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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Von ^ot und Teuerung vor hundert Jahren und ihrer Abwehr

insbesondere waren Westfalen mit dem Sauerland, die Bezirke am Niederrhein,
Hessen, Württemberg und die an und für sich schon armen Gegenden Sachsens,
das Vogelart und das Erzgebirge, am schlimmsten betroffen. Nicht genug mit
dem Unglück der Mißernte, folgte auf den ebenfalls verregneten Herbst schon
im November ein früher und kalter Winter, sodaß in England und Westdeutsch¬
land noch ein Teil der Kartoffel- und Haferernte erfror. Mit dem Fort¬
schreiten der Zeit wuchs das Elend, und die unvermeidlichen Begleiterschei¬
nungen stellten sich ein. Die Lebensmittelpreise stiegen, und der Wucher
verschlimmerte allenthalben die Not in den von den jahrelangen Kriegs¬
lasten wirtschaftlich darniederliegenden Ländern. Aus Rußland, Dänemark,
Holland, Frankreich, Italien, Österreich und aus fast allen Gegenden Deutsch¬
lands liegen Berichte über die damalige Getreideteuerung vor. So waren in
Odessa schon im November 1816 die Kornpreise um über hundert Prozent
gestiegen. In Warschau kostete Ende November der Scheffel Roggen
7V2 Gulden, Weizen 10V2 Gulden, in Toulouse das Hektoliter 32 Francs, in
Hamburg Ende Dezember der Zentner Roggen ungefähr sechs Taler, Weizen
sieben Taler. In Holland war der Preis der Kartoffeln um das Dreifache ge¬
stiegen. Mit dem allmählichen Schwinden der Vorräte erreichte die Not im
Frühjahr und Sommer 1817 ihren Höhepunkt.

Unendlich viel ist in diesen Zeiten geleistet worden, um dem Unglück zu
steuern. Einzelne, vereinte und staatliche Hilfe wetteiferten miteinander. So
wurden auf private Anregungen hin in den weniger unter der Not leidenden
Gegenden aus freiwilligen Sammlungen betrachtliche Summen aufgebracht, um
den Armen in den am ärgsten betroffenen Ländern zu helfen. Um nur ein
Beispiel anzuführen: Hamburger Bürger sandten wiederholt größere Beträge
nach der Schweiz und dem sächsischen Vogtlande und Erzgebirge.

Wo der Wille zur Hilfe über die Kraft des einzelnen hinausging, schloß
man sich zusammen, um gemeinsam die Not zu bekämpfen. Aus den sächsischen
Bergwerksgegenden wird berichtet, wie die Belegschaften einzelner Zechen in
Überstunden arbeiteten, um von dem verdienten Gelde andere bedürftige Kame¬
raden zu unterstützen.

Den größten Segen aber stifteten die sogenannten "Vereine gegen Korn¬
teuerung", die sich zum Teil schon vor dem Aufruf im "Allgemeinen Anzeiger
der Deutschen" zur Gründung von "Vereinigungen gegen Kornteuerung in
Stadt und Land" in zahlreichen Orten gebildet hatten, und in denen wohl¬
habende Bürger Summen von 100000 bis 200000 Taler zusammenbrachten.
Dafür wurden Vorräte an Korn, Mehl und sonstigen Lebensmitteln angekauft
und den Bedürftigen allmählich zum Einkaufspreise abgelassen. Oder aber die
Vereine ließen Brot backen und verteilten dies zum billigsten Preise oder gar
umsonst an die Notleidenden. Auch Volksküchen, sogenannte "Suppenanstalten"
wurden eingerichtet. Die bedeutendsten dieser Vereine entstanden in Elberfeld,
Frankfurt a. M., Berlin, Hannover, Hamburg und Wien. Vielleicht noch


Von ^ot und Teuerung vor hundert Jahren und ihrer Abwehr

insbesondere waren Westfalen mit dem Sauerland, die Bezirke am Niederrhein,
Hessen, Württemberg und die an und für sich schon armen Gegenden Sachsens,
das Vogelart und das Erzgebirge, am schlimmsten betroffen. Nicht genug mit
dem Unglück der Mißernte, folgte auf den ebenfalls verregneten Herbst schon
im November ein früher und kalter Winter, sodaß in England und Westdeutsch¬
land noch ein Teil der Kartoffel- und Haferernte erfror. Mit dem Fort¬
schreiten der Zeit wuchs das Elend, und die unvermeidlichen Begleiterschei¬
nungen stellten sich ein. Die Lebensmittelpreise stiegen, und der Wucher
verschlimmerte allenthalben die Not in den von den jahrelangen Kriegs¬
lasten wirtschaftlich darniederliegenden Ländern. Aus Rußland, Dänemark,
Holland, Frankreich, Italien, Österreich und aus fast allen Gegenden Deutsch¬
lands liegen Berichte über die damalige Getreideteuerung vor. So waren in
Odessa schon im November 1816 die Kornpreise um über hundert Prozent
gestiegen. In Warschau kostete Ende November der Scheffel Roggen
7V2 Gulden, Weizen 10V2 Gulden, in Toulouse das Hektoliter 32 Francs, in
Hamburg Ende Dezember der Zentner Roggen ungefähr sechs Taler, Weizen
sieben Taler. In Holland war der Preis der Kartoffeln um das Dreifache ge¬
stiegen. Mit dem allmählichen Schwinden der Vorräte erreichte die Not im
Frühjahr und Sommer 1817 ihren Höhepunkt.

Unendlich viel ist in diesen Zeiten geleistet worden, um dem Unglück zu
steuern. Einzelne, vereinte und staatliche Hilfe wetteiferten miteinander. So
wurden auf private Anregungen hin in den weniger unter der Not leidenden
Gegenden aus freiwilligen Sammlungen betrachtliche Summen aufgebracht, um
den Armen in den am ärgsten betroffenen Ländern zu helfen. Um nur ein
Beispiel anzuführen: Hamburger Bürger sandten wiederholt größere Beträge
nach der Schweiz und dem sächsischen Vogtlande und Erzgebirge.

Wo der Wille zur Hilfe über die Kraft des einzelnen hinausging, schloß
man sich zusammen, um gemeinsam die Not zu bekämpfen. Aus den sächsischen
Bergwerksgegenden wird berichtet, wie die Belegschaften einzelner Zechen in
Überstunden arbeiteten, um von dem verdienten Gelde andere bedürftige Kame¬
raden zu unterstützen.

Den größten Segen aber stifteten die sogenannten „Vereine gegen Korn¬
teuerung", die sich zum Teil schon vor dem Aufruf im „Allgemeinen Anzeiger
der Deutschen" zur Gründung von „Vereinigungen gegen Kornteuerung in
Stadt und Land" in zahlreichen Orten gebildet hatten, und in denen wohl¬
habende Bürger Summen von 100000 bis 200000 Taler zusammenbrachten.
Dafür wurden Vorräte an Korn, Mehl und sonstigen Lebensmitteln angekauft
und den Bedürftigen allmählich zum Einkaufspreise abgelassen. Oder aber die
Vereine ließen Brot backen und verteilten dies zum billigsten Preise oder gar
umsonst an die Notleidenden. Auch Volksküchen, sogenannte „Suppenanstalten"
wurden eingerichtet. Die bedeutendsten dieser Vereine entstanden in Elberfeld,
Frankfurt a. M., Berlin, Hannover, Hamburg und Wien. Vielleicht noch


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[0352] Von ^ot und Teuerung vor hundert Jahren und ihrer Abwehr insbesondere waren Westfalen mit dem Sauerland, die Bezirke am Niederrhein, Hessen, Württemberg und die an und für sich schon armen Gegenden Sachsens, das Vogelart und das Erzgebirge, am schlimmsten betroffen. Nicht genug mit dem Unglück der Mißernte, folgte auf den ebenfalls verregneten Herbst schon im November ein früher und kalter Winter, sodaß in England und Westdeutsch¬ land noch ein Teil der Kartoffel- und Haferernte erfror. Mit dem Fort¬ schreiten der Zeit wuchs das Elend, und die unvermeidlichen Begleiterschei¬ nungen stellten sich ein. Die Lebensmittelpreise stiegen, und der Wucher verschlimmerte allenthalben die Not in den von den jahrelangen Kriegs¬ lasten wirtschaftlich darniederliegenden Ländern. Aus Rußland, Dänemark, Holland, Frankreich, Italien, Österreich und aus fast allen Gegenden Deutsch¬ lands liegen Berichte über die damalige Getreideteuerung vor. So waren in Odessa schon im November 1816 die Kornpreise um über hundert Prozent gestiegen. In Warschau kostete Ende November der Scheffel Roggen 7V2 Gulden, Weizen 10V2 Gulden, in Toulouse das Hektoliter 32 Francs, in Hamburg Ende Dezember der Zentner Roggen ungefähr sechs Taler, Weizen sieben Taler. In Holland war der Preis der Kartoffeln um das Dreifache ge¬ stiegen. Mit dem allmählichen Schwinden der Vorräte erreichte die Not im Frühjahr und Sommer 1817 ihren Höhepunkt. Unendlich viel ist in diesen Zeiten geleistet worden, um dem Unglück zu steuern. Einzelne, vereinte und staatliche Hilfe wetteiferten miteinander. So wurden auf private Anregungen hin in den weniger unter der Not leidenden Gegenden aus freiwilligen Sammlungen betrachtliche Summen aufgebracht, um den Armen in den am ärgsten betroffenen Ländern zu helfen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Hamburger Bürger sandten wiederholt größere Beträge nach der Schweiz und dem sächsischen Vogtlande und Erzgebirge. Wo der Wille zur Hilfe über die Kraft des einzelnen hinausging, schloß man sich zusammen, um gemeinsam die Not zu bekämpfen. Aus den sächsischen Bergwerksgegenden wird berichtet, wie die Belegschaften einzelner Zechen in Überstunden arbeiteten, um von dem verdienten Gelde andere bedürftige Kame¬ raden zu unterstützen. Den größten Segen aber stifteten die sogenannten „Vereine gegen Korn¬ teuerung", die sich zum Teil schon vor dem Aufruf im „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen" zur Gründung von „Vereinigungen gegen Kornteuerung in Stadt und Land" in zahlreichen Orten gebildet hatten, und in denen wohl¬ habende Bürger Summen von 100000 bis 200000 Taler zusammenbrachten. Dafür wurden Vorräte an Korn, Mehl und sonstigen Lebensmitteln angekauft und den Bedürftigen allmählich zum Einkaufspreise abgelassen. Oder aber die Vereine ließen Brot backen und verteilten dies zum billigsten Preise oder gar umsonst an die Notleidenden. Auch Volksküchen, sogenannte „Suppenanstalten" wurden eingerichtet. Die bedeutendsten dieser Vereine entstanden in Elberfeld, Frankfurt a. M., Berlin, Hannover, Hamburg und Wien. Vielleicht noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/352>, abgerufen am 26.06.2024.