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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Mehmet Lenin als Volkserzieher

"Turan". Aber keiner erreicht an Kraft und Urwüchsigkeit des Ausdrucks, an
Ernst und Wucht des Inhalts, an melodischem Fluß und verständlicher Sprache
den Meister.

Seine Dichtung hat auch die Frauenwelt von heute stark ergriffen. Im
guten Mittelstand der Hauptstadt hatte schon der Balkankrieg nationale Kräfte
wachgerufen, die im Samaritertum, in Liebesdienst und opferwilliger Arbeit
sich äußerten, und immer vollständiger wurde hier das überkommene Leben
der Instinkte von dem Leben moralischer Ideen besiegt. "Wir wollen uns,
wie unsere Schwestern in den Kulturländern, in den Dienst unsres Volkes,
unsres Vaterlandes stellen." "Unser Land wird leben!" Das war der Grund¬
ton dieser Bewegung, und innere Wiedergeburt gilt als das Ziel aller
Arbeit. Die neue türkische Frauenwelt bewährt ihre Kriegsfürsorge auch
gegenwärtig glänzend, Mehmet Emin aber widmete dem national empfindenden
"Nähverein türkischer Frauen" (Bitschgi ju du), der mit der überlieferten
weiblichen Tatenlosigkeit und rechtlosen Absperrung vom Leben so nachdrück¬
lich brach, sein reizendes, vielbeachtetes Gedicht: "Nah', meine Nadel, nah'!"
(deutsch bei Cieslar in Graz. 1915. 8 S.). Paul Schweder hat in seiner
Kriegsberichterstattung die Anfangsverse so verdeutscht:

[Beginn Spaltensatz] Nähe, fleißige Nadel, nähe
Für die Kämpfer warme Kleider,
Für die Helden an den Grenzen,
Das ist eine liebe Pflicht. [Spaltenumbruch] Nähe, fleißige Nadel, nähe --
Dieses Hemd in meinen Händen
Soll des jungen Türkenhelden
Starken, mutigen Leib bedecken. [Ende Spaltensatz]

Hineingewoben werden Gedanken über den Wert der Frau für ein Volk:

[Beginn Spaltensatz] Ist der Mann das kalte Eisen,
Ist die Frau das heiße Feuer,
Ist die Sonne, die mit Hoffnung,
Die mit Liebe uns erwärmt. [Spaltenumbruch] Denn ein Land, das ohne Frauen,
Kann nicht hassen, kann nicht kämpfen
Vor dem Feinde -- ist zum Tode,
Ist zum Untergang verdammt. [Ende Spaltensatz]

Damit legt der Dichter den Finger auf eine offene Wunde am türkischen
Volkskörper und sucht in gefälliger Form die öffentliche Meinung für die sozial¬
politische Erkenntnis zu gewinnen, die jüngst im Jkdam Ali Kemal dahin
formulierte: Wenn die Hälfte eines Volkes versklavt ist, kann die andere nicht
frei sein. Der Dichter preist alsdann die Größe des Türkenvolkes und die
Macht des Großtürkenlandes, die wiederkehren soll. Packend ist der Schluß:
"Geschworen haben wir's: Bis zum Tage, wo du mit Ehren heimkehren wirst,
soll die ganze Jugend, die ganze Frauenschaft nur dir Dienst weihen! Die
Schönen sollen mit Gesängen im Geist eine große Liebe entzünden, die Rosen
pflückenden Hände sollen die blutenden Wunden pflegen, jedes Mädchen wird
entweder dem großen Turan eine gestickte Fahne weihen oder sich selbst ein
blutiges Leichentuch. Nah, meine Nadel, nah! Die rote Fahne mit Mond
und Stern, die ihren Schatten breiten soll über das ganze Turanland."

Das Gedicht, mit einem Bilde, das die an einer osmanischen Fahne
näherte Türkin darstellt, geschmückt, erschien jüngst neben einem anderen, das


Mehmet Lenin als Volkserzieher

„Turan". Aber keiner erreicht an Kraft und Urwüchsigkeit des Ausdrucks, an
Ernst und Wucht des Inhalts, an melodischem Fluß und verständlicher Sprache
den Meister.

Seine Dichtung hat auch die Frauenwelt von heute stark ergriffen. Im
guten Mittelstand der Hauptstadt hatte schon der Balkankrieg nationale Kräfte
wachgerufen, die im Samaritertum, in Liebesdienst und opferwilliger Arbeit
sich äußerten, und immer vollständiger wurde hier das überkommene Leben
der Instinkte von dem Leben moralischer Ideen besiegt. „Wir wollen uns,
wie unsere Schwestern in den Kulturländern, in den Dienst unsres Volkes,
unsres Vaterlandes stellen." „Unser Land wird leben!" Das war der Grund¬
ton dieser Bewegung, und innere Wiedergeburt gilt als das Ziel aller
Arbeit. Die neue türkische Frauenwelt bewährt ihre Kriegsfürsorge auch
gegenwärtig glänzend, Mehmet Emin aber widmete dem national empfindenden
„Nähverein türkischer Frauen" (Bitschgi ju du), der mit der überlieferten
weiblichen Tatenlosigkeit und rechtlosen Absperrung vom Leben so nachdrück¬
lich brach, sein reizendes, vielbeachtetes Gedicht: „Nah', meine Nadel, nah'!"
(deutsch bei Cieslar in Graz. 1915. 8 S.). Paul Schweder hat in seiner
Kriegsberichterstattung die Anfangsverse so verdeutscht:

[Beginn Spaltensatz] Nähe, fleißige Nadel, nähe
Für die Kämpfer warme Kleider,
Für die Helden an den Grenzen,
Das ist eine liebe Pflicht. [Spaltenumbruch] Nähe, fleißige Nadel, nähe —
Dieses Hemd in meinen Händen
Soll des jungen Türkenhelden
Starken, mutigen Leib bedecken. [Ende Spaltensatz]

Hineingewoben werden Gedanken über den Wert der Frau für ein Volk:

[Beginn Spaltensatz] Ist der Mann das kalte Eisen,
Ist die Frau das heiße Feuer,
Ist die Sonne, die mit Hoffnung,
Die mit Liebe uns erwärmt. [Spaltenumbruch] Denn ein Land, das ohne Frauen,
Kann nicht hassen, kann nicht kämpfen
Vor dem Feinde — ist zum Tode,
Ist zum Untergang verdammt. [Ende Spaltensatz]

Damit legt der Dichter den Finger auf eine offene Wunde am türkischen
Volkskörper und sucht in gefälliger Form die öffentliche Meinung für die sozial¬
politische Erkenntnis zu gewinnen, die jüngst im Jkdam Ali Kemal dahin
formulierte: Wenn die Hälfte eines Volkes versklavt ist, kann die andere nicht
frei sein. Der Dichter preist alsdann die Größe des Türkenvolkes und die
Macht des Großtürkenlandes, die wiederkehren soll. Packend ist der Schluß:
„Geschworen haben wir's: Bis zum Tage, wo du mit Ehren heimkehren wirst,
soll die ganze Jugend, die ganze Frauenschaft nur dir Dienst weihen! Die
Schönen sollen mit Gesängen im Geist eine große Liebe entzünden, die Rosen
pflückenden Hände sollen die blutenden Wunden pflegen, jedes Mädchen wird
entweder dem großen Turan eine gestickte Fahne weihen oder sich selbst ein
blutiges Leichentuch. Nah, meine Nadel, nah! Die rote Fahne mit Mond
und Stern, die ihren Schatten breiten soll über das ganze Turanland."

Das Gedicht, mit einem Bilde, das die an einer osmanischen Fahne
näherte Türkin darstellt, geschmückt, erschien jüngst neben einem anderen, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/263>, abgerufen am 23.07.2024.