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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Sie altdeutsche Malerei als Rulturproblem

stürmischem Ergreifen vorweggenommen, Rückständiges steht unvermittelt, oft auf
derselben Tafel neben Fortschrittlichem, fremdländische Einflüsse schieben ihre
Wellenkreise auf schwer zu scheidende Weise durcheinander und scheinen stellenweise
das Bodenständige völlig zu verdrängen, und der lebhafte Wandertrieb eines
unausgereiften Volkes trägt Verschiedenartigstes zusammen, Unverarbeitetes neben
Formelhaftem, Unverstandenes neben Eigenwilligem, Angelerntes neben Triebhaften.
Und keine Chronik hilft das Chaos klären, die Hände scheiden, die anders wie
in Italien, wo die stilistische Disziplin auch im größten Atelier noch zu spüren
ist, oft unvermittelt nebeneinander arbeiten. Der einzige Wohlgemut ist noch
heute ein nicht völlig geklärtes Problem, vom jungen Dürer zu schweigen.
Aus alledem ergibt sich ein überaus mühsames Arbeiten, die Notwendigkeit
ständiger Selbstkontrolle, vorsichtigen Tastens. großer Klarheit der Auffassungs-,
sicherer Beherrschung der Darstellungsgabe.

Dennoch -- die Aufgabe wird irgendwie gelöst werden müssen, denn das
Problem der altdeutschen Kunst ist ein Zeitproblem, seine Darstellung mußte sich zu
einer Darstellung des deutschen Geistes auswachsen. Gewiß sind die Deutschen des
20. Jahrhunderts nicht mehr die gleichen wie die des 15., aber die künstlerischen
Tendenzen, die Schwächen und Stärken sind fast ganz die gleichen geblieben
und es gibt kein Volk in Europa, das sich auf künstlerischem Gebiete im Kern
seines Wesens seit dem 15. Jahrhundert so gleich geblieben ist wie das deutsche.
Und gerade weil wir das Bedürfnis haben, zur Klarheit über uns selbst zu
kommen, im 15. Jahrhundert uns aber wie in einem Spiegel sehen können,
deshalb wird das Problem von allen Seiten so eifrig angepackt. Es handelt
sich nicht um einen Wettbewerb der Kunsthistoriker, die Bewegung ist noch auf
einer ganzen Reihe von andern Gebieten zu belegen. So verlangt die Pädagogik
immer dringender die Abkehr von der Renaissancebildung, die Germanistik ist
gegenüber der alten Philologie zu einem mindestens gleichberechtigten Kultur¬
faktor geworden, in der Kunst macht sich ein verändertes Leben bemerkbar, ein
ungestüm Elementares, das zur Form strebt aber das Brennende der Intuition
nicht lassen will, nach allen Fernen, nach allen Sternen greift und doch sein
Ich höher fühlt, Rasenstück und Apokalypse, das Kaninchen und den reitenden
Tod nebeneinander sieht, in den Dingen neue Gesetze spürt und das Kunstwerk
auf neue Art organisieren will.

Solches Nebeneinander deutet einen Zeitwillen an, dem sich schulmeisternde
Bedenklichkeit vergeblich in den Weg stellen wird. Es ist ganz klar, daß mit
dem Neuen vieles von dem bewährten Alten aufgegeben wird, aber in welcher
Entwicklung ist das nicht der Fall? Deutschland ringt um sein eigenes Wesen.
Ein guter Teil dessen, was man auf dem Gebiet der Malerei Expressionismus
genannt hat, was aber in allen Künsten, ja sogar in der wissenschaftlichen
Methode und in der Philosophie deutlich wahrnehmbar ist, ist der Ausdruck
dieses Ringens. Denn der Expresstonismus ist nicht, wie verärgerte Spießer
glauben, eine ausländische Erfindung, sondern eine internationale Erscheinung


Sie altdeutsche Malerei als Rulturproblem

stürmischem Ergreifen vorweggenommen, Rückständiges steht unvermittelt, oft auf
derselben Tafel neben Fortschrittlichem, fremdländische Einflüsse schieben ihre
Wellenkreise auf schwer zu scheidende Weise durcheinander und scheinen stellenweise
das Bodenständige völlig zu verdrängen, und der lebhafte Wandertrieb eines
unausgereiften Volkes trägt Verschiedenartigstes zusammen, Unverarbeitetes neben
Formelhaftem, Unverstandenes neben Eigenwilligem, Angelerntes neben Triebhaften.
Und keine Chronik hilft das Chaos klären, die Hände scheiden, die anders wie
in Italien, wo die stilistische Disziplin auch im größten Atelier noch zu spüren
ist, oft unvermittelt nebeneinander arbeiten. Der einzige Wohlgemut ist noch
heute ein nicht völlig geklärtes Problem, vom jungen Dürer zu schweigen.
Aus alledem ergibt sich ein überaus mühsames Arbeiten, die Notwendigkeit
ständiger Selbstkontrolle, vorsichtigen Tastens. großer Klarheit der Auffassungs-,
sicherer Beherrschung der Darstellungsgabe.

Dennoch — die Aufgabe wird irgendwie gelöst werden müssen, denn das
Problem der altdeutschen Kunst ist ein Zeitproblem, seine Darstellung mußte sich zu
einer Darstellung des deutschen Geistes auswachsen. Gewiß sind die Deutschen des
20. Jahrhunderts nicht mehr die gleichen wie die des 15., aber die künstlerischen
Tendenzen, die Schwächen und Stärken sind fast ganz die gleichen geblieben
und es gibt kein Volk in Europa, das sich auf künstlerischem Gebiete im Kern
seines Wesens seit dem 15. Jahrhundert so gleich geblieben ist wie das deutsche.
Und gerade weil wir das Bedürfnis haben, zur Klarheit über uns selbst zu
kommen, im 15. Jahrhundert uns aber wie in einem Spiegel sehen können,
deshalb wird das Problem von allen Seiten so eifrig angepackt. Es handelt
sich nicht um einen Wettbewerb der Kunsthistoriker, die Bewegung ist noch auf
einer ganzen Reihe von andern Gebieten zu belegen. So verlangt die Pädagogik
immer dringender die Abkehr von der Renaissancebildung, die Germanistik ist
gegenüber der alten Philologie zu einem mindestens gleichberechtigten Kultur¬
faktor geworden, in der Kunst macht sich ein verändertes Leben bemerkbar, ein
ungestüm Elementares, das zur Form strebt aber das Brennende der Intuition
nicht lassen will, nach allen Fernen, nach allen Sternen greift und doch sein
Ich höher fühlt, Rasenstück und Apokalypse, das Kaninchen und den reitenden
Tod nebeneinander sieht, in den Dingen neue Gesetze spürt und das Kunstwerk
auf neue Art organisieren will.

Solches Nebeneinander deutet einen Zeitwillen an, dem sich schulmeisternde
Bedenklichkeit vergeblich in den Weg stellen wird. Es ist ganz klar, daß mit
dem Neuen vieles von dem bewährten Alten aufgegeben wird, aber in welcher
Entwicklung ist das nicht der Fall? Deutschland ringt um sein eigenes Wesen.
Ein guter Teil dessen, was man auf dem Gebiet der Malerei Expressionismus
genannt hat, was aber in allen Künsten, ja sogar in der wissenschaftlichen
Methode und in der Philosophie deutlich wahrnehmbar ist, ist der Ausdruck
dieses Ringens. Denn der Expresstonismus ist nicht, wie verärgerte Spießer
glauben, eine ausländische Erfindung, sondern eine internationale Erscheinung


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[0361] Sie altdeutsche Malerei als Rulturproblem stürmischem Ergreifen vorweggenommen, Rückständiges steht unvermittelt, oft auf derselben Tafel neben Fortschrittlichem, fremdländische Einflüsse schieben ihre Wellenkreise auf schwer zu scheidende Weise durcheinander und scheinen stellenweise das Bodenständige völlig zu verdrängen, und der lebhafte Wandertrieb eines unausgereiften Volkes trägt Verschiedenartigstes zusammen, Unverarbeitetes neben Formelhaftem, Unverstandenes neben Eigenwilligem, Angelerntes neben Triebhaften. Und keine Chronik hilft das Chaos klären, die Hände scheiden, die anders wie in Italien, wo die stilistische Disziplin auch im größten Atelier noch zu spüren ist, oft unvermittelt nebeneinander arbeiten. Der einzige Wohlgemut ist noch heute ein nicht völlig geklärtes Problem, vom jungen Dürer zu schweigen. Aus alledem ergibt sich ein überaus mühsames Arbeiten, die Notwendigkeit ständiger Selbstkontrolle, vorsichtigen Tastens. großer Klarheit der Auffassungs-, sicherer Beherrschung der Darstellungsgabe. Dennoch — die Aufgabe wird irgendwie gelöst werden müssen, denn das Problem der altdeutschen Kunst ist ein Zeitproblem, seine Darstellung mußte sich zu einer Darstellung des deutschen Geistes auswachsen. Gewiß sind die Deutschen des 20. Jahrhunderts nicht mehr die gleichen wie die des 15., aber die künstlerischen Tendenzen, die Schwächen und Stärken sind fast ganz die gleichen geblieben und es gibt kein Volk in Europa, das sich auf künstlerischem Gebiete im Kern seines Wesens seit dem 15. Jahrhundert so gleich geblieben ist wie das deutsche. Und gerade weil wir das Bedürfnis haben, zur Klarheit über uns selbst zu kommen, im 15. Jahrhundert uns aber wie in einem Spiegel sehen können, deshalb wird das Problem von allen Seiten so eifrig angepackt. Es handelt sich nicht um einen Wettbewerb der Kunsthistoriker, die Bewegung ist noch auf einer ganzen Reihe von andern Gebieten zu belegen. So verlangt die Pädagogik immer dringender die Abkehr von der Renaissancebildung, die Germanistik ist gegenüber der alten Philologie zu einem mindestens gleichberechtigten Kultur¬ faktor geworden, in der Kunst macht sich ein verändertes Leben bemerkbar, ein ungestüm Elementares, das zur Form strebt aber das Brennende der Intuition nicht lassen will, nach allen Fernen, nach allen Sternen greift und doch sein Ich höher fühlt, Rasenstück und Apokalypse, das Kaninchen und den reitenden Tod nebeneinander sieht, in den Dingen neue Gesetze spürt und das Kunstwerk auf neue Art organisieren will. Solches Nebeneinander deutet einen Zeitwillen an, dem sich schulmeisternde Bedenklichkeit vergeblich in den Weg stellen wird. Es ist ganz klar, daß mit dem Neuen vieles von dem bewährten Alten aufgegeben wird, aber in welcher Entwicklung ist das nicht der Fall? Deutschland ringt um sein eigenes Wesen. Ein guter Teil dessen, was man auf dem Gebiet der Malerei Expressionismus genannt hat, was aber in allen Künsten, ja sogar in der wissenschaftlichen Methode und in der Philosophie deutlich wahrnehmbar ist, ist der Ausdruck dieses Ringens. Denn der Expresstonismus ist nicht, wie verärgerte Spießer glauben, eine ausländische Erfindung, sondern eine internationale Erscheinung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/361>, abgerufen am 23.07.2024.