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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Rasputin

wurde. Diese Abtötung suchte man auf dem Wege langandauernder Fasten
-- bis zu 40 Tagen -- durch anstrengende Gebetübungen, durch Tragen
schwerer eiserner Fesseln zu erreichen." Es hat zu allen Zeiten Übergänge
dieser Übungen auf das erotische Gebiet gegeben und das Neuchlnstentum
(I^socKI^8toxv8ctitseKlna), wie es uns Prugawin aus der gegenwärtigen
höchsten Petersburger Gesellschaft schildert, hat dem alten Bilde neue Züge in
dieser Richtung hinzugefügt. Als eine der religiösen Übungen, wie sie die
Anhänger dieser Richtung betreiben, wird vor allem "die Versuchung des
Fleisches" und die "Verbrennung der Leidenschaften" genannt. Es bedarf
keiner Ausführung, was unter dem Deckmantel solcher religiöser Praktiken
alles betrieben werden kann. In der russischen Presse wird es deutlich und
ohne Scheu ausgesprochen. Wir haben keine Veranlassung, es zu wiederholen.
Wie sind nun die Leute, die dieses Ncochlnstentum treiben, in die höchste Ge¬
sellschaft hineingekommen? Durch die hohe Geistlichkeit. Die in der ortho¬
doxen Kirche weitverbreitete "Theorie der Prawedniki (der Gerechten)" ist eine
der Ursachen davon.

"Einer der glühenden Anhänger des Bischofs Theophan hat diese Theorie
folgendermaßen auseinandergesetzt: der Bischof war tief davon überzeugt, daß
es bei uns in Rußland außer den Heiligen und Gerechten, die von der Kirche
anerkannt und kanonisiert find, noch besondere, sozusagen irreguläre Heilige
gibt. Wie es reguläre Soldaten gibt und irreguläre, z. B. die Kosaken, so
sind auch diese Heiligen, diese Gerechten vorläufig noch nicht von der Kirche
anerkannt. Das sind die verschiedensten Arten: .Gute", .Seher", .Pilger",
.Einfältige' usw. Der Bischof war fest davon überzeugt, daß sich unter jenen
Leuten wirklich bemerkenswerte Personen finden, die ungewöhnliche Seelenkräfte
besitzen."

Es scheint als ob es gerade Theophan gewesen ist, der Rasputin an den
Hof gebracht hat. Als sich der Bischof davon überzeugte, daß der von ihm
empfohlene "Prostez"*) "ein grober und schmutziger Wollüstling war, der offen
und ausgedehnt die verschiedensten Praktiken der .Versuchung des Fleisches"
und der .Verbrennung der Leidenschaften" ausübte" -- da war sein offener
Einspruch zu spät. Die einzige Folge der Warnung war, daß Theophan die
Akademie und Petersburg verlassen und weithin in seine Wunsche Eparchie
abreisen mußte.

Man kann sich vorstellen, wie sehr solch ein Mann, dem man offen der¬
artiges nachsagte, den Haß und die Wut nicht nur der politischen Parteien,
denen er im Wege war, sondern auch eines Teiles der höchsten Gesellschaft,
der nichts mit ihm zu tun haben wollte, auf sich zog. So war Rasputin
seines Lebens schon lange nicht sicher. Bekannt ist der "Unfall" mit seinem



") Wörtliche Übersetzung: der Einfache, d. h. ein Mann, der aus dem Volk hervor¬
gegangen ist. Meist sind es Leute ganz einfacher Abkunft, die solche "Sehergaben"' entfalten.
Rasputin

wurde. Diese Abtötung suchte man auf dem Wege langandauernder Fasten
— bis zu 40 Tagen — durch anstrengende Gebetübungen, durch Tragen
schwerer eiserner Fesseln zu erreichen." Es hat zu allen Zeiten Übergänge
dieser Übungen auf das erotische Gebiet gegeben und das Neuchlnstentum
(I^socKI^8toxv8ctitseKlna), wie es uns Prugawin aus der gegenwärtigen
höchsten Petersburger Gesellschaft schildert, hat dem alten Bilde neue Züge in
dieser Richtung hinzugefügt. Als eine der religiösen Übungen, wie sie die
Anhänger dieser Richtung betreiben, wird vor allem „die Versuchung des
Fleisches" und die „Verbrennung der Leidenschaften" genannt. Es bedarf
keiner Ausführung, was unter dem Deckmantel solcher religiöser Praktiken
alles betrieben werden kann. In der russischen Presse wird es deutlich und
ohne Scheu ausgesprochen. Wir haben keine Veranlassung, es zu wiederholen.
Wie sind nun die Leute, die dieses Ncochlnstentum treiben, in die höchste Ge¬
sellschaft hineingekommen? Durch die hohe Geistlichkeit. Die in der ortho¬
doxen Kirche weitverbreitete „Theorie der Prawedniki (der Gerechten)" ist eine
der Ursachen davon.

„Einer der glühenden Anhänger des Bischofs Theophan hat diese Theorie
folgendermaßen auseinandergesetzt: der Bischof war tief davon überzeugt, daß
es bei uns in Rußland außer den Heiligen und Gerechten, die von der Kirche
anerkannt und kanonisiert find, noch besondere, sozusagen irreguläre Heilige
gibt. Wie es reguläre Soldaten gibt und irreguläre, z. B. die Kosaken, so
sind auch diese Heiligen, diese Gerechten vorläufig noch nicht von der Kirche
anerkannt. Das sind die verschiedensten Arten: .Gute", .Seher", .Pilger",
.Einfältige' usw. Der Bischof war fest davon überzeugt, daß sich unter jenen
Leuten wirklich bemerkenswerte Personen finden, die ungewöhnliche Seelenkräfte
besitzen."

Es scheint als ob es gerade Theophan gewesen ist, der Rasputin an den
Hof gebracht hat. Als sich der Bischof davon überzeugte, daß der von ihm
empfohlene „Prostez"*) „ein grober und schmutziger Wollüstling war, der offen
und ausgedehnt die verschiedensten Praktiken der .Versuchung des Fleisches"
und der .Verbrennung der Leidenschaften" ausübte" — da war sein offener
Einspruch zu spät. Die einzige Folge der Warnung war, daß Theophan die
Akademie und Petersburg verlassen und weithin in seine Wunsche Eparchie
abreisen mußte.

Man kann sich vorstellen, wie sehr solch ein Mann, dem man offen der¬
artiges nachsagte, den Haß und die Wut nicht nur der politischen Parteien,
denen er im Wege war, sondern auch eines Teiles der höchsten Gesellschaft,
der nichts mit ihm zu tun haben wollte, auf sich zog. So war Rasputin
seines Lebens schon lange nicht sicher. Bekannt ist der „Unfall" mit seinem



") Wörtliche Übersetzung: der Einfache, d. h. ein Mann, der aus dem Volk hervor¬
gegangen ist. Meist sind es Leute ganz einfacher Abkunft, die solche „Sehergaben"' entfalten.
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[0113] Rasputin wurde. Diese Abtötung suchte man auf dem Wege langandauernder Fasten — bis zu 40 Tagen — durch anstrengende Gebetübungen, durch Tragen schwerer eiserner Fesseln zu erreichen." Es hat zu allen Zeiten Übergänge dieser Übungen auf das erotische Gebiet gegeben und das Neuchlnstentum (I^socKI^8toxv8ctitseKlna), wie es uns Prugawin aus der gegenwärtigen höchsten Petersburger Gesellschaft schildert, hat dem alten Bilde neue Züge in dieser Richtung hinzugefügt. Als eine der religiösen Übungen, wie sie die Anhänger dieser Richtung betreiben, wird vor allem „die Versuchung des Fleisches" und die „Verbrennung der Leidenschaften" genannt. Es bedarf keiner Ausführung, was unter dem Deckmantel solcher religiöser Praktiken alles betrieben werden kann. In der russischen Presse wird es deutlich und ohne Scheu ausgesprochen. Wir haben keine Veranlassung, es zu wiederholen. Wie sind nun die Leute, die dieses Ncochlnstentum treiben, in die höchste Ge¬ sellschaft hineingekommen? Durch die hohe Geistlichkeit. Die in der ortho¬ doxen Kirche weitverbreitete „Theorie der Prawedniki (der Gerechten)" ist eine der Ursachen davon. „Einer der glühenden Anhänger des Bischofs Theophan hat diese Theorie folgendermaßen auseinandergesetzt: der Bischof war tief davon überzeugt, daß es bei uns in Rußland außer den Heiligen und Gerechten, die von der Kirche anerkannt und kanonisiert find, noch besondere, sozusagen irreguläre Heilige gibt. Wie es reguläre Soldaten gibt und irreguläre, z. B. die Kosaken, so sind auch diese Heiligen, diese Gerechten vorläufig noch nicht von der Kirche anerkannt. Das sind die verschiedensten Arten: .Gute", .Seher", .Pilger", .Einfältige' usw. Der Bischof war fest davon überzeugt, daß sich unter jenen Leuten wirklich bemerkenswerte Personen finden, die ungewöhnliche Seelenkräfte besitzen." Es scheint als ob es gerade Theophan gewesen ist, der Rasputin an den Hof gebracht hat. Als sich der Bischof davon überzeugte, daß der von ihm empfohlene „Prostez"*) „ein grober und schmutziger Wollüstling war, der offen und ausgedehnt die verschiedensten Praktiken der .Versuchung des Fleisches" und der .Verbrennung der Leidenschaften" ausübte" — da war sein offener Einspruch zu spät. Die einzige Folge der Warnung war, daß Theophan die Akademie und Petersburg verlassen und weithin in seine Wunsche Eparchie abreisen mußte. Man kann sich vorstellen, wie sehr solch ein Mann, dem man offen der¬ artiges nachsagte, den Haß und die Wut nicht nur der politischen Parteien, denen er im Wege war, sondern auch eines Teiles der höchsten Gesellschaft, der nichts mit ihm zu tun haben wollte, auf sich zog. So war Rasputin seines Lebens schon lange nicht sicher. Bekannt ist der „Unfall" mit seinem ") Wörtliche Übersetzung: der Einfache, d. h. ein Mann, der aus dem Volk hervor¬ gegangen ist. Meist sind es Leute ganz einfacher Abkunft, die solche „Sehergaben"' entfalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/113>, abgerufen am 25.08.2024.