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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Finnlands Befreiung

Wünschen der russichen Gesellschaft entspreche -- wenigstens gegenwärtig. Die
allgemeinen Tendenzen des herrschenden Systemes würden, mehr oder minder
bewußt, auch von denen umfaßt, die der Regierung nicht nahe ständen. Nach
dem Kriege werde man, wie er glaube, darauf hinweisen, daß die Finnländer
in dem großen Kampfe eigentlich gar keine Opfer gebracht hätten, und dadurch
werde eine Stimmung entstehen, die ihnen nicht günstig sei. Die Ostseeprovinzen
hätten unter allen Heimsuchungen des Krieges gelitten, mancher Mann habe
dort alles verloren. Aber auch das werde noch nicht als genügend
angesehen.

Viele Anzeichen lassen darauf schließen, daß die Stimmung in Finnland
jetzt reif zu jeder Tat ist, die dem Großfürstentum seine gesetzmäßigen Rechte
wiederverschaffen kann. Sogar die schwedische Zeitung "Sozialdemok-ater", die,
mit Branting als Redakteur, leidenschaftlicher als jede andere Entente-Zeitung in
Schweden die Sache der Mittelmächte bekämpft hat, sah sich im Dezember 1915
gezwungen, in ihren Spalten den Brief eines Finnen aufzunehmen, der ihr über
die erbitterte Stimmung in Finnland die Wahrheit sagt. Er schreibt unter
anderem:

"Seit der Weltkrieg im Gange ist, hat die russische Regierung bekanntlich
keinen Augenblick aufgehört, die konstitutionellen Rechte des finnischen Volkes zu
unterdrücken, ja sie hat diese Bestrebungen nicht einmal verlangsamt. Im Gegen¬
teil, der durch den Krieg geschaffene Ausnahmezustand ist aufs eifrigste aus¬
genutzt worden, um auch reaktionäre Maßregeln, die zu anderen Zeiten nicht
möglich gewesen wären, durchzuführen. Alle bürgerliche Freiheiten und Gerecht¬
same -- sowohl die persönliche Unverletzlichkeit wie auch die Rede-, Presse- und
Versammlungsfreiheit -- sind tatsächlich aufgehoben oder von der Willkür der
Polizeibehörden abhängig; der Landtag ist trotz der deutlichen Verordnung des
Grundgesetzes im Jahre 1915 nicht einberufen worden, und finnische Bürger
leben noch immer als Verbannte in Sibirien.

Zu der politischen Verfolgung gesellt sich der wirtschaftliche Druck. Die
Lebensmittelpreise sind gestiegen wie nie zuvor, und dennoch ist die Arbeiter¬
klasse außerstande, ihre Löhne in demselben Maße zu steigern, weil der Streik
-- das wichtigste Kampfmittel der Arbeiter -- durch die Behörden verboten ist.

Unter solchen Verhältnissen sollte man sich denken können, welche Stimmung
im finnischen Volke herrscht. Viele lange Jahre hindurch hat dieses Volk
schwer um die Bewahrung seiner konstitutionellen Freiheit und seines Rechtes
auf nationale Selbstbestimmung gekämpft, und die letzte Zeit ist keineswegs ge¬
eignet gewesen, uns gegen die Unterdrückerklasse, die uns dieses Recht zu rauben
versucht, milder zu stimmen.

Weit entfernt, auf die Widerstandskraft des finnischen Volkes lähmend
zu wirken, wie man an einigen Stellen im Auslande zu glauben scheint, haben
die Ereignisse der letzten Zeiten ein Wiedererwachen des Willens der Nation
zum Leben ihres eigenen Lebens bewirkt. Die Hoffnungen können mehr oder


Finnlands Befreiung

Wünschen der russichen Gesellschaft entspreche — wenigstens gegenwärtig. Die
allgemeinen Tendenzen des herrschenden Systemes würden, mehr oder minder
bewußt, auch von denen umfaßt, die der Regierung nicht nahe ständen. Nach
dem Kriege werde man, wie er glaube, darauf hinweisen, daß die Finnländer
in dem großen Kampfe eigentlich gar keine Opfer gebracht hätten, und dadurch
werde eine Stimmung entstehen, die ihnen nicht günstig sei. Die Ostseeprovinzen
hätten unter allen Heimsuchungen des Krieges gelitten, mancher Mann habe
dort alles verloren. Aber auch das werde noch nicht als genügend
angesehen.

Viele Anzeichen lassen darauf schließen, daß die Stimmung in Finnland
jetzt reif zu jeder Tat ist, die dem Großfürstentum seine gesetzmäßigen Rechte
wiederverschaffen kann. Sogar die schwedische Zeitung „Sozialdemok-ater", die,
mit Branting als Redakteur, leidenschaftlicher als jede andere Entente-Zeitung in
Schweden die Sache der Mittelmächte bekämpft hat, sah sich im Dezember 1915
gezwungen, in ihren Spalten den Brief eines Finnen aufzunehmen, der ihr über
die erbitterte Stimmung in Finnland die Wahrheit sagt. Er schreibt unter
anderem:

„Seit der Weltkrieg im Gange ist, hat die russische Regierung bekanntlich
keinen Augenblick aufgehört, die konstitutionellen Rechte des finnischen Volkes zu
unterdrücken, ja sie hat diese Bestrebungen nicht einmal verlangsamt. Im Gegen¬
teil, der durch den Krieg geschaffene Ausnahmezustand ist aufs eifrigste aus¬
genutzt worden, um auch reaktionäre Maßregeln, die zu anderen Zeiten nicht
möglich gewesen wären, durchzuführen. Alle bürgerliche Freiheiten und Gerecht¬
same — sowohl die persönliche Unverletzlichkeit wie auch die Rede-, Presse- und
Versammlungsfreiheit — sind tatsächlich aufgehoben oder von der Willkür der
Polizeibehörden abhängig; der Landtag ist trotz der deutlichen Verordnung des
Grundgesetzes im Jahre 1915 nicht einberufen worden, und finnische Bürger
leben noch immer als Verbannte in Sibirien.

Zu der politischen Verfolgung gesellt sich der wirtschaftliche Druck. Die
Lebensmittelpreise sind gestiegen wie nie zuvor, und dennoch ist die Arbeiter¬
klasse außerstande, ihre Löhne in demselben Maße zu steigern, weil der Streik
— das wichtigste Kampfmittel der Arbeiter — durch die Behörden verboten ist.

Unter solchen Verhältnissen sollte man sich denken können, welche Stimmung
im finnischen Volke herrscht. Viele lange Jahre hindurch hat dieses Volk
schwer um die Bewahrung seiner konstitutionellen Freiheit und seines Rechtes
auf nationale Selbstbestimmung gekämpft, und die letzte Zeit ist keineswegs ge¬
eignet gewesen, uns gegen die Unterdrückerklasse, die uns dieses Recht zu rauben
versucht, milder zu stimmen.

Weit entfernt, auf die Widerstandskraft des finnischen Volkes lähmend
zu wirken, wie man an einigen Stellen im Auslande zu glauben scheint, haben
die Ereignisse der letzten Zeiten ein Wiedererwachen des Willens der Nation
zum Leben ihres eigenen Lebens bewirkt. Die Hoffnungen können mehr oder


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[0184] Finnlands Befreiung Wünschen der russichen Gesellschaft entspreche — wenigstens gegenwärtig. Die allgemeinen Tendenzen des herrschenden Systemes würden, mehr oder minder bewußt, auch von denen umfaßt, die der Regierung nicht nahe ständen. Nach dem Kriege werde man, wie er glaube, darauf hinweisen, daß die Finnländer in dem großen Kampfe eigentlich gar keine Opfer gebracht hätten, und dadurch werde eine Stimmung entstehen, die ihnen nicht günstig sei. Die Ostseeprovinzen hätten unter allen Heimsuchungen des Krieges gelitten, mancher Mann habe dort alles verloren. Aber auch das werde noch nicht als genügend angesehen. Viele Anzeichen lassen darauf schließen, daß die Stimmung in Finnland jetzt reif zu jeder Tat ist, die dem Großfürstentum seine gesetzmäßigen Rechte wiederverschaffen kann. Sogar die schwedische Zeitung „Sozialdemok-ater", die, mit Branting als Redakteur, leidenschaftlicher als jede andere Entente-Zeitung in Schweden die Sache der Mittelmächte bekämpft hat, sah sich im Dezember 1915 gezwungen, in ihren Spalten den Brief eines Finnen aufzunehmen, der ihr über die erbitterte Stimmung in Finnland die Wahrheit sagt. Er schreibt unter anderem: „Seit der Weltkrieg im Gange ist, hat die russische Regierung bekanntlich keinen Augenblick aufgehört, die konstitutionellen Rechte des finnischen Volkes zu unterdrücken, ja sie hat diese Bestrebungen nicht einmal verlangsamt. Im Gegen¬ teil, der durch den Krieg geschaffene Ausnahmezustand ist aufs eifrigste aus¬ genutzt worden, um auch reaktionäre Maßregeln, die zu anderen Zeiten nicht möglich gewesen wären, durchzuführen. Alle bürgerliche Freiheiten und Gerecht¬ same — sowohl die persönliche Unverletzlichkeit wie auch die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit — sind tatsächlich aufgehoben oder von der Willkür der Polizeibehörden abhängig; der Landtag ist trotz der deutlichen Verordnung des Grundgesetzes im Jahre 1915 nicht einberufen worden, und finnische Bürger leben noch immer als Verbannte in Sibirien. Zu der politischen Verfolgung gesellt sich der wirtschaftliche Druck. Die Lebensmittelpreise sind gestiegen wie nie zuvor, und dennoch ist die Arbeiter¬ klasse außerstande, ihre Löhne in demselben Maße zu steigern, weil der Streik — das wichtigste Kampfmittel der Arbeiter — durch die Behörden verboten ist. Unter solchen Verhältnissen sollte man sich denken können, welche Stimmung im finnischen Volke herrscht. Viele lange Jahre hindurch hat dieses Volk schwer um die Bewahrung seiner konstitutionellen Freiheit und seines Rechtes auf nationale Selbstbestimmung gekämpft, und die letzte Zeit ist keineswegs ge¬ eignet gewesen, uns gegen die Unterdrückerklasse, die uns dieses Recht zu rauben versucht, milder zu stimmen. Weit entfernt, auf die Widerstandskraft des finnischen Volkes lähmend zu wirken, wie man an einigen Stellen im Auslande zu glauben scheint, haben die Ereignisse der letzten Zeiten ein Wiedererwachen des Willens der Nation zum Leben ihres eigenen Lebens bewirkt. Die Hoffnungen können mehr oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/184>, abgerufen am 25.08.2024.