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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Uultur und Sprache

wenn durch und seit Luther das Wort Beruf seinen heutigen vertieften Begriffs¬
inhalt bekommen hat. Die protestantische Welt des Nordens hat in dänisch
Kala, schwedisch knalle (zu Kalla "rufen") eine grundlegende Bereicherung ihrer
sittlichen Kultur in heimische Formen gekleidet, die sie doch dem Ausdruck wie
der Sache nach der deutschen Anregung verdankt.

So führt schon der Weg der Entlehnung in feine und schwer greifbare
Beziehungen hinein. Fast noch reicher und feiner entwickelt ist die Welt des
Vedeutungwandels. Hier ist alles in raschem Fluß. Wir meinen zu wissen,
was Stuhl und Bank sind und am greifbaren einfachen Gegenstand die klar
gegebene Grundlage sprachlicher Vorstellungen zu besitzen. Aber was haben
Stuhl und Bank des zwanzigsten Jahrhunderts noch gemein mit denen der
vorkarolingischen Zeit? Im Grund ist's hier wie bei jedem lebenden Organismus,
der sich in jedem Augenblick Zelle sür Zelle verändert und nur durch die
Langsamkeit, mit der dieser Austausch das Ganze umwandelt, den Schein des
Beharrens vortäuscht. Weil die Kultur Neues schafft, Altes abstößt, sind die
Wortbedeutungen ständigen Wandel unterworfen. Die Sitte, aus der Hirn¬
schale erschlagener Feinde zu trinken, ist uns abhanden gekommen, darum ist
denk Worte Kopf seine alte Bedeutung "Trinkschale, Becher" verloren gegangen
und nur die jüngere "Schädel" erhalten geblieben. Wir winden die Wände
unserer Häuser nicht mehr aus Stroh und Flechtmerk, das Wort Wand, aus
jener alten Technik allein übrig geblieben, ist in seiner heutigen Bedeutung
dem Lehnwort Mauer synonym geworden.

Oft deckt nur ein leiser Mangel an Parallelismus in der Sprache einen
Fortschritt in der Kultur auf. Beim Schuh steckt zwischen Leder und Haut
noch der Strumpf, das Leder des Handschuhs liegt der Haut unmittelbar auf.
Der Parallelismus war vollkommen in der noch nicht für alle Deutschen ver¬
gangenen Zeit, in der auch die Schuhe am bloßen Fuß getragen wurden.
Hemd schlechthin bezeichnet uns das Taghemd, das Nachthemd kann des
bestimmenden Zusatzes nie entbehren. Die sprachliche Ungerechtigkeit weist
zurück auf die Sitte der alten Zeit, in der selbst Könige ohne Nachtgewand
im Bett lagen.

Man steigt zu Pferde, aber auf das Fahrrad, sitzt hoch zu Roß, aber in
der Eisenbahn, fährt zu Wagen, aber mit der Kutsche oder dem Automobil,
liegt zu Bett, aber auf dem Sofa, geht zu Biere, aber läßt sich zu einer Bowle
einladen: nur die seit Jahrhunderten festgefügten Wendungen können des Artikels
entbehren, die mit Artikel folgen der jüngeren Sprachregel, wie sie kulturell
jüngeres Wortgut miteinander verknüpfen.

Ein Wandel unserer Kulturgewohnheiten kann eine Unsicherheit in unsern
Sprachgebrauch tragen. Das alte Heilmittel des Aderlasses ist uns fremd
geworden, wir verstehen nicht mehr den ursprünglichen Sinn der Redensart
"jemandem an der Ader Blut lassen" und darum wissen wir nicht recht, heißt
es: "er läßt mir zur Ader" oder "mich zur Ader"? Ein Schulaltertum aus


Uultur und Sprache

wenn durch und seit Luther das Wort Beruf seinen heutigen vertieften Begriffs¬
inhalt bekommen hat. Die protestantische Welt des Nordens hat in dänisch
Kala, schwedisch knalle (zu Kalla „rufen") eine grundlegende Bereicherung ihrer
sittlichen Kultur in heimische Formen gekleidet, die sie doch dem Ausdruck wie
der Sache nach der deutschen Anregung verdankt.

So führt schon der Weg der Entlehnung in feine und schwer greifbare
Beziehungen hinein. Fast noch reicher und feiner entwickelt ist die Welt des
Vedeutungwandels. Hier ist alles in raschem Fluß. Wir meinen zu wissen,
was Stuhl und Bank sind und am greifbaren einfachen Gegenstand die klar
gegebene Grundlage sprachlicher Vorstellungen zu besitzen. Aber was haben
Stuhl und Bank des zwanzigsten Jahrhunderts noch gemein mit denen der
vorkarolingischen Zeit? Im Grund ist's hier wie bei jedem lebenden Organismus,
der sich in jedem Augenblick Zelle sür Zelle verändert und nur durch die
Langsamkeit, mit der dieser Austausch das Ganze umwandelt, den Schein des
Beharrens vortäuscht. Weil die Kultur Neues schafft, Altes abstößt, sind die
Wortbedeutungen ständigen Wandel unterworfen. Die Sitte, aus der Hirn¬
schale erschlagener Feinde zu trinken, ist uns abhanden gekommen, darum ist
denk Worte Kopf seine alte Bedeutung „Trinkschale, Becher" verloren gegangen
und nur die jüngere „Schädel" erhalten geblieben. Wir winden die Wände
unserer Häuser nicht mehr aus Stroh und Flechtmerk, das Wort Wand, aus
jener alten Technik allein übrig geblieben, ist in seiner heutigen Bedeutung
dem Lehnwort Mauer synonym geworden.

Oft deckt nur ein leiser Mangel an Parallelismus in der Sprache einen
Fortschritt in der Kultur auf. Beim Schuh steckt zwischen Leder und Haut
noch der Strumpf, das Leder des Handschuhs liegt der Haut unmittelbar auf.
Der Parallelismus war vollkommen in der noch nicht für alle Deutschen ver¬
gangenen Zeit, in der auch die Schuhe am bloßen Fuß getragen wurden.
Hemd schlechthin bezeichnet uns das Taghemd, das Nachthemd kann des
bestimmenden Zusatzes nie entbehren. Die sprachliche Ungerechtigkeit weist
zurück auf die Sitte der alten Zeit, in der selbst Könige ohne Nachtgewand
im Bett lagen.

Man steigt zu Pferde, aber auf das Fahrrad, sitzt hoch zu Roß, aber in
der Eisenbahn, fährt zu Wagen, aber mit der Kutsche oder dem Automobil,
liegt zu Bett, aber auf dem Sofa, geht zu Biere, aber läßt sich zu einer Bowle
einladen: nur die seit Jahrhunderten festgefügten Wendungen können des Artikels
entbehren, die mit Artikel folgen der jüngeren Sprachregel, wie sie kulturell
jüngeres Wortgut miteinander verknüpfen.

Ein Wandel unserer Kulturgewohnheiten kann eine Unsicherheit in unsern
Sprachgebrauch tragen. Das alte Heilmittel des Aderlasses ist uns fremd
geworden, wir verstehen nicht mehr den ursprünglichen Sinn der Redensart
„jemandem an der Ader Blut lassen" und darum wissen wir nicht recht, heißt
es: „er läßt mir zur Ader" oder „mich zur Ader"? Ein Schulaltertum aus


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[0358] Uultur und Sprache wenn durch und seit Luther das Wort Beruf seinen heutigen vertieften Begriffs¬ inhalt bekommen hat. Die protestantische Welt des Nordens hat in dänisch Kala, schwedisch knalle (zu Kalla „rufen") eine grundlegende Bereicherung ihrer sittlichen Kultur in heimische Formen gekleidet, die sie doch dem Ausdruck wie der Sache nach der deutschen Anregung verdankt. So führt schon der Weg der Entlehnung in feine und schwer greifbare Beziehungen hinein. Fast noch reicher und feiner entwickelt ist die Welt des Vedeutungwandels. Hier ist alles in raschem Fluß. Wir meinen zu wissen, was Stuhl und Bank sind und am greifbaren einfachen Gegenstand die klar gegebene Grundlage sprachlicher Vorstellungen zu besitzen. Aber was haben Stuhl und Bank des zwanzigsten Jahrhunderts noch gemein mit denen der vorkarolingischen Zeit? Im Grund ist's hier wie bei jedem lebenden Organismus, der sich in jedem Augenblick Zelle sür Zelle verändert und nur durch die Langsamkeit, mit der dieser Austausch das Ganze umwandelt, den Schein des Beharrens vortäuscht. Weil die Kultur Neues schafft, Altes abstößt, sind die Wortbedeutungen ständigen Wandel unterworfen. Die Sitte, aus der Hirn¬ schale erschlagener Feinde zu trinken, ist uns abhanden gekommen, darum ist denk Worte Kopf seine alte Bedeutung „Trinkschale, Becher" verloren gegangen und nur die jüngere „Schädel" erhalten geblieben. Wir winden die Wände unserer Häuser nicht mehr aus Stroh und Flechtmerk, das Wort Wand, aus jener alten Technik allein übrig geblieben, ist in seiner heutigen Bedeutung dem Lehnwort Mauer synonym geworden. Oft deckt nur ein leiser Mangel an Parallelismus in der Sprache einen Fortschritt in der Kultur auf. Beim Schuh steckt zwischen Leder und Haut noch der Strumpf, das Leder des Handschuhs liegt der Haut unmittelbar auf. Der Parallelismus war vollkommen in der noch nicht für alle Deutschen ver¬ gangenen Zeit, in der auch die Schuhe am bloßen Fuß getragen wurden. Hemd schlechthin bezeichnet uns das Taghemd, das Nachthemd kann des bestimmenden Zusatzes nie entbehren. Die sprachliche Ungerechtigkeit weist zurück auf die Sitte der alten Zeit, in der selbst Könige ohne Nachtgewand im Bett lagen. Man steigt zu Pferde, aber auf das Fahrrad, sitzt hoch zu Roß, aber in der Eisenbahn, fährt zu Wagen, aber mit der Kutsche oder dem Automobil, liegt zu Bett, aber auf dem Sofa, geht zu Biere, aber läßt sich zu einer Bowle einladen: nur die seit Jahrhunderten festgefügten Wendungen können des Artikels entbehren, die mit Artikel folgen der jüngeren Sprachregel, wie sie kulturell jüngeres Wortgut miteinander verknüpfen. Ein Wandel unserer Kulturgewohnheiten kann eine Unsicherheit in unsern Sprachgebrauch tragen. Das alte Heilmittel des Aderlasses ist uns fremd geworden, wir verstehen nicht mehr den ursprünglichen Sinn der Redensart „jemandem an der Ader Blut lassen" und darum wissen wir nicht recht, heißt es: „er läßt mir zur Ader" oder „mich zur Ader"? Ein Schulaltertum aus

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/358>, abgerufen am 23.07.2024.