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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Die baltische Frage und die russische Revolution

der obersten Heeresleitung sind und nicht dem Vorschlagsrecht der öffentlichen
Meinung unterliegen.

Aber selbst wenn wir diese militärischen Möglichkeiten außer acht lassen:
auch das Programm der zu immer größerer Macht gelangenden sozialrevolntiouären
Kreise des russischen Volkes ist den Aussichten einer solchen Annexion nicht
durchaus zuwider. Denn es scheint, als sei dort ausdrücklich die Konsolidierung
des eigentlichen Rußlands unter Loslösung und etwaiger Verselbständigung oder
loser Angliederung angestrebt worden. Von diesen Ideen lassen sich Brücken
zu unseren Plänen schlagen. Ein solches Programm bietet Punkte genug, an
denen unsere Diplomatie mit Erfolg ansetzen könnte. Denn das in erster Linie
wird ihre Aufgabe jetzt sein: die durch- unsere Interessen gebotenen Kriegsziele
so zu formulieren und zu vertreten, daß sie den neuen Machthabern Rußlands,
die die gegenwärtige Kriegskapitalistenregierung ablösen werden, so schmackhaft
wie möglich erscheinen und ihren Grundsätzen nach Möglichkeit angenähert werden.
Auf diese Mechode sind nicht zum mindesten die Erfolge der englischen Staats-
kunst zurückzuführen. Und unsere Staatsmänner haben gerade hier noch viel
zu lernen. Es ist in Deutschland viel zu wenig bekannt, daß das russische
Volk den fremdstämmigen Westen gar nicht als zu seinem engeren Vaterland
gehörig empfindet. Ein Verzicht auf dieses Land womöglich gegen wirtschaft-
liche und politische Kompensationen irgendwelcher Art bedeutet daher sür das
nationalrussische Ehrgefühl keineswegs' die Demütigung, die man darin zu sehen
geneigt ist. Und vollends bieten die englischen Annexionspläne Handhaben
genug, um Rußland auf dem Wege der Verständigung mit dem Verzicht
auszusöhnen.

So kommt also, soweit man heute die Lage überblicken kann, positiv
ebensogut wie negativ die russische Revolution den Aussichten auf einen Erwerb
des ganzen baltischen Landes entgegen. Und es wird immer klarer, daß die
Entscheidung bei uns selbst zu suchen ist. Die Kriegszielerörterungen sind
länger, als es ein großer Teil unseres Volkes verstehen konnte, durch den
Willen der Negierung unterbunden worden. So mußte vieles unterbleiben,
was zur Klärung der großen politischen Zuknnftsfragen im Bewußtsein unseres
Volkes durch zielbewußte Aufklärung hätte geschehen können. Allzu sorgsam
hat man die Grenzen des Möglichen erwogen. Wo ein Wille ist. da ist auch
ein Weg. Das, vergaß man allzu sehr. Nun eröffnen sich über Erwarten die
Wege, und der resignierte Wille unseres Volkes ist der Lage nicht voll ge¬
wachsen. Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als hätten wir zwischen
England und Rußland zu wählen. Durch den verschärften Tauchboolkrieg
gegen England und die Westmächte schienen wir uns für Nachgiebigkeit gegen¬
über Rußland entschieden zu haben. Das bedeutete eine bedenkliche Verkehrung
der Lage für alle die. die auf die Dauer in Rußland die gewaltigste Gefahr
für Mitteleuropa sehen, so wenig sie die Zähigkeit und augenblickliche Bedroh-
lichkeit des englischen Kriegswillens verkennen. Das Glück der Stunde scheint


Die baltische Frage und die russische Revolution

der obersten Heeresleitung sind und nicht dem Vorschlagsrecht der öffentlichen
Meinung unterliegen.

Aber selbst wenn wir diese militärischen Möglichkeiten außer acht lassen:
auch das Programm der zu immer größerer Macht gelangenden sozialrevolntiouären
Kreise des russischen Volkes ist den Aussichten einer solchen Annexion nicht
durchaus zuwider. Denn es scheint, als sei dort ausdrücklich die Konsolidierung
des eigentlichen Rußlands unter Loslösung und etwaiger Verselbständigung oder
loser Angliederung angestrebt worden. Von diesen Ideen lassen sich Brücken
zu unseren Plänen schlagen. Ein solches Programm bietet Punkte genug, an
denen unsere Diplomatie mit Erfolg ansetzen könnte. Denn das in erster Linie
wird ihre Aufgabe jetzt sein: die durch- unsere Interessen gebotenen Kriegsziele
so zu formulieren und zu vertreten, daß sie den neuen Machthabern Rußlands,
die die gegenwärtige Kriegskapitalistenregierung ablösen werden, so schmackhaft
wie möglich erscheinen und ihren Grundsätzen nach Möglichkeit angenähert werden.
Auf diese Mechode sind nicht zum mindesten die Erfolge der englischen Staats-
kunst zurückzuführen. Und unsere Staatsmänner haben gerade hier noch viel
zu lernen. Es ist in Deutschland viel zu wenig bekannt, daß das russische
Volk den fremdstämmigen Westen gar nicht als zu seinem engeren Vaterland
gehörig empfindet. Ein Verzicht auf dieses Land womöglich gegen wirtschaft-
liche und politische Kompensationen irgendwelcher Art bedeutet daher sür das
nationalrussische Ehrgefühl keineswegs' die Demütigung, die man darin zu sehen
geneigt ist. Und vollends bieten die englischen Annexionspläne Handhaben
genug, um Rußland auf dem Wege der Verständigung mit dem Verzicht
auszusöhnen.

So kommt also, soweit man heute die Lage überblicken kann, positiv
ebensogut wie negativ die russische Revolution den Aussichten auf einen Erwerb
des ganzen baltischen Landes entgegen. Und es wird immer klarer, daß die
Entscheidung bei uns selbst zu suchen ist. Die Kriegszielerörterungen sind
länger, als es ein großer Teil unseres Volkes verstehen konnte, durch den
Willen der Negierung unterbunden worden. So mußte vieles unterbleiben,
was zur Klärung der großen politischen Zuknnftsfragen im Bewußtsein unseres
Volkes durch zielbewußte Aufklärung hätte geschehen können. Allzu sorgsam
hat man die Grenzen des Möglichen erwogen. Wo ein Wille ist. da ist auch
ein Weg. Das, vergaß man allzu sehr. Nun eröffnen sich über Erwarten die
Wege, und der resignierte Wille unseres Volkes ist der Lage nicht voll ge¬
wachsen. Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als hätten wir zwischen
England und Rußland zu wählen. Durch den verschärften Tauchboolkrieg
gegen England und die Westmächte schienen wir uns für Nachgiebigkeit gegen¬
über Rußland entschieden zu haben. Das bedeutete eine bedenkliche Verkehrung
der Lage für alle die. die auf die Dauer in Rußland die gewaltigste Gefahr
für Mitteleuropa sehen, so wenig sie die Zähigkeit und augenblickliche Bedroh-
lichkeit des englischen Kriegswillens verkennen. Das Glück der Stunde scheint


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[0148] Die baltische Frage und die russische Revolution der obersten Heeresleitung sind und nicht dem Vorschlagsrecht der öffentlichen Meinung unterliegen. Aber selbst wenn wir diese militärischen Möglichkeiten außer acht lassen: auch das Programm der zu immer größerer Macht gelangenden sozialrevolntiouären Kreise des russischen Volkes ist den Aussichten einer solchen Annexion nicht durchaus zuwider. Denn es scheint, als sei dort ausdrücklich die Konsolidierung des eigentlichen Rußlands unter Loslösung und etwaiger Verselbständigung oder loser Angliederung angestrebt worden. Von diesen Ideen lassen sich Brücken zu unseren Plänen schlagen. Ein solches Programm bietet Punkte genug, an denen unsere Diplomatie mit Erfolg ansetzen könnte. Denn das in erster Linie wird ihre Aufgabe jetzt sein: die durch- unsere Interessen gebotenen Kriegsziele so zu formulieren und zu vertreten, daß sie den neuen Machthabern Rußlands, die die gegenwärtige Kriegskapitalistenregierung ablösen werden, so schmackhaft wie möglich erscheinen und ihren Grundsätzen nach Möglichkeit angenähert werden. Auf diese Mechode sind nicht zum mindesten die Erfolge der englischen Staats- kunst zurückzuführen. Und unsere Staatsmänner haben gerade hier noch viel zu lernen. Es ist in Deutschland viel zu wenig bekannt, daß das russische Volk den fremdstämmigen Westen gar nicht als zu seinem engeren Vaterland gehörig empfindet. Ein Verzicht auf dieses Land womöglich gegen wirtschaft- liche und politische Kompensationen irgendwelcher Art bedeutet daher sür das nationalrussische Ehrgefühl keineswegs' die Demütigung, die man darin zu sehen geneigt ist. Und vollends bieten die englischen Annexionspläne Handhaben genug, um Rußland auf dem Wege der Verständigung mit dem Verzicht auszusöhnen. So kommt also, soweit man heute die Lage überblicken kann, positiv ebensogut wie negativ die russische Revolution den Aussichten auf einen Erwerb des ganzen baltischen Landes entgegen. Und es wird immer klarer, daß die Entscheidung bei uns selbst zu suchen ist. Die Kriegszielerörterungen sind länger, als es ein großer Teil unseres Volkes verstehen konnte, durch den Willen der Negierung unterbunden worden. So mußte vieles unterbleiben, was zur Klärung der großen politischen Zuknnftsfragen im Bewußtsein unseres Volkes durch zielbewußte Aufklärung hätte geschehen können. Allzu sorgsam hat man die Grenzen des Möglichen erwogen. Wo ein Wille ist. da ist auch ein Weg. Das, vergaß man allzu sehr. Nun eröffnen sich über Erwarten die Wege, und der resignierte Wille unseres Volkes ist der Lage nicht voll ge¬ wachsen. Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als hätten wir zwischen England und Rußland zu wählen. Durch den verschärften Tauchboolkrieg gegen England und die Westmächte schienen wir uns für Nachgiebigkeit gegen¬ über Rußland entschieden zu haben. Das bedeutete eine bedenkliche Verkehrung der Lage für alle die. die auf die Dauer in Rußland die gewaltigste Gefahr für Mitteleuropa sehen, so wenig sie die Zähigkeit und augenblickliche Bedroh- lichkeit des englischen Kriegswillens verkennen. Das Glück der Stunde scheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/148>, abgerufen am 12.01.2025.