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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Deutschkunde oder Germanistik?
Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von

Sanctus amor patriae 6at snimum
Freiherr vom Stein

^s gard in unserem Schulwesen heute mehr als je. Der Krieg
hat auch hier nichts Neues geschaffen, aber Altes entbunden und
sich als der Treiber erwiesen, der den langsamen Trott nicht
mag, der Hemmungen aus dem Wege räumt, die bisher dem
Vorwärtsstreben Widerstand leisteten.

Man wird diese Tatsache hinnehmen müssen, auch wenn man nicht mit
allem einverstanden ist, was von Schwarmgeistern gepredigt wird. Dem Ge¬
sunden zum Leben zu verhelfen, wird die Aufgabe derer sein, die sich den
Kopf nicht umnebeln lassen.

Zu den Dingen, an deren Fortschreiten man seine helle Freude haben
kann, gehört das Deutschbewußtsein. Wir haben hinausgeschaut über die
Grenzen des Vaterlandes und haben entdeckt, daß jene Völker, vor denen wir --
seien wir offen -- bis vor kurzem noch eine Mischung von Scheu und Be¬
wunderung empfunden haben, ganz anders sind, als wir uns vorstellten; so
ganz anders vor allem als wir selbst sind, nicht graduell uns über, sondern
andersartig, nach Denkweise, Idealen, sittlichen Anschauungen; und daß es
also gar keinen Sinn hatte, sie als Vorbilder für uns aufzustellen. Weil wir
nun selbst auf einmal zeigen mußten, was in und an uns ist. standen wir
plötzlich vor neuen Erkenntnissen über unser eigenes Wesen; der Vergleich mit
dem nahegerückten Gegner hob nur stärker den Gegensatz hervor. So erleben
!°ir ein neues Bewußtwerden deutscher Art. Seine Folgen in Leben und
Schaffen, in Handel und Wandel, in Politik und Wirtschaft sind noch nicht
Zu ermessen. Aber wir, die wir Deutsche sind, müssen dieses Erwachen begrüßen,
^eil es uns die Augen öffnet über den einzigen Lebensweg, der uns gemäß ist.

Der deutsche Sturmwind hat auch in die Schulräume geblasen. Das
Schlagwort von der deutschen Schule tönt durch die Welt. Wie es bei solchen
singenden Worten ist, versteht fast jeder anderes darunter als der Nächste.
Dem einen bedeutet es die Einheitsschule mit staatlicher Regelung jedes
Bildungsganges durch den zur Schätzung der Geisteskräfte berufenen Lehr-
eamten. dem anderen dient es zum Schlachtruf gegen das humanistische




Deutschkunde oder Germanistik?
Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von

Sanctus amor patriae 6at snimum
Freiherr vom Stein

^s gard in unserem Schulwesen heute mehr als je. Der Krieg
hat auch hier nichts Neues geschaffen, aber Altes entbunden und
sich als der Treiber erwiesen, der den langsamen Trott nicht
mag, der Hemmungen aus dem Wege räumt, die bisher dem
Vorwärtsstreben Widerstand leisteten.

Man wird diese Tatsache hinnehmen müssen, auch wenn man nicht mit
allem einverstanden ist, was von Schwarmgeistern gepredigt wird. Dem Ge¬
sunden zum Leben zu verhelfen, wird die Aufgabe derer sein, die sich den
Kopf nicht umnebeln lassen.

Zu den Dingen, an deren Fortschreiten man seine helle Freude haben
kann, gehört das Deutschbewußtsein. Wir haben hinausgeschaut über die
Grenzen des Vaterlandes und haben entdeckt, daß jene Völker, vor denen wir —
seien wir offen — bis vor kurzem noch eine Mischung von Scheu und Be¬
wunderung empfunden haben, ganz anders sind, als wir uns vorstellten; so
ganz anders vor allem als wir selbst sind, nicht graduell uns über, sondern
andersartig, nach Denkweise, Idealen, sittlichen Anschauungen; und daß es
also gar keinen Sinn hatte, sie als Vorbilder für uns aufzustellen. Weil wir
nun selbst auf einmal zeigen mußten, was in und an uns ist. standen wir
plötzlich vor neuen Erkenntnissen über unser eigenes Wesen; der Vergleich mit
dem nahegerückten Gegner hob nur stärker den Gegensatz hervor. So erleben
!°ir ein neues Bewußtwerden deutscher Art. Seine Folgen in Leben und
Schaffen, in Handel und Wandel, in Politik und Wirtschaft sind noch nicht
Zu ermessen. Aber wir, die wir Deutsche sind, müssen dieses Erwachen begrüßen,
^eil es uns die Augen öffnet über den einzigen Lebensweg, der uns gemäß ist.

Der deutsche Sturmwind hat auch in die Schulräume geblasen. Das
Schlagwort von der deutschen Schule tönt durch die Welt. Wie es bei solchen
singenden Worten ist, versteht fast jeder anderes darunter als der Nächste.
Dem einen bedeutet es die Einheitsschule mit staatlicher Regelung jedes
Bildungsganges durch den zur Schätzung der Geisteskräfte berufenen Lehr-
eamten. dem anderen dient es zum Schlachtruf gegen das humanistische


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[0150] [Abbildung] Deutschkunde oder Germanistik? Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von Sanctus amor patriae 6at snimum Freiherr vom Stein ^s gard in unserem Schulwesen heute mehr als je. Der Krieg hat auch hier nichts Neues geschaffen, aber Altes entbunden und sich als der Treiber erwiesen, der den langsamen Trott nicht mag, der Hemmungen aus dem Wege räumt, die bisher dem Vorwärtsstreben Widerstand leisteten. Man wird diese Tatsache hinnehmen müssen, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was von Schwarmgeistern gepredigt wird. Dem Ge¬ sunden zum Leben zu verhelfen, wird die Aufgabe derer sein, die sich den Kopf nicht umnebeln lassen. Zu den Dingen, an deren Fortschreiten man seine helle Freude haben kann, gehört das Deutschbewußtsein. Wir haben hinausgeschaut über die Grenzen des Vaterlandes und haben entdeckt, daß jene Völker, vor denen wir — seien wir offen — bis vor kurzem noch eine Mischung von Scheu und Be¬ wunderung empfunden haben, ganz anders sind, als wir uns vorstellten; so ganz anders vor allem als wir selbst sind, nicht graduell uns über, sondern andersartig, nach Denkweise, Idealen, sittlichen Anschauungen; und daß es also gar keinen Sinn hatte, sie als Vorbilder für uns aufzustellen. Weil wir nun selbst auf einmal zeigen mußten, was in und an uns ist. standen wir plötzlich vor neuen Erkenntnissen über unser eigenes Wesen; der Vergleich mit dem nahegerückten Gegner hob nur stärker den Gegensatz hervor. So erleben !°ir ein neues Bewußtwerden deutscher Art. Seine Folgen in Leben und Schaffen, in Handel und Wandel, in Politik und Wirtschaft sind noch nicht Zu ermessen. Aber wir, die wir Deutsche sind, müssen dieses Erwachen begrüßen, ^eil es uns die Augen öffnet über den einzigen Lebensweg, der uns gemäß ist. Der deutsche Sturmwind hat auch in die Schulräume geblasen. Das Schlagwort von der deutschen Schule tönt durch die Welt. Wie es bei solchen singenden Worten ist, versteht fast jeder anderes darunter als der Nächste. Dem einen bedeutet es die Einheitsschule mit staatlicher Regelung jedes Bildungsganges durch den zur Schätzung der Geisteskräfte berufenen Lehr- eamten. dem anderen dient es zum Schlachtruf gegen das humanistische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/150>, abgerufen am 13.01.2025.