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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Der Krieg als Vermittler

Schien es nicht wirklich so, als müsse das Leben unseres Volkes immer mehr
versanden und versumpfen? Mußte man nicht fürchten, daß der Materialismus
nicht nur die Religion, sondern auch alles sonstige geistige Leben vernichten
würde? Es sah fast so aus, als sei die Lebensarbeit eines Luther, Kant,
Goethe, Schiller, Fichte und Schleiermacher ganz vergeblich und überflüssig ge¬
wesen! Immer deutlicher empfand man es, daß diese neue Lebensauffassung
und Lebensweise, die in allen Schichten und Klassen so viele begeisterte An¬
hänger gefunden hatte, dem inwendigen Menschen, dem Herzen und Gemüte,
sein Rech^ nicht zukommen ließ. Man begriff wieder die Wahrheit, die in den
Worten der Heiligen Schrift liegt: "Der Mensch lebt nicht vom Brote allein
oder davon, daß er viele Güter hat." So trat eine Rückwirkung ein. Unter
den Gebildeten konnte man sie zuerst wahrnehmen. Eine wachsende Zahl von
ihnen wandte enttäuscht dem Materialismus den Rücken, und ein neues Fragen
und Suchen begann. Wenn aber hungernde Menschenseelen auf die Suche
gehen nach dem, was sie wahrhaft befriedigen kann, dann pflegt die Religion,
die seit Jahrtausenden die tiefste Sehnsucht der Herzen und Gemüter gestillt
hat, wieder die Blicke mit Macht auf sich zu ziehen. So tauchte die "religiöse
Frage" wieder auf. Sie ward, wie man sagte, wieder "modern". Was
Rudolf Eucken aussprach in seinem Buche: "Können wir noch Christen sein?",
in welchem er überzeugend darlegt: wir können die Religion nicht entbehren,
das empfanden tausend andere auch wieder. Wie deutlich erkennt man diese
Schwenkung zur Religion hin aus der Literatur der letzten zwei Jahrzehnte!
Wie viele Bücher über religiöse Fragen und Probleme finden wir darunter!
Und zwar sind die Verfasser keineswegs in der Mehrzahl zünftige Theologen,
nein, wohl alle Berufe und Fakultäten sind dabei vertreten. Und wie viele
Vorträge voll tiefer religiöser Gedanken sind zu gleicher Zeit gehalten! Und
die meisten wiesen einen starken Besuch auf, und wo es nach dem Vortrage
zu einer Aussprache kam, da zeigte sich die starke innere Anteilnahme der Zu¬
hörer an diesen Dingen. Ja selbst auf die Bühne kamen Schauspiele mit
starkem religiösen Einschlag, wenn nicht gar der religiöse Gedanke der be¬
stimmende des ganzen Stückes war. Schon längst war unter den Gebildeten
der Spott über die Religion verstummt. Ja, das Wort Religion war so
"zugkräftig" geworden, daß manche Bestrebungen, die ihrem Wesen nach mit
ehr nicht das geringste zu tun hatten, sich dieses Aushängeschildes bedienten,
um neue Anhänger zu gewinnen.

So war schon in den letzten Jahren oder vielmehr Jahrzehnten vor dem
Krieg neues religiöses Leben im Werden. Dies neue religiöse Leben aber war
keineswegs kirchlich gesinnt. Ja es stand sogar in starkem Gegensatz zur Kirche.
Es war unkirchliche Frömmigkeit. Friedrich Naumann, der sicher ein feines


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Der Krieg als Vermittler

Schien es nicht wirklich so, als müsse das Leben unseres Volkes immer mehr
versanden und versumpfen? Mußte man nicht fürchten, daß der Materialismus
nicht nur die Religion, sondern auch alles sonstige geistige Leben vernichten
würde? Es sah fast so aus, als sei die Lebensarbeit eines Luther, Kant,
Goethe, Schiller, Fichte und Schleiermacher ganz vergeblich und überflüssig ge¬
wesen! Immer deutlicher empfand man es, daß diese neue Lebensauffassung
und Lebensweise, die in allen Schichten und Klassen so viele begeisterte An¬
hänger gefunden hatte, dem inwendigen Menschen, dem Herzen und Gemüte,
sein Rech^ nicht zukommen ließ. Man begriff wieder die Wahrheit, die in den
Worten der Heiligen Schrift liegt: „Der Mensch lebt nicht vom Brote allein
oder davon, daß er viele Güter hat." So trat eine Rückwirkung ein. Unter
den Gebildeten konnte man sie zuerst wahrnehmen. Eine wachsende Zahl von
ihnen wandte enttäuscht dem Materialismus den Rücken, und ein neues Fragen
und Suchen begann. Wenn aber hungernde Menschenseelen auf die Suche
gehen nach dem, was sie wahrhaft befriedigen kann, dann pflegt die Religion,
die seit Jahrtausenden die tiefste Sehnsucht der Herzen und Gemüter gestillt
hat, wieder die Blicke mit Macht auf sich zu ziehen. So tauchte die „religiöse
Frage" wieder auf. Sie ward, wie man sagte, wieder „modern". Was
Rudolf Eucken aussprach in seinem Buche: „Können wir noch Christen sein?",
in welchem er überzeugend darlegt: wir können die Religion nicht entbehren,
das empfanden tausend andere auch wieder. Wie deutlich erkennt man diese
Schwenkung zur Religion hin aus der Literatur der letzten zwei Jahrzehnte!
Wie viele Bücher über religiöse Fragen und Probleme finden wir darunter!
Und zwar sind die Verfasser keineswegs in der Mehrzahl zünftige Theologen,
nein, wohl alle Berufe und Fakultäten sind dabei vertreten. Und wie viele
Vorträge voll tiefer religiöser Gedanken sind zu gleicher Zeit gehalten! Und
die meisten wiesen einen starken Besuch auf, und wo es nach dem Vortrage
zu einer Aussprache kam, da zeigte sich die starke innere Anteilnahme der Zu¬
hörer an diesen Dingen. Ja selbst auf die Bühne kamen Schauspiele mit
starkem religiösen Einschlag, wenn nicht gar der religiöse Gedanke der be¬
stimmende des ganzen Stückes war. Schon längst war unter den Gebildeten
der Spott über die Religion verstummt. Ja, das Wort Religion war so
„zugkräftig" geworden, daß manche Bestrebungen, die ihrem Wesen nach mit
ehr nicht das geringste zu tun hatten, sich dieses Aushängeschildes bedienten,
um neue Anhänger zu gewinnen.

So war schon in den letzten Jahren oder vielmehr Jahrzehnten vor dem
Krieg neues religiöses Leben im Werden. Dies neue religiöse Leben aber war
keineswegs kirchlich gesinnt. Ja es stand sogar in starkem Gegensatz zur Kirche.
Es war unkirchliche Frömmigkeit. Friedrich Naumann, der sicher ein feines


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[0255] Der Krieg als Vermittler Schien es nicht wirklich so, als müsse das Leben unseres Volkes immer mehr versanden und versumpfen? Mußte man nicht fürchten, daß der Materialismus nicht nur die Religion, sondern auch alles sonstige geistige Leben vernichten würde? Es sah fast so aus, als sei die Lebensarbeit eines Luther, Kant, Goethe, Schiller, Fichte und Schleiermacher ganz vergeblich und überflüssig ge¬ wesen! Immer deutlicher empfand man es, daß diese neue Lebensauffassung und Lebensweise, die in allen Schichten und Klassen so viele begeisterte An¬ hänger gefunden hatte, dem inwendigen Menschen, dem Herzen und Gemüte, sein Rech^ nicht zukommen ließ. Man begriff wieder die Wahrheit, die in den Worten der Heiligen Schrift liegt: „Der Mensch lebt nicht vom Brote allein oder davon, daß er viele Güter hat." So trat eine Rückwirkung ein. Unter den Gebildeten konnte man sie zuerst wahrnehmen. Eine wachsende Zahl von ihnen wandte enttäuscht dem Materialismus den Rücken, und ein neues Fragen und Suchen begann. Wenn aber hungernde Menschenseelen auf die Suche gehen nach dem, was sie wahrhaft befriedigen kann, dann pflegt die Religion, die seit Jahrtausenden die tiefste Sehnsucht der Herzen und Gemüter gestillt hat, wieder die Blicke mit Macht auf sich zu ziehen. So tauchte die „religiöse Frage" wieder auf. Sie ward, wie man sagte, wieder „modern". Was Rudolf Eucken aussprach in seinem Buche: „Können wir noch Christen sein?", in welchem er überzeugend darlegt: wir können die Religion nicht entbehren, das empfanden tausend andere auch wieder. Wie deutlich erkennt man diese Schwenkung zur Religion hin aus der Literatur der letzten zwei Jahrzehnte! Wie viele Bücher über religiöse Fragen und Probleme finden wir darunter! Und zwar sind die Verfasser keineswegs in der Mehrzahl zünftige Theologen, nein, wohl alle Berufe und Fakultäten sind dabei vertreten. Und wie viele Vorträge voll tiefer religiöser Gedanken sind zu gleicher Zeit gehalten! Und die meisten wiesen einen starken Besuch auf, und wo es nach dem Vortrage zu einer Aussprache kam, da zeigte sich die starke innere Anteilnahme der Zu¬ hörer an diesen Dingen. Ja selbst auf die Bühne kamen Schauspiele mit starkem religiösen Einschlag, wenn nicht gar der religiöse Gedanke der be¬ stimmende des ganzen Stückes war. Schon längst war unter den Gebildeten der Spott über die Religion verstummt. Ja, das Wort Religion war so „zugkräftig" geworden, daß manche Bestrebungen, die ihrem Wesen nach mit ehr nicht das geringste zu tun hatten, sich dieses Aushängeschildes bedienten, um neue Anhänger zu gewinnen. So war schon in den letzten Jahren oder vielmehr Jahrzehnten vor dem Krieg neues religiöses Leben im Werden. Dies neue religiöse Leben aber war keineswegs kirchlich gesinnt. Ja es stand sogar in starkem Gegensatz zur Kirche. Es war unkirchliche Frömmigkeit. Friedrich Naumann, der sicher ein feines 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/255>, abgerufen am 23.07.2024.