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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Mehmet Lenin als Volkserzieher

Die persisch-arabischen Versspielereien hatten überhaupt mit ihrem reizenden
und doch so abgenutzten Glockenklang von gut (Rose) und bülbül (Nachtigall)
den gesunden Geschmack verdorben, und die Übersetzung und Nachahmung der
französischen Sensationsschriftstellerei vermochten das ästhetische und das sittliche
Urteil nicht zu verbessern. Die Dichtkunst wurde zu einer in den Salons Alt-
Stambuls grassierenden Mode, und sie hatte Neurastheniker und Werthernaturen
im Gefolge. Noch heute gibt es eine Gruppe in der heranwachsenden Jugend
Konstantinopels, namentlich unter der Weiblichkeit, deren Lebenselement neben
dem Klavierspiel in dieser Art von Lektüre besteht und deren Lebensstimmung
diese Geisteskost vergiftet; find doch nach Rieder Paschas verdienstvollen Unter¬
suchungen von den Türken der Hauptstadt ohnehin mindestens 80 Prozent Neu¬
rastheniker.

Da kam der Umschwung der Jahre 1903 und 1909, und das in mannig¬
fachen Keimen ansetzende neue Leben wirkte kräftigend auf Presse und Poesie
ein. Die Machthaber des jungtürkischen Regiments hatten sich in ihren unfrei¬
willigen Ausländsaufenthalten bei einem Vergleich zwischen der Bedeutung des
heimischen und des fremden Schrifttums der Erkenntnis nicht verschließen können
noch wollen, daß Poesie ihrem Wesen nach mehr ist als Übersetzung oder Nach¬
ahmung fremder und andersartiger Vorbilder, mehr als melodisches Reim¬
geklingel oder weltschmerzliche, willensschwache Lebensstimmung, mehr auch als
ein bloßer Genuß für müßige Stunden. Entwicklung einer nationalen Literatur
bedeutet Entwicklung des türkischen Volksbewußtseins und Kraftbildung -- dieser
Gedanke verbreitete sich jetzt in den Oberschichten, und er ließ die Dichtkunst
als ein Geistesgut erkennen, das Gabe und Aufgabe für das Gemeinschafts¬
leben in sich schließt. Es wurde deutlich: erst die Gemeinsamkeit der Gefühls¬
und Gedankenwelt, die im Liede zum Ausdruck kommt, macht ein Volk wirk¬
lich zum Volke, darum ist die Poesie und werde sie immer mehr ein Grund¬
pfeiler für den Aufbau nationalen Lebens!

Jetzt war für Mehmet Emins Wirken der Boden bereitet und die Stunde
gekommen. Denn so reich und feurig ihm auch die Lieder vom Munde fließen,
des Gesanges Gabe ist ihm doch nur ein Mittel zum Wollen und Wirken: er
will starke Männer für den Lebenskampf erziehen und für den Dienst am
Vaterland ertüchtigen, er will nicht schwachseelige Ästheten ergötzen. Diese volks-
erziehliche, vaterländische Ader leiht seinem Wirken, den Stoffen wie der
Form seines dichterischen Schaffens, so sehr das Gepräge, daß man ihn wohl
den türkischen Ernst Moritz Arndt genannt hat. Freude am Vaterland, Liebe
zu der Heimatscholle, Preis ehrlicher Arbeit, Pflege des stillen Glückes, Aufbau
des sozialen Gewissens, das sind die starken Wurzeln seiner Kraft und Kunst,
und was es für die Erneuerung des türkischen Volks- und Staatslebens be¬
deuten müßte, wenn es gelänge, diese Werte in den breitesten Kreisen lebendig
und beherrschend zu machen, kann nur der des Orients Kundige voll er¬
messen.


Mehmet Lenin als Volkserzieher

Die persisch-arabischen Versspielereien hatten überhaupt mit ihrem reizenden
und doch so abgenutzten Glockenklang von gut (Rose) und bülbül (Nachtigall)
den gesunden Geschmack verdorben, und die Übersetzung und Nachahmung der
französischen Sensationsschriftstellerei vermochten das ästhetische und das sittliche
Urteil nicht zu verbessern. Die Dichtkunst wurde zu einer in den Salons Alt-
Stambuls grassierenden Mode, und sie hatte Neurastheniker und Werthernaturen
im Gefolge. Noch heute gibt es eine Gruppe in der heranwachsenden Jugend
Konstantinopels, namentlich unter der Weiblichkeit, deren Lebenselement neben
dem Klavierspiel in dieser Art von Lektüre besteht und deren Lebensstimmung
diese Geisteskost vergiftet; find doch nach Rieder Paschas verdienstvollen Unter¬
suchungen von den Türken der Hauptstadt ohnehin mindestens 80 Prozent Neu¬
rastheniker.

Da kam der Umschwung der Jahre 1903 und 1909, und das in mannig¬
fachen Keimen ansetzende neue Leben wirkte kräftigend auf Presse und Poesie
ein. Die Machthaber des jungtürkischen Regiments hatten sich in ihren unfrei¬
willigen Ausländsaufenthalten bei einem Vergleich zwischen der Bedeutung des
heimischen und des fremden Schrifttums der Erkenntnis nicht verschließen können
noch wollen, daß Poesie ihrem Wesen nach mehr ist als Übersetzung oder Nach¬
ahmung fremder und andersartiger Vorbilder, mehr als melodisches Reim¬
geklingel oder weltschmerzliche, willensschwache Lebensstimmung, mehr auch als
ein bloßer Genuß für müßige Stunden. Entwicklung einer nationalen Literatur
bedeutet Entwicklung des türkischen Volksbewußtseins und Kraftbildung — dieser
Gedanke verbreitete sich jetzt in den Oberschichten, und er ließ die Dichtkunst
als ein Geistesgut erkennen, das Gabe und Aufgabe für das Gemeinschafts¬
leben in sich schließt. Es wurde deutlich: erst die Gemeinsamkeit der Gefühls¬
und Gedankenwelt, die im Liede zum Ausdruck kommt, macht ein Volk wirk¬
lich zum Volke, darum ist die Poesie und werde sie immer mehr ein Grund¬
pfeiler für den Aufbau nationalen Lebens!

Jetzt war für Mehmet Emins Wirken der Boden bereitet und die Stunde
gekommen. Denn so reich und feurig ihm auch die Lieder vom Munde fließen,
des Gesanges Gabe ist ihm doch nur ein Mittel zum Wollen und Wirken: er
will starke Männer für den Lebenskampf erziehen und für den Dienst am
Vaterland ertüchtigen, er will nicht schwachseelige Ästheten ergötzen. Diese volks-
erziehliche, vaterländische Ader leiht seinem Wirken, den Stoffen wie der
Form seines dichterischen Schaffens, so sehr das Gepräge, daß man ihn wohl
den türkischen Ernst Moritz Arndt genannt hat. Freude am Vaterland, Liebe
zu der Heimatscholle, Preis ehrlicher Arbeit, Pflege des stillen Glückes, Aufbau
des sozialen Gewissens, das sind die starken Wurzeln seiner Kraft und Kunst,
und was es für die Erneuerung des türkischen Volks- und Staatslebens be¬
deuten müßte, wenn es gelänge, diese Werte in den breitesten Kreisen lebendig
und beherrschend zu machen, kann nur der des Orients Kundige voll er¬
messen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/261>, abgerufen am 23.07.2024.