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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit

das "Nützliche, Weltübliche und Schöne" gerichteten Wissenschaften durch die
Art seines Vortrages und seine Lehrmethode zu adeln und zu verfeinern. In
seiner Antrittsrede: "Wiefern auch in der Schule die Grazie herrschen müsse"
entwirft er sein Idealbild eines Lehrers, dessen "Grazie" in reinem Herzen,
in der Sittlichkeit und edlem Anstand zu finden sei. Den Wert dieser realen
Wissenschaften mit ihrer Anwendungsfähigkeit auf das praktische Leben hat
Herder aber hier in Riga besonders anschaulich kennen gelernt, und mehrfach
hat er gerade in seiner Rigaer Zeit gegen die unbeschränkte Herrschaft der
lateinischen Sprache in den Schulen sich ausgesprochen, vor allem wegen der
Benachteiligung der deutschen Sprache und des deutschen Stils und im Interesse
der Entwicklung unserer deutschen Literatur.

Daß Herders Art dem Geist seiner Mitbürger wohl entsprochen haben muß,
beweisen seine Beliebtheit und seine Erfolge als Lehrer. Sie verschafften ihm
auch einen Ruf als Inspektor an eine von der lutherischen Gemeinde in Peters¬
burg gegründete Unterrichts- und Erziehungsanstalt. Um ihn zu halten, schuf
der Rat von Riga eigens für ihn eine außerordentliche Predigerstelle an den
beiden vorstädtischen Kirchen, der Jesus- und der Gertrudenkirche. So übernahm
Herder neben seinem Lehr- auch noch ein Predigeramt. Und ein ähnliches Ideal
wie in der Schulstube suchte er jetzt von der Kanzel mit Glück als Prediger zu
verwirklichen. Seine einfache, anmutige Sprache, in der er "mit Geist, Herz
und wahrer Religiosität" "zur Ausübung jeder menschlichen Tugend, zur Liebe
zu Gott und den Menschen, erweckend das Gefühl der Unsterblichkeit", auf¬
munterte, verschaffte ihm bald große Beliebtheit. Nach einem Berichte Wilperts
war die Zahl seiner Zuhörer und Zuhörerinnen immer sehr groß, obgleich seine
Predigten nachmittags und in einer Vorstadt stattfanden. Gerade die aufgeklärte
Menschlichkeit seiner sittlich-religiösen Anschauungen, die ihm seine Zuhörer,
namentlich die Herzen der Jünglinge und der Frauen gewann, verschaffte ihm
aber Gegner unter der orthodox lutherischen Geistlichkeit der Stadt. So lernt
Herder bald auch die Schattenseiten eines so abgeschlossenen und in verhältnis¬
mäßig engen Grenzen sich bewegenden Lebens kennen, wie es in Riga herrschte.
Er muß sich bald über Neid und Feindschaft seiner geistlichen Amtsbruder
beklagen.

Dessenungeachtet nimmt er im geistigen Leben Rigas auch sonst einen ge¬
achteten Platz ein. Er findet Aufnahme in die Rigaer Freimaurerloge, er
arbeitet mit an dem mit Unterstützung des Rates herausgegebenen Wochenblatt
"Rigaische Anzeigen von allerhand dem gemeinen Wesen nöthigen und nützlichen
Sachen", in denen sich neben trivialen Berichten über Haus-, Küchen- und
Wirtschaftsangelegenheiten, Anekdoten und Alltagsereignissen, neben ständigen
Anzeigen über entflohene Leibeigene aus Kurland und Livland philosophische
und ästhetische, sprachwissenschaftliche und sogar theologische Untersuchungen fanden.
Denn mit ihnen hatte der Redakteur, ein aus Leipzig stammender Jurist
Dr. Winkler, die "Gelehrten Beiträge zu den Rigaischen Anzeigen" verbunden,


Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit

das „Nützliche, Weltübliche und Schöne" gerichteten Wissenschaften durch die
Art seines Vortrages und seine Lehrmethode zu adeln und zu verfeinern. In
seiner Antrittsrede: „Wiefern auch in der Schule die Grazie herrschen müsse"
entwirft er sein Idealbild eines Lehrers, dessen „Grazie" in reinem Herzen,
in der Sittlichkeit und edlem Anstand zu finden sei. Den Wert dieser realen
Wissenschaften mit ihrer Anwendungsfähigkeit auf das praktische Leben hat
Herder aber hier in Riga besonders anschaulich kennen gelernt, und mehrfach
hat er gerade in seiner Rigaer Zeit gegen die unbeschränkte Herrschaft der
lateinischen Sprache in den Schulen sich ausgesprochen, vor allem wegen der
Benachteiligung der deutschen Sprache und des deutschen Stils und im Interesse
der Entwicklung unserer deutschen Literatur.

Daß Herders Art dem Geist seiner Mitbürger wohl entsprochen haben muß,
beweisen seine Beliebtheit und seine Erfolge als Lehrer. Sie verschafften ihm
auch einen Ruf als Inspektor an eine von der lutherischen Gemeinde in Peters¬
burg gegründete Unterrichts- und Erziehungsanstalt. Um ihn zu halten, schuf
der Rat von Riga eigens für ihn eine außerordentliche Predigerstelle an den
beiden vorstädtischen Kirchen, der Jesus- und der Gertrudenkirche. So übernahm
Herder neben seinem Lehr- auch noch ein Predigeramt. Und ein ähnliches Ideal
wie in der Schulstube suchte er jetzt von der Kanzel mit Glück als Prediger zu
verwirklichen. Seine einfache, anmutige Sprache, in der er „mit Geist, Herz
und wahrer Religiosität" „zur Ausübung jeder menschlichen Tugend, zur Liebe
zu Gott und den Menschen, erweckend das Gefühl der Unsterblichkeit", auf¬
munterte, verschaffte ihm bald große Beliebtheit. Nach einem Berichte Wilperts
war die Zahl seiner Zuhörer und Zuhörerinnen immer sehr groß, obgleich seine
Predigten nachmittags und in einer Vorstadt stattfanden. Gerade die aufgeklärte
Menschlichkeit seiner sittlich-religiösen Anschauungen, die ihm seine Zuhörer,
namentlich die Herzen der Jünglinge und der Frauen gewann, verschaffte ihm
aber Gegner unter der orthodox lutherischen Geistlichkeit der Stadt. So lernt
Herder bald auch die Schattenseiten eines so abgeschlossenen und in verhältnis¬
mäßig engen Grenzen sich bewegenden Lebens kennen, wie es in Riga herrschte.
Er muß sich bald über Neid und Feindschaft seiner geistlichen Amtsbruder
beklagen.

Dessenungeachtet nimmt er im geistigen Leben Rigas auch sonst einen ge¬
achteten Platz ein. Er findet Aufnahme in die Rigaer Freimaurerloge, er
arbeitet mit an dem mit Unterstützung des Rates herausgegebenen Wochenblatt
„Rigaische Anzeigen von allerhand dem gemeinen Wesen nöthigen und nützlichen
Sachen", in denen sich neben trivialen Berichten über Haus-, Küchen- und
Wirtschaftsangelegenheiten, Anekdoten und Alltagsereignissen, neben ständigen
Anzeigen über entflohene Leibeigene aus Kurland und Livland philosophische
und ästhetische, sprachwissenschaftliche und sogar theologische Untersuchungen fanden.
Denn mit ihnen hatte der Redakteur, ein aus Leipzig stammender Jurist
Dr. Winkler, die „Gelehrten Beiträge zu den Rigaischen Anzeigen" verbunden,


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[0289] Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit das „Nützliche, Weltübliche und Schöne" gerichteten Wissenschaften durch die Art seines Vortrages und seine Lehrmethode zu adeln und zu verfeinern. In seiner Antrittsrede: „Wiefern auch in der Schule die Grazie herrschen müsse" entwirft er sein Idealbild eines Lehrers, dessen „Grazie" in reinem Herzen, in der Sittlichkeit und edlem Anstand zu finden sei. Den Wert dieser realen Wissenschaften mit ihrer Anwendungsfähigkeit auf das praktische Leben hat Herder aber hier in Riga besonders anschaulich kennen gelernt, und mehrfach hat er gerade in seiner Rigaer Zeit gegen die unbeschränkte Herrschaft der lateinischen Sprache in den Schulen sich ausgesprochen, vor allem wegen der Benachteiligung der deutschen Sprache und des deutschen Stils und im Interesse der Entwicklung unserer deutschen Literatur. Daß Herders Art dem Geist seiner Mitbürger wohl entsprochen haben muß, beweisen seine Beliebtheit und seine Erfolge als Lehrer. Sie verschafften ihm auch einen Ruf als Inspektor an eine von der lutherischen Gemeinde in Peters¬ burg gegründete Unterrichts- und Erziehungsanstalt. Um ihn zu halten, schuf der Rat von Riga eigens für ihn eine außerordentliche Predigerstelle an den beiden vorstädtischen Kirchen, der Jesus- und der Gertrudenkirche. So übernahm Herder neben seinem Lehr- auch noch ein Predigeramt. Und ein ähnliches Ideal wie in der Schulstube suchte er jetzt von der Kanzel mit Glück als Prediger zu verwirklichen. Seine einfache, anmutige Sprache, in der er „mit Geist, Herz und wahrer Religiosität" „zur Ausübung jeder menschlichen Tugend, zur Liebe zu Gott und den Menschen, erweckend das Gefühl der Unsterblichkeit", auf¬ munterte, verschaffte ihm bald große Beliebtheit. Nach einem Berichte Wilperts war die Zahl seiner Zuhörer und Zuhörerinnen immer sehr groß, obgleich seine Predigten nachmittags und in einer Vorstadt stattfanden. Gerade die aufgeklärte Menschlichkeit seiner sittlich-religiösen Anschauungen, die ihm seine Zuhörer, namentlich die Herzen der Jünglinge und der Frauen gewann, verschaffte ihm aber Gegner unter der orthodox lutherischen Geistlichkeit der Stadt. So lernt Herder bald auch die Schattenseiten eines so abgeschlossenen und in verhältnis¬ mäßig engen Grenzen sich bewegenden Lebens kennen, wie es in Riga herrschte. Er muß sich bald über Neid und Feindschaft seiner geistlichen Amtsbruder beklagen. Dessenungeachtet nimmt er im geistigen Leben Rigas auch sonst einen ge¬ achteten Platz ein. Er findet Aufnahme in die Rigaer Freimaurerloge, er arbeitet mit an dem mit Unterstützung des Rates herausgegebenen Wochenblatt „Rigaische Anzeigen von allerhand dem gemeinen Wesen nöthigen und nützlichen Sachen", in denen sich neben trivialen Berichten über Haus-, Küchen- und Wirtschaftsangelegenheiten, Anekdoten und Alltagsereignissen, neben ständigen Anzeigen über entflohene Leibeigene aus Kurland und Livland philosophische und ästhetische, sprachwissenschaftliche und sogar theologische Untersuchungen fanden. Denn mit ihnen hatte der Redakteur, ein aus Leipzig stammender Jurist Dr. Winkler, die „Gelehrten Beiträge zu den Rigaischen Anzeigen" verbunden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/289>, abgerufen am 01.07.2024.