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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage

Gerade deren volkstümliche Grundlagen nun bringt der fünfte Band
"Märchen und Sagen", den Dr. August Löwis of Menar soeben herausgibt.
Hier wird es deutlich, welch enge Beziehungen bei aller sozialen Trennung die
aristokratische deutsche Oberschicht mit den eingeborenen Letten und Ehlen ver¬
binde". Aus deren Sprache ist ein großer Teil dieser reizvollen Proben volks¬
tümlicher Überlieferung übertragen, aber auch in den aus deutscher Tradition
stammenden Stücken ist die innige Verwachsenheit des Siedlertums mit Land¬
schaft und Urbewohnern vor allem in jenen Sagen bemerkbar, die sich an
bestimmte Örtlichkeiten knüpfen. Die Vignetten des in München lebenden
baltischen Künstlers Rolf v. Hoerschelmann sind dem Buche ein anmutiger Schmuck.

Eine dritte Gruppe von Schriften, die hier bloß durch eine Arbeit ver-
treten ist. ist nicht sowohl auf Vergangenheit und Gegenwart als vielmehr auf
die Zukunft des baltischen Landes gerichtet. Es ist begreiflich, daß hier die
Ausbeute viel spärlicher ausfällt. Denn bis vor kurzem verbot die Zensur es
s" gut wie ganz, solche mit den Kriegszielen sich eng berührende Fragen über¬
haupt in der Öffentlichkeit zu erörtern. Auch die Flugschrift "Das neue Ost¬
land" des kurischen Gutsbesitzers und derzeitigen deutschen Kreishauptmannes
Silvio Brödrich-Kurmahlen ist zunächst als private Denkschrift herausgegeben
worden, ehe sie im Ostlandverlag sich 1916 an die Öffentlichkeit wandte und
dort rasch eine erfreuliche Auflagenhöhe erreichte. Silvio und sein Bruder
Robert Vrödrich sind es. an deren Namen sich ein ungemein großzügiger Plan
der letzten Jahre knüpft. In der richtigen Erkenntnis, daß das Deutschbaltentum
ohne Mittel- und Unterschicht im Lande auf die Dauer zur Verkümmerung
verurteilt sei, suchten diese und einige andere weitblickende Gutsbesitzer einen
deutschen Bauernstand ins Land zu ziehen, indem sie deutsche Kolonisten aus
dem inneren Rußland in Kurland ansiedelten. Zugleich bedeutete dies eine
Gegenmaßnahme gegen die im Zusammenhang der russischen Agrarreform ge¬
plante Ansiedlung großrussischer Bauern in den baltischen Provinzen, durch
die die Russifizierung aufs neue einen gewaltigen Schritt vorwärts geführt
werden sollte. Aus seiner eigenen Ansiedlerpraxis heraus entwirft Brödrich
hier den Plan einer Besiedelung des eroberten Ostlandcs durch deutsche Bauern,
namentlich auch durch Krieger. Es ist überaus dankenswert, daß hier von so
kundiger Seite auf die gewaltige Gefahr hingezeigt wird, die Europa durch
diese Annäherung der slawischen Welle droht. Zugleich sind wenige wie er in
der Lage, die künftige Bedeutung von Litauen und den baltischen Provinzen
si'r deutsche Siedlungen abzuschätzen und auch nach der wirtschaftlichen Seite
Zu veranschaulichen. Deswegen sei der ganz billigen, aber ungemein gehalt¬
vollen und wichtigen Schrift eine recht weite Verbreitung gewünscht.

Mit ihr sei dieser Bericht geschlossen, der nicht alle, immerhin aber die
weisem bedeutenderen Veröffentlichungen des letzten Jahres zur baltischen Frage
aufführt. Die Kritik darf sich dabei einigermaßen bescheiden. Zumeist sind
es Kinder des Landes selber, die sich aus persönlichem Vertrautsein mit den


Zur baltischen Frage

Gerade deren volkstümliche Grundlagen nun bringt der fünfte Band
„Märchen und Sagen", den Dr. August Löwis of Menar soeben herausgibt.
Hier wird es deutlich, welch enge Beziehungen bei aller sozialen Trennung die
aristokratische deutsche Oberschicht mit den eingeborenen Letten und Ehlen ver¬
binde«. Aus deren Sprache ist ein großer Teil dieser reizvollen Proben volks¬
tümlicher Überlieferung übertragen, aber auch in den aus deutscher Tradition
stammenden Stücken ist die innige Verwachsenheit des Siedlertums mit Land¬
schaft und Urbewohnern vor allem in jenen Sagen bemerkbar, die sich an
bestimmte Örtlichkeiten knüpfen. Die Vignetten des in München lebenden
baltischen Künstlers Rolf v. Hoerschelmann sind dem Buche ein anmutiger Schmuck.

Eine dritte Gruppe von Schriften, die hier bloß durch eine Arbeit ver-
treten ist. ist nicht sowohl auf Vergangenheit und Gegenwart als vielmehr auf
die Zukunft des baltischen Landes gerichtet. Es ist begreiflich, daß hier die
Ausbeute viel spärlicher ausfällt. Denn bis vor kurzem verbot die Zensur es
s» gut wie ganz, solche mit den Kriegszielen sich eng berührende Fragen über¬
haupt in der Öffentlichkeit zu erörtern. Auch die Flugschrift „Das neue Ost¬
land" des kurischen Gutsbesitzers und derzeitigen deutschen Kreishauptmannes
Silvio Brödrich-Kurmahlen ist zunächst als private Denkschrift herausgegeben
worden, ehe sie im Ostlandverlag sich 1916 an die Öffentlichkeit wandte und
dort rasch eine erfreuliche Auflagenhöhe erreichte. Silvio und sein Bruder
Robert Vrödrich sind es. an deren Namen sich ein ungemein großzügiger Plan
der letzten Jahre knüpft. In der richtigen Erkenntnis, daß das Deutschbaltentum
ohne Mittel- und Unterschicht im Lande auf die Dauer zur Verkümmerung
verurteilt sei, suchten diese und einige andere weitblickende Gutsbesitzer einen
deutschen Bauernstand ins Land zu ziehen, indem sie deutsche Kolonisten aus
dem inneren Rußland in Kurland ansiedelten. Zugleich bedeutete dies eine
Gegenmaßnahme gegen die im Zusammenhang der russischen Agrarreform ge¬
plante Ansiedlung großrussischer Bauern in den baltischen Provinzen, durch
die die Russifizierung aufs neue einen gewaltigen Schritt vorwärts geführt
werden sollte. Aus seiner eigenen Ansiedlerpraxis heraus entwirft Brödrich
hier den Plan einer Besiedelung des eroberten Ostlandcs durch deutsche Bauern,
namentlich auch durch Krieger. Es ist überaus dankenswert, daß hier von so
kundiger Seite auf die gewaltige Gefahr hingezeigt wird, die Europa durch
diese Annäherung der slawischen Welle droht. Zugleich sind wenige wie er in
der Lage, die künftige Bedeutung von Litauen und den baltischen Provinzen
si'r deutsche Siedlungen abzuschätzen und auch nach der wirtschaftlichen Seite
Zu veranschaulichen. Deswegen sei der ganz billigen, aber ungemein gehalt¬
vollen und wichtigen Schrift eine recht weite Verbreitung gewünscht.

Mit ihr sei dieser Bericht geschlossen, der nicht alle, immerhin aber die
weisem bedeutenderen Veröffentlichungen des letzten Jahres zur baltischen Frage
aufführt. Die Kritik darf sich dabei einigermaßen bescheiden. Zumeist sind
es Kinder des Landes selber, die sich aus persönlichem Vertrautsein mit den


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[0108] Zur baltischen Frage Gerade deren volkstümliche Grundlagen nun bringt der fünfte Band „Märchen und Sagen", den Dr. August Löwis of Menar soeben herausgibt. Hier wird es deutlich, welch enge Beziehungen bei aller sozialen Trennung die aristokratische deutsche Oberschicht mit den eingeborenen Letten und Ehlen ver¬ binde«. Aus deren Sprache ist ein großer Teil dieser reizvollen Proben volks¬ tümlicher Überlieferung übertragen, aber auch in den aus deutscher Tradition stammenden Stücken ist die innige Verwachsenheit des Siedlertums mit Land¬ schaft und Urbewohnern vor allem in jenen Sagen bemerkbar, die sich an bestimmte Örtlichkeiten knüpfen. Die Vignetten des in München lebenden baltischen Künstlers Rolf v. Hoerschelmann sind dem Buche ein anmutiger Schmuck. Eine dritte Gruppe von Schriften, die hier bloß durch eine Arbeit ver- treten ist. ist nicht sowohl auf Vergangenheit und Gegenwart als vielmehr auf die Zukunft des baltischen Landes gerichtet. Es ist begreiflich, daß hier die Ausbeute viel spärlicher ausfällt. Denn bis vor kurzem verbot die Zensur es s» gut wie ganz, solche mit den Kriegszielen sich eng berührende Fragen über¬ haupt in der Öffentlichkeit zu erörtern. Auch die Flugschrift „Das neue Ost¬ land" des kurischen Gutsbesitzers und derzeitigen deutschen Kreishauptmannes Silvio Brödrich-Kurmahlen ist zunächst als private Denkschrift herausgegeben worden, ehe sie im Ostlandverlag sich 1916 an die Öffentlichkeit wandte und dort rasch eine erfreuliche Auflagenhöhe erreichte. Silvio und sein Bruder Robert Vrödrich sind es. an deren Namen sich ein ungemein großzügiger Plan der letzten Jahre knüpft. In der richtigen Erkenntnis, daß das Deutschbaltentum ohne Mittel- und Unterschicht im Lande auf die Dauer zur Verkümmerung verurteilt sei, suchten diese und einige andere weitblickende Gutsbesitzer einen deutschen Bauernstand ins Land zu ziehen, indem sie deutsche Kolonisten aus dem inneren Rußland in Kurland ansiedelten. Zugleich bedeutete dies eine Gegenmaßnahme gegen die im Zusammenhang der russischen Agrarreform ge¬ plante Ansiedlung großrussischer Bauern in den baltischen Provinzen, durch die die Russifizierung aufs neue einen gewaltigen Schritt vorwärts geführt werden sollte. Aus seiner eigenen Ansiedlerpraxis heraus entwirft Brödrich hier den Plan einer Besiedelung des eroberten Ostlandcs durch deutsche Bauern, namentlich auch durch Krieger. Es ist überaus dankenswert, daß hier von so kundiger Seite auf die gewaltige Gefahr hingezeigt wird, die Europa durch diese Annäherung der slawischen Welle droht. Zugleich sind wenige wie er in der Lage, die künftige Bedeutung von Litauen und den baltischen Provinzen si'r deutsche Siedlungen abzuschätzen und auch nach der wirtschaftlichen Seite Zu veranschaulichen. Deswegen sei der ganz billigen, aber ungemein gehalt¬ vollen und wichtigen Schrift eine recht weite Verbreitung gewünscht. Mit ihr sei dieser Bericht geschlossen, der nicht alle, immerhin aber die weisem bedeutenderen Veröffentlichungen des letzten Jahres zur baltischen Frage aufführt. Die Kritik darf sich dabei einigermaßen bescheiden. Zumeist sind es Kinder des Landes selber, die sich aus persönlichem Vertrautsein mit den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/108>, abgerufen am 09.01.2025.