Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.Der Polen volkszcchl und Sprachgebiet im russischen Anteil nationalen Entwicklung besonders schwer geschädigt und steht kulturell tiefer als National gefährdet waren bisher im Westgebiet besonders diejenigen Fremd¬ Sind die Polen dort aber vielleicht "das Volk von Besitz" ? Sie versichern Der Polen volkszcchl und Sprachgebiet im russischen Anteil nationalen Entwicklung besonders schwer geschädigt und steht kulturell tiefer als National gefährdet waren bisher im Westgebiet besonders diejenigen Fremd¬ Sind die Polen dort aber vielleicht „das Volk von Besitz" ? Sie versichern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331687"/> <fw type="header" place="top"> Der Polen volkszcchl und Sprachgebiet im russischen Anteil</fw><lb/> <p xml:id="ID_869" prev="#ID_868"> nationalen Entwicklung besonders schwer geschädigt und steht kulturell tiefer als<lb/> Litauer, Polen und Kleinrussen,- daß es kulturfähig ist und unter deutschem<lb/> Einfluß das Versäumte nachholen will, ist die Überzeugung der deutschen Beamten,<lb/> die nach deutscher Art selbstlos für die geistige und wirtschaftliche Hebung auch<lb/> dieses — tatsächlich verelendeten — Volkes wirken; daß es das Objekt polnischer<lb/> Kulturmisston nicht werden will, hat es oft und deutlich genug zu verstehen<lb/> gegeben; seit einem Jahre läßt es in Wilna eine weißrussische Zeitschrift „Homar"<lb/> (Volkswille) erscheinen; diese wirkt für die Wiedergeburt der weißrussischcn<lb/> Sprache, die ehedem die Amtssprache in Großfürstentum Litauen war, aber<lb/> unter polnischem und russischem Druck ihre angesehene Stellung unter den Sprachen<lb/> Europas verloren hatte und verkümmerte.</p><lb/> <p xml:id="ID_870"> National gefährdet waren bisher im Westgebiet besonders diejenigen Fremd¬<lb/> stämmigen, die sich zur römisch-katholischen Kirche bekannten, also fast alle Litauer,<lb/> eine Million Weißrussen und ein unbedeutender Bruchteil der Ukrainer, insoweit,<lb/> und weil ihre Geistlichen Nationalpolen oder polnisch gesinnt waren. Die<lb/> Litauer, denen diese Gefahr zuerst bewußt wurde, haben in zähem Kampfe<lb/> durchgesetzt, daß in Westlitauen die Geistlichen, selbst die Bischöfe heute Litauer<lb/> find und sich im litauischen Sinne betätigen; in Ostlitauen hat der Kampf noch<lb/> nicht zu ihrem Siege geführt; hier und bei den römisch-katholischen Weißrussen<lb/> wird es die Pflicht einer gerechten Verwaltung sein, dafür zu sorgen, daß in<lb/> litauischen und weißrussischen Kirchengemeinden an die Stelle von polnischen<lb/> Pfarrern solche der betreffenden Nationalität treten. Erst dann wird unmöglich<lb/> sein, was in der Vergangenheit oft genug geschah, „daß die Polen, sogar mit<lb/> Gewalt und an geweihter Stätte, jede Regung litauischen Lebens, jeden Gebrauch<lb/> titanischer Sprache und Sitte verhindern" (Gaigalat); erst dann wird der pol¬<lb/> nische Geistliche, der solange Führer und unter Umständen Verführer fremd¬<lb/> stämmiger Katholiken zu Aufständen war, aus dem Westgebiet bis auf eine<lb/> kleine Minderzahl verschwinden und damit der Faktor ausscheiden, mit dessen<lb/> seelsorgerischer und das geistige Leben der Pfarrkinder beeinflussender Tätigkeit<lb/> sich der Scheinanspruch der Polen, dort „das Volk von Bildung" zu sein, noch<lb/> am ehesten begründen ließ. Sie sind es schon heute nicht mehr.</p><lb/> <p xml:id="ID_871" next="#ID_872"> Sind die Polen dort aber vielleicht „das Volk von Besitz" ? Sie versichern<lb/> es und sprechen gern von den enormen Reichtümern an Grundbesitz, über die<lb/> das polnische Element in „Ostpolen" verfüge; viele Deutsche sprechen es ihnen<lb/> nach. Mit Unrecht. Im achtzehnten Jahrhundert waren sie es, denn damals<lb/> gehörte ihnen, d. h. dem polnischen Adel des Königreichs und dem polonisierten<lb/> des Westgebiets, der größte Teil des Grund und Bodens. Das Westgebiet war<lb/> damals das gelobte Land der Latifundien; dort residierten die unermeßlich reichen<lb/> Magnaten, die Altpolen beherrschten und — zerstörten, die Czartoryski, Potocki,<lb/> Radziwill usw. Damals konnte Karl Radziwill, der starke Zecher, der zu seinem<lb/> Besitz über 100 000 besteuerte Rauchfänge zählte und als Parteigänger der<lb/> Konförderation von Bar (1768) jahrelang 7000 Mann Truppen auf eigenen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0279]
Der Polen volkszcchl und Sprachgebiet im russischen Anteil
nationalen Entwicklung besonders schwer geschädigt und steht kulturell tiefer als
Litauer, Polen und Kleinrussen,- daß es kulturfähig ist und unter deutschem
Einfluß das Versäumte nachholen will, ist die Überzeugung der deutschen Beamten,
die nach deutscher Art selbstlos für die geistige und wirtschaftliche Hebung auch
dieses — tatsächlich verelendeten — Volkes wirken; daß es das Objekt polnischer
Kulturmisston nicht werden will, hat es oft und deutlich genug zu verstehen
gegeben; seit einem Jahre läßt es in Wilna eine weißrussische Zeitschrift „Homar"
(Volkswille) erscheinen; diese wirkt für die Wiedergeburt der weißrussischcn
Sprache, die ehedem die Amtssprache in Großfürstentum Litauen war, aber
unter polnischem und russischem Druck ihre angesehene Stellung unter den Sprachen
Europas verloren hatte und verkümmerte.
National gefährdet waren bisher im Westgebiet besonders diejenigen Fremd¬
stämmigen, die sich zur römisch-katholischen Kirche bekannten, also fast alle Litauer,
eine Million Weißrussen und ein unbedeutender Bruchteil der Ukrainer, insoweit,
und weil ihre Geistlichen Nationalpolen oder polnisch gesinnt waren. Die
Litauer, denen diese Gefahr zuerst bewußt wurde, haben in zähem Kampfe
durchgesetzt, daß in Westlitauen die Geistlichen, selbst die Bischöfe heute Litauer
find und sich im litauischen Sinne betätigen; in Ostlitauen hat der Kampf noch
nicht zu ihrem Siege geführt; hier und bei den römisch-katholischen Weißrussen
wird es die Pflicht einer gerechten Verwaltung sein, dafür zu sorgen, daß in
litauischen und weißrussischen Kirchengemeinden an die Stelle von polnischen
Pfarrern solche der betreffenden Nationalität treten. Erst dann wird unmöglich
sein, was in der Vergangenheit oft genug geschah, „daß die Polen, sogar mit
Gewalt und an geweihter Stätte, jede Regung litauischen Lebens, jeden Gebrauch
titanischer Sprache und Sitte verhindern" (Gaigalat); erst dann wird der pol¬
nische Geistliche, der solange Führer und unter Umständen Verführer fremd¬
stämmiger Katholiken zu Aufständen war, aus dem Westgebiet bis auf eine
kleine Minderzahl verschwinden und damit der Faktor ausscheiden, mit dessen
seelsorgerischer und das geistige Leben der Pfarrkinder beeinflussender Tätigkeit
sich der Scheinanspruch der Polen, dort „das Volk von Bildung" zu sein, noch
am ehesten begründen ließ. Sie sind es schon heute nicht mehr.
Sind die Polen dort aber vielleicht „das Volk von Besitz" ? Sie versichern
es und sprechen gern von den enormen Reichtümern an Grundbesitz, über die
das polnische Element in „Ostpolen" verfüge; viele Deutsche sprechen es ihnen
nach. Mit Unrecht. Im achtzehnten Jahrhundert waren sie es, denn damals
gehörte ihnen, d. h. dem polnischen Adel des Königreichs und dem polonisierten
des Westgebiets, der größte Teil des Grund und Bodens. Das Westgebiet war
damals das gelobte Land der Latifundien; dort residierten die unermeßlich reichen
Magnaten, die Altpolen beherrschten und — zerstörten, die Czartoryski, Potocki,
Radziwill usw. Damals konnte Karl Radziwill, der starke Zecher, der zu seinem
Besitz über 100 000 besteuerte Rauchfänge zählte und als Parteigänger der
Konförderation von Bar (1768) jahrelang 7000 Mann Truppen auf eigenen
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