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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Weg zur Erkenntnis des Nationalstaats gelangte. Heute aber braucht man nur
das Wort "Jrredenta" auszusprechen, um zu erkennen, wie kräftig die Tatsachen
der Sprachenkarte ihre Wünsche bei Grenzregelungen anzumelden verstehen.
Nach hundertjährigem Siegeszug steht die nationale Idee in unseren Tagen auf
dem Höhepunkt ihrer Macht. Ihr Recht auf Mitwirkung an der Formung des
Staatsgebiets liegt in der Anerkennung der nationalen Kultur und ihres Trügers,
der Sprache, als eines wesentlichen Elementes des modernen Staates überhaupt.
Wir hören daher heute wieder Äußerungen wie die des alten Arndt. Auch der
bekannte schwedische Politiker Kjellön neigt dazu, ausgehend von der Forderung,
daß eine natürliche Grenze politische Konflikte verhindern solle, wie auch sonst
ihre Eigenschaften sein mögen. Sprachenkarten haben ein hervorragendes In¬
teresse gewonnen. Die große Schäfersche Völkerkarte hat sich schnell eingebürgert.
Der Jahrgang 1915 von Petermanns Geographischen Mitteilungen enthält eine
Menge wertvoller Sprachenkarten.

Der geographische Unterschied zwischen natürlichen Grenzen und Sprach¬
grenzen ist ein doppelter. Zunächst prägen sich die letzteren im Gegensatz zu
jenen im Landschaftsbild direkt gar nicht aus. Und oft sind auch Folge¬
erscheinungen, wie Wechsel der Bauart und Bodenkultur sprachverschiedener
Nachbarn mit dem Auge nicht festzustellen. Zweitens umgibt die natürliche
Grenze nur in den günstigsten Fällen ihr Gebiet allseitig derart, daß sie ein
geschlossenes Lebensgebiet herstellt, während umgekehrt die Sprachgrenze nur von
innen nach außen hin verstanden werden kann und eine geschlossene Linie bilden
muß, weil sie nur ein Aufhören beschreibt. Kurz gesagt: Dort ein selbständiger,
meist nur streckenweiser Grenzsaum, hier eine unselbständige, aber zusammen¬
hängende Grenzlinie.

Die Sprachgrenzen nehmen nun für sich in hohem Maße in Anspruch,
was viele natürliche Grenzen, je länger je mehr, verloren haben, was fälschlich
naturentlehnte Grenzen gelegentlich für sich in Anspruch nehmen, die Autorität
gültiger Grenzen. Und tatsächlich sind sie unter gewissen Bedingungen der all¬
gemeinen Anerkennung sicher, ihre Erhebung zur Staatsgrenze hat dann streit¬
schlichtende Kraft. Gleichwohl ist es offenbar besser, nicht auch sie natürliche
Grenzen zu nennen. Die Unbrauchbarkeit dieses Ausdrucks liegt in seiner Viel¬
deutigkeit. Sie ist ein Anlaß zu diesen Ausführungen.

Die Verwandtschaft zwischen natürlichen und sprachlichen Grenzen erleichtert
uns die folgenden Betrachtungen. Auch die Sprachgrenzen sind der Entwicklung
und Dauer von Weltstaaten hinderlich. Sie haben diese Bedeutung heute in
höherem Maße als, sagen wir, zur Zeit der babylonischen Sprachverwirrung,
und übertreffen darin vielleicht die natürlichen Grenzen. Wenn Weltreiche längs
der natürlichen Grenzen zerfielen, so ist heute ein Völkerstaat in Gefahr, nach
seinen Sprachgrenzen auseinanderzubrechen. Oder aber diese inneren Sprach¬
grenzen verschaffen sich Geltung in verfassungsmäßiger Sonderstellung der Sprach¬
gemeinschaften, ein Streben, das uns in Österreich entgegentritt. Eingefriedet


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Weg zur Erkenntnis des Nationalstaats gelangte. Heute aber braucht man nur
das Wort „Jrredenta" auszusprechen, um zu erkennen, wie kräftig die Tatsachen
der Sprachenkarte ihre Wünsche bei Grenzregelungen anzumelden verstehen.
Nach hundertjährigem Siegeszug steht die nationale Idee in unseren Tagen auf
dem Höhepunkt ihrer Macht. Ihr Recht auf Mitwirkung an der Formung des
Staatsgebiets liegt in der Anerkennung der nationalen Kultur und ihres Trügers,
der Sprache, als eines wesentlichen Elementes des modernen Staates überhaupt.
Wir hören daher heute wieder Äußerungen wie die des alten Arndt. Auch der
bekannte schwedische Politiker Kjellön neigt dazu, ausgehend von der Forderung,
daß eine natürliche Grenze politische Konflikte verhindern solle, wie auch sonst
ihre Eigenschaften sein mögen. Sprachenkarten haben ein hervorragendes In¬
teresse gewonnen. Die große Schäfersche Völkerkarte hat sich schnell eingebürgert.
Der Jahrgang 1915 von Petermanns Geographischen Mitteilungen enthält eine
Menge wertvoller Sprachenkarten.

Der geographische Unterschied zwischen natürlichen Grenzen und Sprach¬
grenzen ist ein doppelter. Zunächst prägen sich die letzteren im Gegensatz zu
jenen im Landschaftsbild direkt gar nicht aus. Und oft sind auch Folge¬
erscheinungen, wie Wechsel der Bauart und Bodenkultur sprachverschiedener
Nachbarn mit dem Auge nicht festzustellen. Zweitens umgibt die natürliche
Grenze nur in den günstigsten Fällen ihr Gebiet allseitig derart, daß sie ein
geschlossenes Lebensgebiet herstellt, während umgekehrt die Sprachgrenze nur von
innen nach außen hin verstanden werden kann und eine geschlossene Linie bilden
muß, weil sie nur ein Aufhören beschreibt. Kurz gesagt: Dort ein selbständiger,
meist nur streckenweiser Grenzsaum, hier eine unselbständige, aber zusammen¬
hängende Grenzlinie.

Die Sprachgrenzen nehmen nun für sich in hohem Maße in Anspruch,
was viele natürliche Grenzen, je länger je mehr, verloren haben, was fälschlich
naturentlehnte Grenzen gelegentlich für sich in Anspruch nehmen, die Autorität
gültiger Grenzen. Und tatsächlich sind sie unter gewissen Bedingungen der all¬
gemeinen Anerkennung sicher, ihre Erhebung zur Staatsgrenze hat dann streit¬
schlichtende Kraft. Gleichwohl ist es offenbar besser, nicht auch sie natürliche
Grenzen zu nennen. Die Unbrauchbarkeit dieses Ausdrucks liegt in seiner Viel¬
deutigkeit. Sie ist ein Anlaß zu diesen Ausführungen.

Die Verwandtschaft zwischen natürlichen und sprachlichen Grenzen erleichtert
uns die folgenden Betrachtungen. Auch die Sprachgrenzen sind der Entwicklung
und Dauer von Weltstaaten hinderlich. Sie haben diese Bedeutung heute in
höherem Maße als, sagen wir, zur Zeit der babylonischen Sprachverwirrung,
und übertreffen darin vielleicht die natürlichen Grenzen. Wenn Weltreiche längs
der natürlichen Grenzen zerfielen, so ist heute ein Völkerstaat in Gefahr, nach
seinen Sprachgrenzen auseinanderzubrechen. Oder aber diese inneren Sprach¬
grenzen verschaffen sich Geltung in verfassungsmäßiger Sonderstellung der Sprach¬
gemeinschaften, ein Streben, das uns in Österreich entgegentritt. Eingefriedet


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[0220] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen Weg zur Erkenntnis des Nationalstaats gelangte. Heute aber braucht man nur das Wort „Jrredenta" auszusprechen, um zu erkennen, wie kräftig die Tatsachen der Sprachenkarte ihre Wünsche bei Grenzregelungen anzumelden verstehen. Nach hundertjährigem Siegeszug steht die nationale Idee in unseren Tagen auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Ihr Recht auf Mitwirkung an der Formung des Staatsgebiets liegt in der Anerkennung der nationalen Kultur und ihres Trügers, der Sprache, als eines wesentlichen Elementes des modernen Staates überhaupt. Wir hören daher heute wieder Äußerungen wie die des alten Arndt. Auch der bekannte schwedische Politiker Kjellön neigt dazu, ausgehend von der Forderung, daß eine natürliche Grenze politische Konflikte verhindern solle, wie auch sonst ihre Eigenschaften sein mögen. Sprachenkarten haben ein hervorragendes In¬ teresse gewonnen. Die große Schäfersche Völkerkarte hat sich schnell eingebürgert. Der Jahrgang 1915 von Petermanns Geographischen Mitteilungen enthält eine Menge wertvoller Sprachenkarten. Der geographische Unterschied zwischen natürlichen Grenzen und Sprach¬ grenzen ist ein doppelter. Zunächst prägen sich die letzteren im Gegensatz zu jenen im Landschaftsbild direkt gar nicht aus. Und oft sind auch Folge¬ erscheinungen, wie Wechsel der Bauart und Bodenkultur sprachverschiedener Nachbarn mit dem Auge nicht festzustellen. Zweitens umgibt die natürliche Grenze nur in den günstigsten Fällen ihr Gebiet allseitig derart, daß sie ein geschlossenes Lebensgebiet herstellt, während umgekehrt die Sprachgrenze nur von innen nach außen hin verstanden werden kann und eine geschlossene Linie bilden muß, weil sie nur ein Aufhören beschreibt. Kurz gesagt: Dort ein selbständiger, meist nur streckenweiser Grenzsaum, hier eine unselbständige, aber zusammen¬ hängende Grenzlinie. Die Sprachgrenzen nehmen nun für sich in hohem Maße in Anspruch, was viele natürliche Grenzen, je länger je mehr, verloren haben, was fälschlich naturentlehnte Grenzen gelegentlich für sich in Anspruch nehmen, die Autorität gültiger Grenzen. Und tatsächlich sind sie unter gewissen Bedingungen der all¬ gemeinen Anerkennung sicher, ihre Erhebung zur Staatsgrenze hat dann streit¬ schlichtende Kraft. Gleichwohl ist es offenbar besser, nicht auch sie natürliche Grenzen zu nennen. Die Unbrauchbarkeit dieses Ausdrucks liegt in seiner Viel¬ deutigkeit. Sie ist ein Anlaß zu diesen Ausführungen. Die Verwandtschaft zwischen natürlichen und sprachlichen Grenzen erleichtert uns die folgenden Betrachtungen. Auch die Sprachgrenzen sind der Entwicklung und Dauer von Weltstaaten hinderlich. Sie haben diese Bedeutung heute in höherem Maße als, sagen wir, zur Zeit der babylonischen Sprachverwirrung, und übertreffen darin vielleicht die natürlichen Grenzen. Wenn Weltreiche längs der natürlichen Grenzen zerfielen, so ist heute ein Völkerstaat in Gefahr, nach seinen Sprachgrenzen auseinanderzubrechen. Oder aber diese inneren Sprach¬ grenzen verschaffen sich Geltung in verfassungsmäßiger Sonderstellung der Sprach¬ gemeinschaften, ein Streben, das uns in Österreich entgegentritt. Eingefriedet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/220>, abgerufen am 25.08.2024.