie kaum ein zweites geeignet ist, den An¬ knüpfungspunkt zu einer gegenseitigen Würdigung der Arbeit und der Eigenart M bilden, die humanistische und realistische Lehranstalten, Hochschulen und höhere Schulen dereinst zu leisten haben werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/187>, abgerufen am 29.06.2024.