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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Erdkunde in den höheren Schulen

"Wolken, Luft und Winde" auflösen darf, soll auch die Betrachtung unseres
Erdkörpers als Glied der Sternenwelt nicht in eine richtungs- und uferlose,
wenn auch stark verwässerte Astronomie und Astrophysik ausmünden. Viel mehr
wird nicht zum wenigsten in dem letzteren Punkte eine besonnene Methodik das
Wesentliche von dem Ballast des geographisch Unwichtigen befreien. Um einen
der vielen gangbaren Wege anzudeuten, erinnere ich nur an die eine Tatsache
der Schiefe der Ekliptik, auf deren schwerlich zu überschätzenden Folgen für die
organische -- und anorganische irdische Natur Schopenhauer einmal hinweist. --

Das Gesagte möge genügen, um das Oberflächliche der bis in die Kreise
der höheren Schule verbreiteten Ansicht zu zeigen: die Erdkunde im allgemeinen,
physische und politische Erdkunde im besonderen ein bloßes Konglomerat der
verschiedenartigsten Wissensgebiete, dem nur der Gesichtspunkt der räumlichen
Anordnung den Schein einer selbständigen Wissenschaft verleihe. --

Demgegenüber gilt es, gerade im Hinblick auf die Mitarbeit unsres Faches
an den Gesamtzielen der höheren Schule, auf eine vielfach verkannte Stärke
des erdkundlichen Unterrichts hinzudeuten: einmal die Erziehung zum kausalen
Denken, dieser im allgemeinen viel zu wenig gewürdigten Aufgabe unsrer höheren
Schulen. Zweitens ist die Erdkunde, besonders auf der Oberstufe, in einem
Maße wie kaum ein zweites Fach nach ihrer ganzen Eigenart dazu befähigt,
das Jneinssehen von Natur- und Kultur und ihrer Wechselbeziehungen zu üben.
Es ist nämlich kein Zweifel, daß das Übermaß des rein Stofflichen (bzw. des
rein Formaten) in den meisten Unterrichtsfächern nachgerade einen beängstigenden
Grad erreicht hat. Die Stimmen derer mehren sich, die der auf diese Weise
hervorgerufenen geistigen Zersplitterung für den einzelnen Schüler durch ein
entschiedenes Betonen derjenigen Fächer entgegenarbeiten möchten, die das
erworbene Wissen ihm in einer neuen Beleuchtung zeigen, seine formalen Fähig¬
keiten (z. B. Mathematik, Zeichnen, Sprachen) auch außerhalb des jeweiligen
eigentlichen Fachgebietes sich beendigen lassen möchten. "Nicht ohne zureichenden
Grund sind sicherlich die vielen Klagen, daß der Schüler vor lauter Mathematik
nicht mehr die Sterne, noch vor lauter Grammatik die Sonne des klassischen
Altertums sehe." Früher erhoffte man die nötigen "assoziierenden" Wirkungen im
besonderen vom Deutschunterricht (deutscher Aufsatz), und in der Tat ist das
Deutsche zu einer Mittel- und Vorrangstellung schon aus dem angedeuteten Grunde
berufen. Aber eben nur innerhalb der sprachlich-geschichtlichen Gruppe von
Lehrfächern! -- Neben dem Deutschen wird neuerdings gerade zur Erfüllung
des genannten Zweckes die sogenannte philosophische Propädeutik für die Ober
klaffen herbeigesehnt. Indes beschränkt sich ihr Wirkungskreis naturgemäß auf
das rein Ideelle.

So bleibt also, wie man die Sachlage auch ansehen mag, der Erdkunde
in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen Natur- und Kulturerkenntnis eine
wichtige Teilaufgabe unsrer höheren Schule zu erfüllen übrig.




Erdkunde in den höheren Schulen

„Wolken, Luft und Winde" auflösen darf, soll auch die Betrachtung unseres
Erdkörpers als Glied der Sternenwelt nicht in eine richtungs- und uferlose,
wenn auch stark verwässerte Astronomie und Astrophysik ausmünden. Viel mehr
wird nicht zum wenigsten in dem letzteren Punkte eine besonnene Methodik das
Wesentliche von dem Ballast des geographisch Unwichtigen befreien. Um einen
der vielen gangbaren Wege anzudeuten, erinnere ich nur an die eine Tatsache
der Schiefe der Ekliptik, auf deren schwerlich zu überschätzenden Folgen für die
organische — und anorganische irdische Natur Schopenhauer einmal hinweist. —

Das Gesagte möge genügen, um das Oberflächliche der bis in die Kreise
der höheren Schule verbreiteten Ansicht zu zeigen: die Erdkunde im allgemeinen,
physische und politische Erdkunde im besonderen ein bloßes Konglomerat der
verschiedenartigsten Wissensgebiete, dem nur der Gesichtspunkt der räumlichen
Anordnung den Schein einer selbständigen Wissenschaft verleihe. —

Demgegenüber gilt es, gerade im Hinblick auf die Mitarbeit unsres Faches
an den Gesamtzielen der höheren Schule, auf eine vielfach verkannte Stärke
des erdkundlichen Unterrichts hinzudeuten: einmal die Erziehung zum kausalen
Denken, dieser im allgemeinen viel zu wenig gewürdigten Aufgabe unsrer höheren
Schulen. Zweitens ist die Erdkunde, besonders auf der Oberstufe, in einem
Maße wie kaum ein zweites Fach nach ihrer ganzen Eigenart dazu befähigt,
das Jneinssehen von Natur- und Kultur und ihrer Wechselbeziehungen zu üben.
Es ist nämlich kein Zweifel, daß das Übermaß des rein Stofflichen (bzw. des
rein Formaten) in den meisten Unterrichtsfächern nachgerade einen beängstigenden
Grad erreicht hat. Die Stimmen derer mehren sich, die der auf diese Weise
hervorgerufenen geistigen Zersplitterung für den einzelnen Schüler durch ein
entschiedenes Betonen derjenigen Fächer entgegenarbeiten möchten, die das
erworbene Wissen ihm in einer neuen Beleuchtung zeigen, seine formalen Fähig¬
keiten (z. B. Mathematik, Zeichnen, Sprachen) auch außerhalb des jeweiligen
eigentlichen Fachgebietes sich beendigen lassen möchten. „Nicht ohne zureichenden
Grund sind sicherlich die vielen Klagen, daß der Schüler vor lauter Mathematik
nicht mehr die Sterne, noch vor lauter Grammatik die Sonne des klassischen
Altertums sehe." Früher erhoffte man die nötigen „assoziierenden" Wirkungen im
besonderen vom Deutschunterricht (deutscher Aufsatz), und in der Tat ist das
Deutsche zu einer Mittel- und Vorrangstellung schon aus dem angedeuteten Grunde
berufen. Aber eben nur innerhalb der sprachlich-geschichtlichen Gruppe von
Lehrfächern! — Neben dem Deutschen wird neuerdings gerade zur Erfüllung
des genannten Zweckes die sogenannte philosophische Propädeutik für die Ober
klaffen herbeigesehnt. Indes beschränkt sich ihr Wirkungskreis naturgemäß auf
das rein Ideelle.

So bleibt also, wie man die Sachlage auch ansehen mag, der Erdkunde
in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen Natur- und Kulturerkenntnis eine
wichtige Teilaufgabe unsrer höheren Schule zu erfüllen übrig.




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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/59>, abgerufen am 23.07.2024.