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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft

Macht Litauens begründet und durch immer weitere Unterwerfungen russischer
Teilfürstentümer eine litauische Großmacht geschaffen. Damit gelang es ihnen,
das weitere Vordringen des deutschen Ordens zum Stehen zu bringen. Der
beinahe bis zum Meere vordringende Keil zwischen Ostpreußen und Kurland
wurde dadurch dauernd behauptet. Daraus ergab sich die weitere folgenschwere
Erscheinung, daß der Bauernstand in den baltischen Provinzen im Gegensatze
zu Ritterschaft und Bürgern bis auf den heutigen Tag fremdstämmig blieb, da
der deutsche Bauer jener Zeit niemals zu Schiff, sondern im Wagen eine neue
Heimat suchte.

Es waren wesentlich die unterworfenen Russen, die diese kriegerische Ent¬
wicklung Litauens und seine Kämpfe mit dem deutschen Orden ermöglichten.
Das Reich Gedimins erstreckte sich im Westen ungefähr bis zur heutigen öst¬
lichen Sprachgrenze des Polentums, griff also noch nach dem seit 1815 so¬
genannten Kongreßpolen an dessen nordöstlicher und südöstlicher Ecke hinüber.
Dagegen umfaßte es im Osten ganz Westrußland bis vor die Tore von
Smolensk und einen Teil von Kleinrußland, so daß Tschernigow und Kiew
litauische Städte waren.

Aus politischen Gründen, um dem deutschen Orden den Vorwand des
Glaubenskrieges zu entziehen, liebäugelte Gedimin auch wieder einmal mit
dem Gedanken der Annahme des Christentums und trat in Beziehungen zu
Papst Johann dem Zweiundzwanzigsten. Tatsächlich dachte Gedimin gar nicht
an den Übertritt und nahm auch seine früheren Erklärungen zurück, da er
seinen politischen Zweck, die Preisgabe des Ordens seitens des Papstes, nicht
erreichte. Doch übte er weitgehende Duldung. Das abendländische Christen¬
tum wurde ebensowenig verfolgt wie das griechische, zu dem die ehemals
russischen Gebiete gehörten. Nur das eigentliche litauische Stammland blieb
heidnisch.

Auf Gedimin folgten seine Söhne, von denen sich aber nur zwei, Olgerd
und Kestuit, behaupteten. Bei der endgültigen' Zweiteilung erhielt Kestuit die
eigentlich litauischen, Olgerd die russischen Gebiete, die als die wertvolleren
galten, unter Anerkennung der oberherrlicher Stellung Olgerds. Wir dürfen
uns das Verhältnis wohl ungefähr so denken wie eine Teilung des fränkischen
Reiches in Austrasien und Neustrien, wobei Neustrien als das Land alter
Kultur wertvoller erschien, obgleich nur der größte Teil des Kriegsadels
fränkischen Stammes war. Kestuit war der eigentliche Kämpfer gegen den
deutschen Orden und verhinderte endgültig die Landverbindung Preußens mit
den baltischen Provinzen. Olgerd wandte sich mehr nach Osten. Im Kampfe
mit den Tartaren unterwarf er das ganze Dnjestr-Becken bis zum unteren
Laufe des Dujepr. Wenn die Polen von einem Reiche vom Meere zum
Meere träumen, so handelt es sich dabei, soweit das Schwarze Meer in Be¬
tracht kommt, um alte litauische Eroberungen. Im Kampfe mit den Polen be¬
hauptete er Wolhynien. Im Jahre 1377 starb Olgerd.


Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft

Macht Litauens begründet und durch immer weitere Unterwerfungen russischer
Teilfürstentümer eine litauische Großmacht geschaffen. Damit gelang es ihnen,
das weitere Vordringen des deutschen Ordens zum Stehen zu bringen. Der
beinahe bis zum Meere vordringende Keil zwischen Ostpreußen und Kurland
wurde dadurch dauernd behauptet. Daraus ergab sich die weitere folgenschwere
Erscheinung, daß der Bauernstand in den baltischen Provinzen im Gegensatze
zu Ritterschaft und Bürgern bis auf den heutigen Tag fremdstämmig blieb, da
der deutsche Bauer jener Zeit niemals zu Schiff, sondern im Wagen eine neue
Heimat suchte.

Es waren wesentlich die unterworfenen Russen, die diese kriegerische Ent¬
wicklung Litauens und seine Kämpfe mit dem deutschen Orden ermöglichten.
Das Reich Gedimins erstreckte sich im Westen ungefähr bis zur heutigen öst¬
lichen Sprachgrenze des Polentums, griff also noch nach dem seit 1815 so¬
genannten Kongreßpolen an dessen nordöstlicher und südöstlicher Ecke hinüber.
Dagegen umfaßte es im Osten ganz Westrußland bis vor die Tore von
Smolensk und einen Teil von Kleinrußland, so daß Tschernigow und Kiew
litauische Städte waren.

Aus politischen Gründen, um dem deutschen Orden den Vorwand des
Glaubenskrieges zu entziehen, liebäugelte Gedimin auch wieder einmal mit
dem Gedanken der Annahme des Christentums und trat in Beziehungen zu
Papst Johann dem Zweiundzwanzigsten. Tatsächlich dachte Gedimin gar nicht
an den Übertritt und nahm auch seine früheren Erklärungen zurück, da er
seinen politischen Zweck, die Preisgabe des Ordens seitens des Papstes, nicht
erreichte. Doch übte er weitgehende Duldung. Das abendländische Christen¬
tum wurde ebensowenig verfolgt wie das griechische, zu dem die ehemals
russischen Gebiete gehörten. Nur das eigentliche litauische Stammland blieb
heidnisch.

Auf Gedimin folgten seine Söhne, von denen sich aber nur zwei, Olgerd
und Kestuit, behaupteten. Bei der endgültigen' Zweiteilung erhielt Kestuit die
eigentlich litauischen, Olgerd die russischen Gebiete, die als die wertvolleren
galten, unter Anerkennung der oberherrlicher Stellung Olgerds. Wir dürfen
uns das Verhältnis wohl ungefähr so denken wie eine Teilung des fränkischen
Reiches in Austrasien und Neustrien, wobei Neustrien als das Land alter
Kultur wertvoller erschien, obgleich nur der größte Teil des Kriegsadels
fränkischen Stammes war. Kestuit war der eigentliche Kämpfer gegen den
deutschen Orden und verhinderte endgültig die Landverbindung Preußens mit
den baltischen Provinzen. Olgerd wandte sich mehr nach Osten. Im Kampfe
mit den Tartaren unterwarf er das ganze Dnjestr-Becken bis zum unteren
Laufe des Dujepr. Wenn die Polen von einem Reiche vom Meere zum
Meere träumen, so handelt es sich dabei, soweit das Schwarze Meer in Be¬
tracht kommt, um alte litauische Eroberungen. Im Kampfe mit den Polen be¬
hauptete er Wolhynien. Im Jahre 1377 starb Olgerd.


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[0127] Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft Macht Litauens begründet und durch immer weitere Unterwerfungen russischer Teilfürstentümer eine litauische Großmacht geschaffen. Damit gelang es ihnen, das weitere Vordringen des deutschen Ordens zum Stehen zu bringen. Der beinahe bis zum Meere vordringende Keil zwischen Ostpreußen und Kurland wurde dadurch dauernd behauptet. Daraus ergab sich die weitere folgenschwere Erscheinung, daß der Bauernstand in den baltischen Provinzen im Gegensatze zu Ritterschaft und Bürgern bis auf den heutigen Tag fremdstämmig blieb, da der deutsche Bauer jener Zeit niemals zu Schiff, sondern im Wagen eine neue Heimat suchte. Es waren wesentlich die unterworfenen Russen, die diese kriegerische Ent¬ wicklung Litauens und seine Kämpfe mit dem deutschen Orden ermöglichten. Das Reich Gedimins erstreckte sich im Westen ungefähr bis zur heutigen öst¬ lichen Sprachgrenze des Polentums, griff also noch nach dem seit 1815 so¬ genannten Kongreßpolen an dessen nordöstlicher und südöstlicher Ecke hinüber. Dagegen umfaßte es im Osten ganz Westrußland bis vor die Tore von Smolensk und einen Teil von Kleinrußland, so daß Tschernigow und Kiew litauische Städte waren. Aus politischen Gründen, um dem deutschen Orden den Vorwand des Glaubenskrieges zu entziehen, liebäugelte Gedimin auch wieder einmal mit dem Gedanken der Annahme des Christentums und trat in Beziehungen zu Papst Johann dem Zweiundzwanzigsten. Tatsächlich dachte Gedimin gar nicht an den Übertritt und nahm auch seine früheren Erklärungen zurück, da er seinen politischen Zweck, die Preisgabe des Ordens seitens des Papstes, nicht erreichte. Doch übte er weitgehende Duldung. Das abendländische Christen¬ tum wurde ebensowenig verfolgt wie das griechische, zu dem die ehemals russischen Gebiete gehörten. Nur das eigentliche litauische Stammland blieb heidnisch. Auf Gedimin folgten seine Söhne, von denen sich aber nur zwei, Olgerd und Kestuit, behaupteten. Bei der endgültigen' Zweiteilung erhielt Kestuit die eigentlich litauischen, Olgerd die russischen Gebiete, die als die wertvolleren galten, unter Anerkennung der oberherrlicher Stellung Olgerds. Wir dürfen uns das Verhältnis wohl ungefähr so denken wie eine Teilung des fränkischen Reiches in Austrasien und Neustrien, wobei Neustrien als das Land alter Kultur wertvoller erschien, obgleich nur der größte Teil des Kriegsadels fränkischen Stammes war. Kestuit war der eigentliche Kämpfer gegen den deutschen Orden und verhinderte endgültig die Landverbindung Preußens mit den baltischen Provinzen. Olgerd wandte sich mehr nach Osten. Im Kampfe mit den Tartaren unterwarf er das ganze Dnjestr-Becken bis zum unteren Laufe des Dujepr. Wenn die Polen von einem Reiche vom Meere zum Meere träumen, so handelt es sich dabei, soweit das Schwarze Meer in Be¬ tracht kommt, um alte litauische Eroberungen. Im Kampfe mit den Polen be¬ hauptete er Wolhynien. Im Jahre 1377 starb Olgerd.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/127>, abgerufen am 25.08.2024.