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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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stand von Proletarier und Kleinbürger ist ein weit geringerer und weit leichter
zu überwinden als in Deutschland. nationaler Svarsamkeitsdrcwg. Mitarbeit
der Frau, Einkindersystem und anderes ermöglichen vielen Arbeitern ein Alter
als kleiner Rentner. Der Rahmen des Lebens ist demokratisch. Jeder ist
Monsieur, jede Madame; das Selbstgefühl wird weit mehr geschont als bei
uns. Es existiert zwar nicht Gleichheit des Besitzes, aber Gleichheit der Be¬
handlung. Die Lebensformen der Besitzenden sind -- in der Provinz wenig¬
stens -- nicht so differenziert und aufreizend. Der reine Industriearbeiter ist
relativ selten, verfügt weit häufiger als in Deutschland über einen kleinen
Grundbesitz oder betreibt ein Nebengewerbe. Der Klassenhaß ist darum nicht so
stark entwickelt. Andererseits blickt der Individualismus in jeder Form in
Frankreich auf eine zu lange Tradition zurück, um nicht schon tief in die
unteren Schichten gedrungen zu sein. Dazu die Überpolitisierung der ganzen
Nation, das Mißtrauen gegen jede Politik, Parteien und Parlament. Man
glaubt sich schon zu oft "truquö". Der Glaube fehlt. Gleichgültigkeit und
Anarchismus sind damit gleichmäßig Tür und Tor geöffnet. Eine straffe
Organisation ist auf solcher Grundlage unmöglich.

Der Partei strömen dafür andere Elemente zu und gewinnen bei dem
ungenügenden Zusammenschluß und der infolgedessen schwachen Widerstandskraft
des Proletariats rasch an Einfluß. Neben dem Kleingewerbe, vor allem die
kleinen Angestellten, die schlechtbezahlten unteren und mittleren Beamten. sozial-
demokratische Eisenbahner, Postbeamten und besonders Lehrer machten der
Staatsgewalt eine Zeitlang viel zu schaffen und schienen sogar die Grundlagen
des Staates ins Wanken zu bringen. Sie gebärdeten sich zum Teil sehr
revolutionär. Trotzdem brachte ihnen die Arbeiterschaft bezeichnenderweise
starkes Mißtrauen und Abneigung entgegen, und ihr steigender Einfluß in der
Partei war sicher ein weiteres Moment der Spannung zwischen Syndikaten
und Unifizierten. Beim Herannahen des Dreijahrdienstgesetzes versuchte man
Zwar zusammenzuarbeiten. In den Arbeitsbörsen fanden gemeinschaftliche Ver.
Sammlungen der Arbeitersyndikalisten und der Beamtenvereinler statt. Jene
suchten ihren Anhängern den proletarischen Charakter der Beamtenunionen
mundgerecht zu machen. Diese wetteiferten in Beweisen ihres gewerkschaft-
lichen Charakters. Bei der Masse der Handarbeiter blieb indes das Gefühl
der Fremdheit. Äußerlich freilich gewann die Partei, und zweifelsohne stammt
aus diesem kleinbürgerlichen Zuwachs die starke Steigerung der sozialistischen
Stimmenzahl in den letzten Jahren. Ein Gewinn für die Organisation war
das nicht; ebensowenig für die Geschlossenheit und Wucht der Überzeugung.
Das starke Abflauen dieses Beamtensozialismus in der letzten Zeit vor dem
Kriege gab zu denken. Von einer sozialistischen Weltanschauung konnte bei der
Mehrzahl nicht die Rede sein. sozialdemokratische Betätigur-g war ihnen viel¬
mehr nur ein Mittel zum Zweck, war ihnen nur die beste Art des so beliebten
Revolutionismus, die beste Methode auf die Negierung zu drücken zur Er-


vom französische».Sozialismus

stand von Proletarier und Kleinbürger ist ein weit geringerer und weit leichter
zu überwinden als in Deutschland. nationaler Svarsamkeitsdrcwg. Mitarbeit
der Frau, Einkindersystem und anderes ermöglichen vielen Arbeitern ein Alter
als kleiner Rentner. Der Rahmen des Lebens ist demokratisch. Jeder ist
Monsieur, jede Madame; das Selbstgefühl wird weit mehr geschont als bei
uns. Es existiert zwar nicht Gleichheit des Besitzes, aber Gleichheit der Be¬
handlung. Die Lebensformen der Besitzenden sind — in der Provinz wenig¬
stens — nicht so differenziert und aufreizend. Der reine Industriearbeiter ist
relativ selten, verfügt weit häufiger als in Deutschland über einen kleinen
Grundbesitz oder betreibt ein Nebengewerbe. Der Klassenhaß ist darum nicht so
stark entwickelt. Andererseits blickt der Individualismus in jeder Form in
Frankreich auf eine zu lange Tradition zurück, um nicht schon tief in die
unteren Schichten gedrungen zu sein. Dazu die Überpolitisierung der ganzen
Nation, das Mißtrauen gegen jede Politik, Parteien und Parlament. Man
glaubt sich schon zu oft „truquö". Der Glaube fehlt. Gleichgültigkeit und
Anarchismus sind damit gleichmäßig Tür und Tor geöffnet. Eine straffe
Organisation ist auf solcher Grundlage unmöglich.

Der Partei strömen dafür andere Elemente zu und gewinnen bei dem
ungenügenden Zusammenschluß und der infolgedessen schwachen Widerstandskraft
des Proletariats rasch an Einfluß. Neben dem Kleingewerbe, vor allem die
kleinen Angestellten, die schlechtbezahlten unteren und mittleren Beamten. sozial-
demokratische Eisenbahner, Postbeamten und besonders Lehrer machten der
Staatsgewalt eine Zeitlang viel zu schaffen und schienen sogar die Grundlagen
des Staates ins Wanken zu bringen. Sie gebärdeten sich zum Teil sehr
revolutionär. Trotzdem brachte ihnen die Arbeiterschaft bezeichnenderweise
starkes Mißtrauen und Abneigung entgegen, und ihr steigender Einfluß in der
Partei war sicher ein weiteres Moment der Spannung zwischen Syndikaten
und Unifizierten. Beim Herannahen des Dreijahrdienstgesetzes versuchte man
Zwar zusammenzuarbeiten. In den Arbeitsbörsen fanden gemeinschaftliche Ver.
Sammlungen der Arbeitersyndikalisten und der Beamtenvereinler statt. Jene
suchten ihren Anhängern den proletarischen Charakter der Beamtenunionen
mundgerecht zu machen. Diese wetteiferten in Beweisen ihres gewerkschaft-
lichen Charakters. Bei der Masse der Handarbeiter blieb indes das Gefühl
der Fremdheit. Äußerlich freilich gewann die Partei, und zweifelsohne stammt
aus diesem kleinbürgerlichen Zuwachs die starke Steigerung der sozialistischen
Stimmenzahl in den letzten Jahren. Ein Gewinn für die Organisation war
das nicht; ebensowenig für die Geschlossenheit und Wucht der Überzeugung.
Das starke Abflauen dieses Beamtensozialismus in der letzten Zeit vor dem
Kriege gab zu denken. Von einer sozialistischen Weltanschauung konnte bei der
Mehrzahl nicht die Rede sein. sozialdemokratische Betätigur-g war ihnen viel¬
mehr nur ein Mittel zum Zweck, war ihnen nur die beste Art des so beliebten
Revolutionismus, die beste Methode auf die Negierung zu drücken zur Er-


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[0275] vom französische».Sozialismus stand von Proletarier und Kleinbürger ist ein weit geringerer und weit leichter zu überwinden als in Deutschland. nationaler Svarsamkeitsdrcwg. Mitarbeit der Frau, Einkindersystem und anderes ermöglichen vielen Arbeitern ein Alter als kleiner Rentner. Der Rahmen des Lebens ist demokratisch. Jeder ist Monsieur, jede Madame; das Selbstgefühl wird weit mehr geschont als bei uns. Es existiert zwar nicht Gleichheit des Besitzes, aber Gleichheit der Be¬ handlung. Die Lebensformen der Besitzenden sind — in der Provinz wenig¬ stens — nicht so differenziert und aufreizend. Der reine Industriearbeiter ist relativ selten, verfügt weit häufiger als in Deutschland über einen kleinen Grundbesitz oder betreibt ein Nebengewerbe. Der Klassenhaß ist darum nicht so stark entwickelt. Andererseits blickt der Individualismus in jeder Form in Frankreich auf eine zu lange Tradition zurück, um nicht schon tief in die unteren Schichten gedrungen zu sein. Dazu die Überpolitisierung der ganzen Nation, das Mißtrauen gegen jede Politik, Parteien und Parlament. Man glaubt sich schon zu oft „truquö". Der Glaube fehlt. Gleichgültigkeit und Anarchismus sind damit gleichmäßig Tür und Tor geöffnet. Eine straffe Organisation ist auf solcher Grundlage unmöglich. Der Partei strömen dafür andere Elemente zu und gewinnen bei dem ungenügenden Zusammenschluß und der infolgedessen schwachen Widerstandskraft des Proletariats rasch an Einfluß. Neben dem Kleingewerbe, vor allem die kleinen Angestellten, die schlechtbezahlten unteren und mittleren Beamten. sozial- demokratische Eisenbahner, Postbeamten und besonders Lehrer machten der Staatsgewalt eine Zeitlang viel zu schaffen und schienen sogar die Grundlagen des Staates ins Wanken zu bringen. Sie gebärdeten sich zum Teil sehr revolutionär. Trotzdem brachte ihnen die Arbeiterschaft bezeichnenderweise starkes Mißtrauen und Abneigung entgegen, und ihr steigender Einfluß in der Partei war sicher ein weiteres Moment der Spannung zwischen Syndikaten und Unifizierten. Beim Herannahen des Dreijahrdienstgesetzes versuchte man Zwar zusammenzuarbeiten. In den Arbeitsbörsen fanden gemeinschaftliche Ver. Sammlungen der Arbeitersyndikalisten und der Beamtenvereinler statt. Jene suchten ihren Anhängern den proletarischen Charakter der Beamtenunionen mundgerecht zu machen. Diese wetteiferten in Beweisen ihres gewerkschaft- lichen Charakters. Bei der Masse der Handarbeiter blieb indes das Gefühl der Fremdheit. Äußerlich freilich gewann die Partei, und zweifelsohne stammt aus diesem kleinbürgerlichen Zuwachs die starke Steigerung der sozialistischen Stimmenzahl in den letzten Jahren. Ein Gewinn für die Organisation war das nicht; ebensowenig für die Geschlossenheit und Wucht der Überzeugung. Das starke Abflauen dieses Beamtensozialismus in der letzten Zeit vor dem Kriege gab zu denken. Von einer sozialistischen Weltanschauung konnte bei der Mehrzahl nicht die Rede sein. sozialdemokratische Betätigur-g war ihnen viel¬ mehr nur ein Mittel zum Zweck, war ihnen nur die beste Art des so beliebten Revolutionismus, die beste Methode auf die Negierung zu drücken zur Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/275>, abgerufen am 04.07.2024.