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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Die Zeit der schwindenden Illusionen

"In Rußland bemühen sich die Agenten Deutschlands, die öffentliche
Meinung gegen England aufzuhetzen. Im Laufe des letzten Jahres haben
diese Deutschfreunde auf die von ihnen zu Anfang des Krieges mit Vorliebe
aufgestellten Fragen, wo sich die englische Flotte befindet, und was eigentlich
die englische Armee geleistet hat, sehr schlagfertige Antworten erhalten. Jetzt
predigen diese russischen Deutschfreunde einen Kreuzzug gegen England nicht
darum, weil England zu wenig, sondern weil England zu viel geleistet hat (!).
Jetzt behaupten sie, daß England Rußland in diesen Krieg hineingezogen hat.
Die russischen Deutschfreunde behaupten sogar, daß England absichtlich den Krieg
in die Länge zieht, um die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen, und
um das erschöpfte Rußland später ausbeuten zu können. Sie be¬
haupten, daß die Armee, welche von jenem Kitchener geschaffen wurde, der
während seiner Reise nach Rußland, wo er die größtmögliche Hilfe in der
Frage der Munitionsversorgungen leisten wollte, den Tod fand, daß diese
Armee eines schönen Tages gegen Rußland selbst angesetzt werden
wird. Rußland, so sagen die deutschen Agenten, hätte schon längst unter
günstigen Bedingungen einen Frieden schließen können, wenn Eng¬
land dies nicht zu verhindern gewußt hätte. Rußland würde, wenn es
den Krieg fortsetzt und weitere Opfer bringt, nichts erreichen, während England
für sich den größten Nutzen aus dem Kriege ziehen wird."

Man erkennt aus diesen Äußerungen, die man nur in Zusammenhang zu
bringen hat mit den Ausführungen Asquiths in der Gildhall, wie groß und offen
zutage tretend diese Strömungen in der russischen Gesellschaft gewesen sein müssen,
die auch ein Erwachen aus Illusionen bedeuteten. Es war natürlich, daß auch diese
Einsichten gewisser Eninüchterter Stürmer in die Schuhe geschoben wurden.

Und schließlich bot die innere Lage Rußlands ein immer größeres Bild
trauriger Zerfahrenheit und Ordnungslofigkeit. Das Durcheinander der Lebens-
nnttelorganisation, die Verpflegungsschwierigkeiten, die in einzelnen Gouverne¬
ments bis zum Hunger gingen, die allmählich wachsende Unruhe der Arbeiter-
kreise, von denen der Aufruf des Moskaner kriegsindustriellen Arbeiterkomitees
Zeugnis ablegt, beschäftigten in niemals dagewesenen Maße die Öffentlichkeit.
Dazu kam die Ratlosigkeit der Regierung und die inneren Kämpfe innerhalb
der Regierung selbst. Protopopow und Bobrinsky konnten sich nicht darüber
einigen, wer die Lebensmitteldiktatur in die Hand nehmen sollte. Protopopow
war der liberale Mann, dessen Ernennung die oppositionellen liberalen Kreise
wohl hatte milder stimmen sollen, aber gerade den entgegengesetzten Effekt
hatte. Man wünschte bei den Führern des Blocks keinen Minister des
Innern als Regulator des wirtschaftlichen Lebens, und Chwostow, dessen Witz
nicht ohne ist, konnte seine früheren Dumakollegen darauf hinweisen, daß es
ganz gleich sei, wer auf dem Sessel sitze, ob er, ein Ultrarechter, oder Proto¬
popow, der Semstwooktobrist, der Sessel bleibe doch immer derselbe. Auch
Protopopow vermochte also nicht die Mißstimmung der Opposition gegen


Die Zeit der schwindenden Illusionen

„In Rußland bemühen sich die Agenten Deutschlands, die öffentliche
Meinung gegen England aufzuhetzen. Im Laufe des letzten Jahres haben
diese Deutschfreunde auf die von ihnen zu Anfang des Krieges mit Vorliebe
aufgestellten Fragen, wo sich die englische Flotte befindet, und was eigentlich
die englische Armee geleistet hat, sehr schlagfertige Antworten erhalten. Jetzt
predigen diese russischen Deutschfreunde einen Kreuzzug gegen England nicht
darum, weil England zu wenig, sondern weil England zu viel geleistet hat (!).
Jetzt behaupten sie, daß England Rußland in diesen Krieg hineingezogen hat.
Die russischen Deutschfreunde behaupten sogar, daß England absichtlich den Krieg
in die Länge zieht, um die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen, und
um das erschöpfte Rußland später ausbeuten zu können. Sie be¬
haupten, daß die Armee, welche von jenem Kitchener geschaffen wurde, der
während seiner Reise nach Rußland, wo er die größtmögliche Hilfe in der
Frage der Munitionsversorgungen leisten wollte, den Tod fand, daß diese
Armee eines schönen Tages gegen Rußland selbst angesetzt werden
wird. Rußland, so sagen die deutschen Agenten, hätte schon längst unter
günstigen Bedingungen einen Frieden schließen können, wenn Eng¬
land dies nicht zu verhindern gewußt hätte. Rußland würde, wenn es
den Krieg fortsetzt und weitere Opfer bringt, nichts erreichen, während England
für sich den größten Nutzen aus dem Kriege ziehen wird."

Man erkennt aus diesen Äußerungen, die man nur in Zusammenhang zu
bringen hat mit den Ausführungen Asquiths in der Gildhall, wie groß und offen
zutage tretend diese Strömungen in der russischen Gesellschaft gewesen sein müssen,
die auch ein Erwachen aus Illusionen bedeuteten. Es war natürlich, daß auch diese
Einsichten gewisser Eninüchterter Stürmer in die Schuhe geschoben wurden.

Und schließlich bot die innere Lage Rußlands ein immer größeres Bild
trauriger Zerfahrenheit und Ordnungslofigkeit. Das Durcheinander der Lebens-
nnttelorganisation, die Verpflegungsschwierigkeiten, die in einzelnen Gouverne¬
ments bis zum Hunger gingen, die allmählich wachsende Unruhe der Arbeiter-
kreise, von denen der Aufruf des Moskaner kriegsindustriellen Arbeiterkomitees
Zeugnis ablegt, beschäftigten in niemals dagewesenen Maße die Öffentlichkeit.
Dazu kam die Ratlosigkeit der Regierung und die inneren Kämpfe innerhalb
der Regierung selbst. Protopopow und Bobrinsky konnten sich nicht darüber
einigen, wer die Lebensmitteldiktatur in die Hand nehmen sollte. Protopopow
war der liberale Mann, dessen Ernennung die oppositionellen liberalen Kreise
wohl hatte milder stimmen sollen, aber gerade den entgegengesetzten Effekt
hatte. Man wünschte bei den Führern des Blocks keinen Minister des
Innern als Regulator des wirtschaftlichen Lebens, und Chwostow, dessen Witz
nicht ohne ist, konnte seine früheren Dumakollegen darauf hinweisen, daß es
ganz gleich sei, wer auf dem Sessel sitze, ob er, ein Ultrarechter, oder Proto¬
popow, der Semstwooktobrist, der Sessel bleibe doch immer derselbe. Auch
Protopopow vermochte also nicht die Mißstimmung der Opposition gegen


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[0304] Die Zeit der schwindenden Illusionen „In Rußland bemühen sich die Agenten Deutschlands, die öffentliche Meinung gegen England aufzuhetzen. Im Laufe des letzten Jahres haben diese Deutschfreunde auf die von ihnen zu Anfang des Krieges mit Vorliebe aufgestellten Fragen, wo sich die englische Flotte befindet, und was eigentlich die englische Armee geleistet hat, sehr schlagfertige Antworten erhalten. Jetzt predigen diese russischen Deutschfreunde einen Kreuzzug gegen England nicht darum, weil England zu wenig, sondern weil England zu viel geleistet hat (!). Jetzt behaupten sie, daß England Rußland in diesen Krieg hineingezogen hat. Die russischen Deutschfreunde behaupten sogar, daß England absichtlich den Krieg in die Länge zieht, um die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen, und um das erschöpfte Rußland später ausbeuten zu können. Sie be¬ haupten, daß die Armee, welche von jenem Kitchener geschaffen wurde, der während seiner Reise nach Rußland, wo er die größtmögliche Hilfe in der Frage der Munitionsversorgungen leisten wollte, den Tod fand, daß diese Armee eines schönen Tages gegen Rußland selbst angesetzt werden wird. Rußland, so sagen die deutschen Agenten, hätte schon längst unter günstigen Bedingungen einen Frieden schließen können, wenn Eng¬ land dies nicht zu verhindern gewußt hätte. Rußland würde, wenn es den Krieg fortsetzt und weitere Opfer bringt, nichts erreichen, während England für sich den größten Nutzen aus dem Kriege ziehen wird." Man erkennt aus diesen Äußerungen, die man nur in Zusammenhang zu bringen hat mit den Ausführungen Asquiths in der Gildhall, wie groß und offen zutage tretend diese Strömungen in der russischen Gesellschaft gewesen sein müssen, die auch ein Erwachen aus Illusionen bedeuteten. Es war natürlich, daß auch diese Einsichten gewisser Eninüchterter Stürmer in die Schuhe geschoben wurden. Und schließlich bot die innere Lage Rußlands ein immer größeres Bild trauriger Zerfahrenheit und Ordnungslofigkeit. Das Durcheinander der Lebens- nnttelorganisation, die Verpflegungsschwierigkeiten, die in einzelnen Gouverne¬ ments bis zum Hunger gingen, die allmählich wachsende Unruhe der Arbeiter- kreise, von denen der Aufruf des Moskaner kriegsindustriellen Arbeiterkomitees Zeugnis ablegt, beschäftigten in niemals dagewesenen Maße die Öffentlichkeit. Dazu kam die Ratlosigkeit der Regierung und die inneren Kämpfe innerhalb der Regierung selbst. Protopopow und Bobrinsky konnten sich nicht darüber einigen, wer die Lebensmitteldiktatur in die Hand nehmen sollte. Protopopow war der liberale Mann, dessen Ernennung die oppositionellen liberalen Kreise wohl hatte milder stimmen sollen, aber gerade den entgegengesetzten Effekt hatte. Man wünschte bei den Führern des Blocks keinen Minister des Innern als Regulator des wirtschaftlichen Lebens, und Chwostow, dessen Witz nicht ohne ist, konnte seine früheren Dumakollegen darauf hinweisen, daß es ganz gleich sei, wer auf dem Sessel sitze, ob er, ein Ultrarechter, oder Proto¬ popow, der Semstwooktobrist, der Sessel bleibe doch immer derselbe. Auch Protopopow vermochte also nicht die Mißstimmung der Opposition gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/304>, abgerufen am 23.07.2024.