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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Mehmet Lenin als Volkserzieher

dir nicht alle Genüsse bieten, nicht alle Fragen lösen, nicht einen Engel in
Menschengestalt zum Weibe bescheren. Darum: bescheide dich, nimm dir ein
braves Weib und arbeite! Das schafft das Glück des Lebens. "An ein
junges Mädchen" aber ergeht in dem Zwillingsgedicht der Rat, nicht nur
Musik zu treiben, soviele Freuden sie auch.bieten mag, nicht nur Romane zu
lesen, sondern auf einen Lebensinhalt bedacht zu sein und vor allem sich für den
künftigen Mutterberuf zu ertüchtigen.

Und wieder redet hier -- und anderwärts noch deutlicher -- der Soziologe
seelsorgerisch zu dem Herzen seiner Landsleute und bietet eine Quader zu dem
Aufbau des Volkslebens und der Volkswirtschaft in dem anatolischen Stamm¬
lande der Türkei, das unter der Geißel des Malthusianismus leidet. "Laßt
uns unsere Kinderzahl vermehren," heißt geradezu die Überschrift eines seiner
Gedichte, und ein anderes Mal fragt er: "Warum soll sie nicht gebären?"
Ergreifend weiß er die Lage zu schildern, wie der türkische Bauer und die
Bäuerin sich der Aufgabe der Erhaltung des Geschlechts entziehen, weil sie nicht
Wesen das Leben geben wollen, denen es hernach an einer menschenwürdigen
Daseinsmöglichkeit mangelt. Und mit beweglichen Worten führt er sie dann
zu ihren Menschen- und Staatsbürgerpflichten hin und macht ihnen Mut zu
den Kindern, indem er auf die immerwährende Erneuerung aller Lebewesen
durch natürlichen Nachwuchs hinweist, für dessen Erhaltung eine höhere Macht
sorgt. Dr. Hansemann-Dessau hat dies Gedicht jüngst in der "Deutschen
Levante-Zeitung" verdeutscht; es lautet in seiner Übertragung:

Warum soll sie nicht gebären?
"Kinder? Niemals!"
"Und warum nicht? Mutterschaft ist Weibespflichtl
Wenn du jedes Jahr den Bäumen ihre Früchte abverlangst.
Wenn um jedes Katheders Leben du mit treuer Sorge hängst.
Warum gönnst du denn das Dasein deinen eignen Kindern nicht?" "Hungern würden siel"
"Ach, schweig doch! Das ist Undank in der Tat:
Sieh, allüberall erglänzet unseres Gottes Freundlichkeit;
Selbst des Regenwurmes Nahrung hält die Erde stets bereit.
Weißt du nicht: Der uns den Zahn gab, gab uns auch die grüne Saat?" "Sie soll nicht gebären!" sagst du. Nicht doch, Bruder, zeuge nur:
Offen Kind und Kindeskindern steht die ganze Erdenflur.
Kahle Berge werden fruchtbar, wohnt erst dein Geschlecht darin. Deine Ernten sollen bringen für den Staat den reichsten Zoll,
Deine Herdstatt jeder Bauer allen Fremden zeigen soll.
Und je mehr du Gäste speisest, desto froher sei dein Sinn!

So schärft Mehmet Emin furchtlos und warm aus einem treuen Gemüt
Hoch und Niedrig, Mann und Frau, jedem Stande und jedem Alter das Gewissen


Mehmet Lenin als Volkserzieher

dir nicht alle Genüsse bieten, nicht alle Fragen lösen, nicht einen Engel in
Menschengestalt zum Weibe bescheren. Darum: bescheide dich, nimm dir ein
braves Weib und arbeite! Das schafft das Glück des Lebens. „An ein
junges Mädchen" aber ergeht in dem Zwillingsgedicht der Rat, nicht nur
Musik zu treiben, soviele Freuden sie auch.bieten mag, nicht nur Romane zu
lesen, sondern auf einen Lebensinhalt bedacht zu sein und vor allem sich für den
künftigen Mutterberuf zu ertüchtigen.

Und wieder redet hier — und anderwärts noch deutlicher — der Soziologe
seelsorgerisch zu dem Herzen seiner Landsleute und bietet eine Quader zu dem
Aufbau des Volkslebens und der Volkswirtschaft in dem anatolischen Stamm¬
lande der Türkei, das unter der Geißel des Malthusianismus leidet. „Laßt
uns unsere Kinderzahl vermehren," heißt geradezu die Überschrift eines seiner
Gedichte, und ein anderes Mal fragt er: „Warum soll sie nicht gebären?"
Ergreifend weiß er die Lage zu schildern, wie der türkische Bauer und die
Bäuerin sich der Aufgabe der Erhaltung des Geschlechts entziehen, weil sie nicht
Wesen das Leben geben wollen, denen es hernach an einer menschenwürdigen
Daseinsmöglichkeit mangelt. Und mit beweglichen Worten führt er sie dann
zu ihren Menschen- und Staatsbürgerpflichten hin und macht ihnen Mut zu
den Kindern, indem er auf die immerwährende Erneuerung aller Lebewesen
durch natürlichen Nachwuchs hinweist, für dessen Erhaltung eine höhere Macht
sorgt. Dr. Hansemann-Dessau hat dies Gedicht jüngst in der „Deutschen
Levante-Zeitung" verdeutscht; es lautet in seiner Übertragung:

Warum soll sie nicht gebären?
„Kinder? Niemals!"
„Und warum nicht? Mutterschaft ist Weibespflichtl
Wenn du jedes Jahr den Bäumen ihre Früchte abverlangst.
Wenn um jedes Katheders Leben du mit treuer Sorge hängst.
Warum gönnst du denn das Dasein deinen eignen Kindern nicht?" „Hungern würden siel"
„Ach, schweig doch! Das ist Undank in der Tat:
Sieh, allüberall erglänzet unseres Gottes Freundlichkeit;
Selbst des Regenwurmes Nahrung hält die Erde stets bereit.
Weißt du nicht: Der uns den Zahn gab, gab uns auch die grüne Saat?" „Sie soll nicht gebären!" sagst du. Nicht doch, Bruder, zeuge nur:
Offen Kind und Kindeskindern steht die ganze Erdenflur.
Kahle Berge werden fruchtbar, wohnt erst dein Geschlecht darin. Deine Ernten sollen bringen für den Staat den reichsten Zoll,
Deine Herdstatt jeder Bauer allen Fremden zeigen soll.
Und je mehr du Gäste speisest, desto froher sei dein Sinn!

So schärft Mehmet Emin furchtlos und warm aus einem treuen Gemüt
Hoch und Niedrig, Mann und Frau, jedem Stande und jedem Alter das Gewissen


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[0267] Mehmet Lenin als Volkserzieher dir nicht alle Genüsse bieten, nicht alle Fragen lösen, nicht einen Engel in Menschengestalt zum Weibe bescheren. Darum: bescheide dich, nimm dir ein braves Weib und arbeite! Das schafft das Glück des Lebens. „An ein junges Mädchen" aber ergeht in dem Zwillingsgedicht der Rat, nicht nur Musik zu treiben, soviele Freuden sie auch.bieten mag, nicht nur Romane zu lesen, sondern auf einen Lebensinhalt bedacht zu sein und vor allem sich für den künftigen Mutterberuf zu ertüchtigen. Und wieder redet hier — und anderwärts noch deutlicher — der Soziologe seelsorgerisch zu dem Herzen seiner Landsleute und bietet eine Quader zu dem Aufbau des Volkslebens und der Volkswirtschaft in dem anatolischen Stamm¬ lande der Türkei, das unter der Geißel des Malthusianismus leidet. „Laßt uns unsere Kinderzahl vermehren," heißt geradezu die Überschrift eines seiner Gedichte, und ein anderes Mal fragt er: „Warum soll sie nicht gebären?" Ergreifend weiß er die Lage zu schildern, wie der türkische Bauer und die Bäuerin sich der Aufgabe der Erhaltung des Geschlechts entziehen, weil sie nicht Wesen das Leben geben wollen, denen es hernach an einer menschenwürdigen Daseinsmöglichkeit mangelt. Und mit beweglichen Worten führt er sie dann zu ihren Menschen- und Staatsbürgerpflichten hin und macht ihnen Mut zu den Kindern, indem er auf die immerwährende Erneuerung aller Lebewesen durch natürlichen Nachwuchs hinweist, für dessen Erhaltung eine höhere Macht sorgt. Dr. Hansemann-Dessau hat dies Gedicht jüngst in der „Deutschen Levante-Zeitung" verdeutscht; es lautet in seiner Übertragung: Warum soll sie nicht gebären? „Kinder? Niemals!" „Und warum nicht? Mutterschaft ist Weibespflichtl Wenn du jedes Jahr den Bäumen ihre Früchte abverlangst. Wenn um jedes Katheders Leben du mit treuer Sorge hängst. Warum gönnst du denn das Dasein deinen eignen Kindern nicht?" „Hungern würden siel" „Ach, schweig doch! Das ist Undank in der Tat: Sieh, allüberall erglänzet unseres Gottes Freundlichkeit; Selbst des Regenwurmes Nahrung hält die Erde stets bereit. Weißt du nicht: Der uns den Zahn gab, gab uns auch die grüne Saat?" „Sie soll nicht gebären!" sagst du. Nicht doch, Bruder, zeuge nur: Offen Kind und Kindeskindern steht die ganze Erdenflur. Kahle Berge werden fruchtbar, wohnt erst dein Geschlecht darin. Deine Ernten sollen bringen für den Staat den reichsten Zoll, Deine Herdstatt jeder Bauer allen Fremden zeigen soll. Und je mehr du Gäste speisest, desto froher sei dein Sinn! So schärft Mehmet Emin furchtlos und warm aus einem treuen Gemüt Hoch und Niedrig, Mann und Frau, jedem Stande und jedem Alter das Gewissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/267>, abgerufen am 23.07.2024.