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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Konservativismus und Neuorientierung

Neuerlich mehrt sich die Besorgnis. Auch die als Ganzes vortreffliche Rede,
die v. Heydebrand im August in Frankfurt hielt: sie enttäuschte. Gewiß wird
man ihr gern beistimmen, wenn sie die Wahlrechtsreform nicht als den Kern
der Neuorientierung gelten lassen will. Aber daß sie den Versuch machte, die
Aufmerksamkeit von dieser immerhin wichtigen Frage auf ein paar unverbindliche
Redewendungen abzulenken und in keiner Weise ein Verständnis für die
Motive durchblicken ließ, aus denen in weiten Kreisen, auch in den konservativen,
eine tiefbegründete Unzufriedenheit mit diesem unglückseligen Wahlmodus zu
finden ist: das war taktisch verfehlt und im vaterländischen wie im konservativen
Sinne tief bedauerlich.

Denn was gilt es zu erhalten, wenn dem preußischen Staate -- wie wir
Herrn von Heydebrand aus innerster Seele beistimmen -- seine Eigenart aller
Zeitenwende zum Trotz erhalten bleiben soll? Sicher ist das Großagrariertum
eine feste Stütze Preußens. Niemand wird sie auch fürder missen wollen. Aber
war es nicht die Genialität führender preußischer Staatsmänner und Armee¬
führer, daß sie in die große Heereserneuerung die geistigen Kräfte des deutschen
Idealismus hineinlenkten und neben Geburt und Tüchtigkeit auch die Bildung
zum unerläßlichen Bestandteil der Offizierauswahl erhoben? Ist es nicht vor
der ganzen Welt der Stolz unserer Beamtenschaft, daß sie dies Maß an Leistung
und an Haltung aufbringt, obgleich sie. sofern man irgend modern-kapitalistische
Maßstäbe anlegt, ebenso wie das Offizierskorps geradezu arm erscheint? Und
das preußische Wahlrecht? Geburt bedeutet ihm nichts, Bewährung im Staats¬
dienst bedeutet ihm nichts, Bildung bedeutet ihm nichts: der dicke Geldbeutel,
den Erbschaft und Verdienst so gut wie Wucher zu füllen vermögen, er ent¬
scheidet alles. Wo um alles in der Welt ist nun das Urpreußische, das mit
diesem Wahlrecht unseligen belgischen Ursprungs gerettet werden soll?

Das ist auch eine Kritik an diesem Wahlrecht, aber man kann ihr wahr¬
haftig nicht nachsagen, sie sei demokratisch. Sie verdient es viel eher konservativ
genannt zu werden, als jener Starrsinn, der auchinnerhalb des Konservativismus
nur die Herrschaft einer Berufs- und Interessengruppe sicherstellen will, indem
er ihr durch eine Art prästaoilierter Harmonie, durch eine List der Unvernunft
das Gewähltwerden mittels dieses so über alle Maßen unpreußischen Wahlrechts
erleichtert, und der gar nicht merkt, daß er den konservativen Gedanken selbst
damit an den Rand des Abgrunds bringt. Und dabei gibt auch Herr von
Heydebrand, obschon ein wenig gewunden, zu, auch ihm erschiene in der Reife
seines jetzigen Alters das preußische Wahlrecht nicht als das ideale. Wenn
nun die Preußischen Jahrbücher von der konservativen Fraktion sagen: "Statt
also ihrerseits die Führung zu ergreifen, tat sie das Odium ödester Negation
und Reaktion auf sich -- und das ganz ohne Not, da sie prinzipiell zu einer
Wahlrechtsänderung bereit ist. Diese Taktik verstehe, wer kann!", sind diese
Worte nicht doppelt und dreimal zu unterstreichen? Muß nicht jedem Konser¬
vativen die ernste Sorge aufsteigen, die politische Reife, die die konservative


Konservativismus und Neuorientierung

Neuerlich mehrt sich die Besorgnis. Auch die als Ganzes vortreffliche Rede,
die v. Heydebrand im August in Frankfurt hielt: sie enttäuschte. Gewiß wird
man ihr gern beistimmen, wenn sie die Wahlrechtsreform nicht als den Kern
der Neuorientierung gelten lassen will. Aber daß sie den Versuch machte, die
Aufmerksamkeit von dieser immerhin wichtigen Frage auf ein paar unverbindliche
Redewendungen abzulenken und in keiner Weise ein Verständnis für die
Motive durchblicken ließ, aus denen in weiten Kreisen, auch in den konservativen,
eine tiefbegründete Unzufriedenheit mit diesem unglückseligen Wahlmodus zu
finden ist: das war taktisch verfehlt und im vaterländischen wie im konservativen
Sinne tief bedauerlich.

Denn was gilt es zu erhalten, wenn dem preußischen Staate — wie wir
Herrn von Heydebrand aus innerster Seele beistimmen — seine Eigenart aller
Zeitenwende zum Trotz erhalten bleiben soll? Sicher ist das Großagrariertum
eine feste Stütze Preußens. Niemand wird sie auch fürder missen wollen. Aber
war es nicht die Genialität führender preußischer Staatsmänner und Armee¬
führer, daß sie in die große Heereserneuerung die geistigen Kräfte des deutschen
Idealismus hineinlenkten und neben Geburt und Tüchtigkeit auch die Bildung
zum unerläßlichen Bestandteil der Offizierauswahl erhoben? Ist es nicht vor
der ganzen Welt der Stolz unserer Beamtenschaft, daß sie dies Maß an Leistung
und an Haltung aufbringt, obgleich sie. sofern man irgend modern-kapitalistische
Maßstäbe anlegt, ebenso wie das Offizierskorps geradezu arm erscheint? Und
das preußische Wahlrecht? Geburt bedeutet ihm nichts, Bewährung im Staats¬
dienst bedeutet ihm nichts, Bildung bedeutet ihm nichts: der dicke Geldbeutel,
den Erbschaft und Verdienst so gut wie Wucher zu füllen vermögen, er ent¬
scheidet alles. Wo um alles in der Welt ist nun das Urpreußische, das mit
diesem Wahlrecht unseligen belgischen Ursprungs gerettet werden soll?

Das ist auch eine Kritik an diesem Wahlrecht, aber man kann ihr wahr¬
haftig nicht nachsagen, sie sei demokratisch. Sie verdient es viel eher konservativ
genannt zu werden, als jener Starrsinn, der auchinnerhalb des Konservativismus
nur die Herrschaft einer Berufs- und Interessengruppe sicherstellen will, indem
er ihr durch eine Art prästaoilierter Harmonie, durch eine List der Unvernunft
das Gewähltwerden mittels dieses so über alle Maßen unpreußischen Wahlrechts
erleichtert, und der gar nicht merkt, daß er den konservativen Gedanken selbst
damit an den Rand des Abgrunds bringt. Und dabei gibt auch Herr von
Heydebrand, obschon ein wenig gewunden, zu, auch ihm erschiene in der Reife
seines jetzigen Alters das preußische Wahlrecht nicht als das ideale. Wenn
nun die Preußischen Jahrbücher von der konservativen Fraktion sagen: „Statt
also ihrerseits die Führung zu ergreifen, tat sie das Odium ödester Negation
und Reaktion auf sich — und das ganz ohne Not, da sie prinzipiell zu einer
Wahlrechtsänderung bereit ist. Diese Taktik verstehe, wer kann!", sind diese
Worte nicht doppelt und dreimal zu unterstreichen? Muß nicht jedem Konser¬
vativen die ernste Sorge aufsteigen, die politische Reife, die die konservative


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[0176] Konservativismus und Neuorientierung Neuerlich mehrt sich die Besorgnis. Auch die als Ganzes vortreffliche Rede, die v. Heydebrand im August in Frankfurt hielt: sie enttäuschte. Gewiß wird man ihr gern beistimmen, wenn sie die Wahlrechtsreform nicht als den Kern der Neuorientierung gelten lassen will. Aber daß sie den Versuch machte, die Aufmerksamkeit von dieser immerhin wichtigen Frage auf ein paar unverbindliche Redewendungen abzulenken und in keiner Weise ein Verständnis für die Motive durchblicken ließ, aus denen in weiten Kreisen, auch in den konservativen, eine tiefbegründete Unzufriedenheit mit diesem unglückseligen Wahlmodus zu finden ist: das war taktisch verfehlt und im vaterländischen wie im konservativen Sinne tief bedauerlich. Denn was gilt es zu erhalten, wenn dem preußischen Staate — wie wir Herrn von Heydebrand aus innerster Seele beistimmen — seine Eigenart aller Zeitenwende zum Trotz erhalten bleiben soll? Sicher ist das Großagrariertum eine feste Stütze Preußens. Niemand wird sie auch fürder missen wollen. Aber war es nicht die Genialität führender preußischer Staatsmänner und Armee¬ führer, daß sie in die große Heereserneuerung die geistigen Kräfte des deutschen Idealismus hineinlenkten und neben Geburt und Tüchtigkeit auch die Bildung zum unerläßlichen Bestandteil der Offizierauswahl erhoben? Ist es nicht vor der ganzen Welt der Stolz unserer Beamtenschaft, daß sie dies Maß an Leistung und an Haltung aufbringt, obgleich sie. sofern man irgend modern-kapitalistische Maßstäbe anlegt, ebenso wie das Offizierskorps geradezu arm erscheint? Und das preußische Wahlrecht? Geburt bedeutet ihm nichts, Bewährung im Staats¬ dienst bedeutet ihm nichts, Bildung bedeutet ihm nichts: der dicke Geldbeutel, den Erbschaft und Verdienst so gut wie Wucher zu füllen vermögen, er ent¬ scheidet alles. Wo um alles in der Welt ist nun das Urpreußische, das mit diesem Wahlrecht unseligen belgischen Ursprungs gerettet werden soll? Das ist auch eine Kritik an diesem Wahlrecht, aber man kann ihr wahr¬ haftig nicht nachsagen, sie sei demokratisch. Sie verdient es viel eher konservativ genannt zu werden, als jener Starrsinn, der auchinnerhalb des Konservativismus nur die Herrschaft einer Berufs- und Interessengruppe sicherstellen will, indem er ihr durch eine Art prästaoilierter Harmonie, durch eine List der Unvernunft das Gewähltwerden mittels dieses so über alle Maßen unpreußischen Wahlrechts erleichtert, und der gar nicht merkt, daß er den konservativen Gedanken selbst damit an den Rand des Abgrunds bringt. Und dabei gibt auch Herr von Heydebrand, obschon ein wenig gewunden, zu, auch ihm erschiene in der Reife seines jetzigen Alters das preußische Wahlrecht nicht als das ideale. Wenn nun die Preußischen Jahrbücher von der konservativen Fraktion sagen: „Statt also ihrerseits die Führung zu ergreifen, tat sie das Odium ödester Negation und Reaktion auf sich — und das ganz ohne Not, da sie prinzipiell zu einer Wahlrechtsänderung bereit ist. Diese Taktik verstehe, wer kann!", sind diese Worte nicht doppelt und dreimal zu unterstreichen? Muß nicht jedem Konser¬ vativen die ernste Sorge aufsteigen, die politische Reife, die die konservative

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/176>, abgerufen am 25.08.2024.