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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft

lettische Mundart ist abgeschliffener, die litauische hat einen höchst altertümlichen
Charakter und ist deshalb eine Fundgrube für Sprachforscher. Eine be¬
sondere Literatur haben, abgesehen von Volksliedern, beide Sprachzweige nicht
hervorgebracht. Nach den letzten statistischen Angaben von 1910 gab es in
Preußen 106 000 Menschen mit titanischer Muttersprache, 9000 sprachen deutsch
und litauisch, Rußland zählte drei Millionen Litauer und Letten, die sich bei¬
nahe gleichmäßig auf Letten und Litauer verteilen dürften, vielleicht mit einem
kleinen Übergewicht der letzteren.

Das eigentliche Litauen ist das am spätesten zum Christentum bekehrte
Land Europas.

Polen und Rußland waren etwa um das Jahr 1000 christlich geworden,
die baltischen Provinzen bis etwa 1255, Preußen bis etwa 1283. Von allen
Seiten drängte das Christentum auf den letzten heidnischen Winkel zwischen
Preußen. Kurland und Riemen, vom Osten in der griechischen Form, die Ru߬
land angenommen hatte, von allen anderen Seiten in der Form der römisch¬
katholischen Kirche. Endlich in der Zeit von 1386 bis 1417 gelang auch die
Bekehrung des letzten europäischen Heidenlandes, und zwar war es die Kirche
von Rom und nicht von Konstantinopel, der die Litauer sich zuwandten und
mit Ausnahme der evangelischen Litauer in Ostpreußen bis auf den heutigen
Tag treu geblieben sind.

Während die Litauer anfangs gleich den alten Deutschen in einzelnen
Stämmen unter Fürsten lebten, brachte die kriegerische Bewegung von deutscher
wie von russischer Seite den bisher voneinander unabhängigen Stämmen die
staatliche Einheit. Mindowe, der Sohn Ringolds, einer der Fürsten, unter¬
warf sich 1250 als Großfürst das ganze Land und auch schon Teile des be¬
nachbarten russischen Gebietes von Polozk, Witebsk und Smolensk. Um einen
Rückhalt gegen die russischen und polnischen Fürsten zu finden, ließ er sich
1251 taufen, trat dem deutschen Orden Samaiten und Schalauen ab und soll
ihm sogar im Falle kinderlosen Absterbens sein ganzes Land versprochen
haben. Papst Innocenz der Vierte war über das neue Schäflein seiner Herde
hoch erfreut und ließ ihn durch den Bischof von Kulm zum Könige krönen.
Doch die Freude dauerte nicht lange. Da die abgetretenen Gebiete sich gegen
den Orden empörten und dieser auch sonst in Schwierigkeit geriet, fiel
Mindowe 1262 vom Christentum wieder ab und begann im Bunde mit dem
russischen Fürsten Alexander Newski den Kampf gegen den Orden. Bald
darauf wurde er infolge einer Verschwörung titanischer und russischer Fürsten
ermordet, und Litauen zerfiel wieder in einzelne Herrschaften unter ver¬
schiedenen Häuptlingen.

Doch aus dem Lehnsadel, den Mindowe durch Einführung des Lehns¬
systems herangebildet hatte, erstand zwischen 1282 und 1291 ein neues Herrscher¬
geschlecht. Der erste Fürst aus ihm war Lutuwer, ihm folgte 1293 sein Sohn
Wider und diesem ein zweiter Sohn Gedimin (1316--1341). Sie haben die


Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft

lettische Mundart ist abgeschliffener, die litauische hat einen höchst altertümlichen
Charakter und ist deshalb eine Fundgrube für Sprachforscher. Eine be¬
sondere Literatur haben, abgesehen von Volksliedern, beide Sprachzweige nicht
hervorgebracht. Nach den letzten statistischen Angaben von 1910 gab es in
Preußen 106 000 Menschen mit titanischer Muttersprache, 9000 sprachen deutsch
und litauisch, Rußland zählte drei Millionen Litauer und Letten, die sich bei¬
nahe gleichmäßig auf Letten und Litauer verteilen dürften, vielleicht mit einem
kleinen Übergewicht der letzteren.

Das eigentliche Litauen ist das am spätesten zum Christentum bekehrte
Land Europas.

Polen und Rußland waren etwa um das Jahr 1000 christlich geworden,
die baltischen Provinzen bis etwa 1255, Preußen bis etwa 1283. Von allen
Seiten drängte das Christentum auf den letzten heidnischen Winkel zwischen
Preußen. Kurland und Riemen, vom Osten in der griechischen Form, die Ru߬
land angenommen hatte, von allen anderen Seiten in der Form der römisch¬
katholischen Kirche. Endlich in der Zeit von 1386 bis 1417 gelang auch die
Bekehrung des letzten europäischen Heidenlandes, und zwar war es die Kirche
von Rom und nicht von Konstantinopel, der die Litauer sich zuwandten und
mit Ausnahme der evangelischen Litauer in Ostpreußen bis auf den heutigen
Tag treu geblieben sind.

Während die Litauer anfangs gleich den alten Deutschen in einzelnen
Stämmen unter Fürsten lebten, brachte die kriegerische Bewegung von deutscher
wie von russischer Seite den bisher voneinander unabhängigen Stämmen die
staatliche Einheit. Mindowe, der Sohn Ringolds, einer der Fürsten, unter¬
warf sich 1250 als Großfürst das ganze Land und auch schon Teile des be¬
nachbarten russischen Gebietes von Polozk, Witebsk und Smolensk. Um einen
Rückhalt gegen die russischen und polnischen Fürsten zu finden, ließ er sich
1251 taufen, trat dem deutschen Orden Samaiten und Schalauen ab und soll
ihm sogar im Falle kinderlosen Absterbens sein ganzes Land versprochen
haben. Papst Innocenz der Vierte war über das neue Schäflein seiner Herde
hoch erfreut und ließ ihn durch den Bischof von Kulm zum Könige krönen.
Doch die Freude dauerte nicht lange. Da die abgetretenen Gebiete sich gegen
den Orden empörten und dieser auch sonst in Schwierigkeit geriet, fiel
Mindowe 1262 vom Christentum wieder ab und begann im Bunde mit dem
russischen Fürsten Alexander Newski den Kampf gegen den Orden. Bald
darauf wurde er infolge einer Verschwörung titanischer und russischer Fürsten
ermordet, und Litauen zerfiel wieder in einzelne Herrschaften unter ver¬
schiedenen Häuptlingen.

Doch aus dem Lehnsadel, den Mindowe durch Einführung des Lehns¬
systems herangebildet hatte, erstand zwischen 1282 und 1291 ein neues Herrscher¬
geschlecht. Der erste Fürst aus ihm war Lutuwer, ihm folgte 1293 sein Sohn
Wider und diesem ein zweiter Sohn Gedimin (1316—1341). Sie haben die


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[0126] Aus Litauens Vergangenheit zu Litauens Zukunft lettische Mundart ist abgeschliffener, die litauische hat einen höchst altertümlichen Charakter und ist deshalb eine Fundgrube für Sprachforscher. Eine be¬ sondere Literatur haben, abgesehen von Volksliedern, beide Sprachzweige nicht hervorgebracht. Nach den letzten statistischen Angaben von 1910 gab es in Preußen 106 000 Menschen mit titanischer Muttersprache, 9000 sprachen deutsch und litauisch, Rußland zählte drei Millionen Litauer und Letten, die sich bei¬ nahe gleichmäßig auf Letten und Litauer verteilen dürften, vielleicht mit einem kleinen Übergewicht der letzteren. Das eigentliche Litauen ist das am spätesten zum Christentum bekehrte Land Europas. Polen und Rußland waren etwa um das Jahr 1000 christlich geworden, die baltischen Provinzen bis etwa 1255, Preußen bis etwa 1283. Von allen Seiten drängte das Christentum auf den letzten heidnischen Winkel zwischen Preußen. Kurland und Riemen, vom Osten in der griechischen Form, die Ru߬ land angenommen hatte, von allen anderen Seiten in der Form der römisch¬ katholischen Kirche. Endlich in der Zeit von 1386 bis 1417 gelang auch die Bekehrung des letzten europäischen Heidenlandes, und zwar war es die Kirche von Rom und nicht von Konstantinopel, der die Litauer sich zuwandten und mit Ausnahme der evangelischen Litauer in Ostpreußen bis auf den heutigen Tag treu geblieben sind. Während die Litauer anfangs gleich den alten Deutschen in einzelnen Stämmen unter Fürsten lebten, brachte die kriegerische Bewegung von deutscher wie von russischer Seite den bisher voneinander unabhängigen Stämmen die staatliche Einheit. Mindowe, der Sohn Ringolds, einer der Fürsten, unter¬ warf sich 1250 als Großfürst das ganze Land und auch schon Teile des be¬ nachbarten russischen Gebietes von Polozk, Witebsk und Smolensk. Um einen Rückhalt gegen die russischen und polnischen Fürsten zu finden, ließ er sich 1251 taufen, trat dem deutschen Orden Samaiten und Schalauen ab und soll ihm sogar im Falle kinderlosen Absterbens sein ganzes Land versprochen haben. Papst Innocenz der Vierte war über das neue Schäflein seiner Herde hoch erfreut und ließ ihn durch den Bischof von Kulm zum Könige krönen. Doch die Freude dauerte nicht lange. Da die abgetretenen Gebiete sich gegen den Orden empörten und dieser auch sonst in Schwierigkeit geriet, fiel Mindowe 1262 vom Christentum wieder ab und begann im Bunde mit dem russischen Fürsten Alexander Newski den Kampf gegen den Orden. Bald darauf wurde er infolge einer Verschwörung titanischer und russischer Fürsten ermordet, und Litauen zerfiel wieder in einzelne Herrschaften unter ver¬ schiedenen Häuptlingen. Doch aus dem Lehnsadel, den Mindowe durch Einführung des Lehns¬ systems herangebildet hatte, erstand zwischen 1282 und 1291 ein neues Herrscher¬ geschlecht. Der erste Fürst aus ihm war Lutuwer, ihm folgte 1293 sein Sohn Wider und diesem ein zweiter Sohn Gedimin (1316—1341). Sie haben die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/126>, abgerufen am 23.07.2024.