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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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vom französischen Sozialismus

achtet wurden. Sie waren auch die natürliche Zuflucht aller jener Elemente,
die mit den unifizierten Sozialisten aus irgendeinem Grunde zerfallen waren.
Bei ihnen landeten -- fürs Auge wenigstens, als Güste -- ein Briand, ein
Millerand, ein Viviani und mit ihnen auch ein Teil von deren ehemals
unfizierter Wählerschaft. Sie waren, mittels ihrer Deckmarke und jener freilich
bald durchaus eigenwegigen Hospitanten, Rivalen, die zum mindesten geistige
und moralische Verwirrung anrichten konnten, wenn sie nicht gar bei der Masse
der Nichtorganisierten Proletarier Gefolgschaft fanden. Aus diesem Grunde
interessieren sie uns.

Vom internationalen Standpunkte bieten sie kein Interesse. Wäre eine
Partei nur nach ihrer Bedeutung als geistige Strömung zu beurteilen, dann
käme von den sozialistischen Fraktionen als einzig selbständige nur die der
Unifizierten in Betracht. Sie nennen sich selbst internationaux. Sie sind die
einzigen Vertreter eines sozialistischen Systems, die einzigen Vertreter des inter¬
nationalen und marxistischen Sozialismus. Sie haben als einzige den Inter¬
nationalismus als Prinzip angenommen, bekämpften seit Jahren die Revanche¬
idee und den französischen Nationalismus und spielten mit dem Gedanken des
Generalsstreiks als Mittel zur Verhinderung jedes, insbesondere jedes deutsch¬
französischen Krieges. Sie genossen internationale Achtung und galten neben
der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie als die bedeutendsten Ver¬
treter der Internationale. Ihr Einfluß auf die Masse galt der deutschen
Sozialdemokratie durchaus als gleichwertig dem ihrigen, ihr Dasein für den
Fall internationaler Verwicklungen als ausschlaggebend und unschätzbar.

In jedem parlamentarisch regierten Lande ist zwischen der parlamentarischen
und der realen Bedeutung einer Partei streng zu scheiden. An jener fehlte es
der französischen Internationale tatsächlich nicht. Diese möchte ich zum guten
Teile schreiten. Der Einfluß und die Kraft einer Partei mißt sich an der
Zahl ihrer Wähler, an ihrer Organisation, an der Einheitlichkeit ihrer Wähler¬
schaft und an der Geschlossenheit und Wucht ihrer Gedanken.

Die Zahl der sozialistischen Wähler wuchs allerdings bei den letzten
Wahlen 1914 auf über eine Million, und dementsprechend war die Partei mit
einigen achtzig Abgeordneten im Parlament vertreten. Wir sind geneigt, solche
Ziffern nach deutschen Maßstäben zu beurteilen. Wir vergessen zumeist, daß
die französische Volksvertretung gegen sechshundert Deputierte zählt, daß also
von einem ähnlichen Verhältnis von Sozialisten und Nichtsozialisten wie in
Deutschland nicht die Rede sein kann. Noch viel weniger, wenn wir nur das
Verhältnis der Stimmen zu Grunde legen, das in Deutschland eins zu drei,
in Frankreich aber im günstigsten Falle eins zu neun beträgt. Dieser aber
immerhin nicht ganz unbedeutenden äußeren Macht entspricht in keiner Weise
die Organisation, das heißt also die innere Kraft. Spricht es nicht Bände,
daß diese Emmillionpartei bis zum Kriege nur ein einziges täglich, er¬
scheinendes Parteiblatt, die ttumanitö, aufwies! Verrat es große Kraft, wenn


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vom französischen Sozialismus

achtet wurden. Sie waren auch die natürliche Zuflucht aller jener Elemente,
die mit den unifizierten Sozialisten aus irgendeinem Grunde zerfallen waren.
Bei ihnen landeten — fürs Auge wenigstens, als Güste — ein Briand, ein
Millerand, ein Viviani und mit ihnen auch ein Teil von deren ehemals
unfizierter Wählerschaft. Sie waren, mittels ihrer Deckmarke und jener freilich
bald durchaus eigenwegigen Hospitanten, Rivalen, die zum mindesten geistige
und moralische Verwirrung anrichten konnten, wenn sie nicht gar bei der Masse
der Nichtorganisierten Proletarier Gefolgschaft fanden. Aus diesem Grunde
interessieren sie uns.

Vom internationalen Standpunkte bieten sie kein Interesse. Wäre eine
Partei nur nach ihrer Bedeutung als geistige Strömung zu beurteilen, dann
käme von den sozialistischen Fraktionen als einzig selbständige nur die der
Unifizierten in Betracht. Sie nennen sich selbst internationaux. Sie sind die
einzigen Vertreter eines sozialistischen Systems, die einzigen Vertreter des inter¬
nationalen und marxistischen Sozialismus. Sie haben als einzige den Inter¬
nationalismus als Prinzip angenommen, bekämpften seit Jahren die Revanche¬
idee und den französischen Nationalismus und spielten mit dem Gedanken des
Generalsstreiks als Mittel zur Verhinderung jedes, insbesondere jedes deutsch¬
französischen Krieges. Sie genossen internationale Achtung und galten neben
der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie als die bedeutendsten Ver¬
treter der Internationale. Ihr Einfluß auf die Masse galt der deutschen
Sozialdemokratie durchaus als gleichwertig dem ihrigen, ihr Dasein für den
Fall internationaler Verwicklungen als ausschlaggebend und unschätzbar.

In jedem parlamentarisch regierten Lande ist zwischen der parlamentarischen
und der realen Bedeutung einer Partei streng zu scheiden. An jener fehlte es
der französischen Internationale tatsächlich nicht. Diese möchte ich zum guten
Teile schreiten. Der Einfluß und die Kraft einer Partei mißt sich an der
Zahl ihrer Wähler, an ihrer Organisation, an der Einheitlichkeit ihrer Wähler¬
schaft und an der Geschlossenheit und Wucht ihrer Gedanken.

Die Zahl der sozialistischen Wähler wuchs allerdings bei den letzten
Wahlen 1914 auf über eine Million, und dementsprechend war die Partei mit
einigen achtzig Abgeordneten im Parlament vertreten. Wir sind geneigt, solche
Ziffern nach deutschen Maßstäben zu beurteilen. Wir vergessen zumeist, daß
die französische Volksvertretung gegen sechshundert Deputierte zählt, daß also
von einem ähnlichen Verhältnis von Sozialisten und Nichtsozialisten wie in
Deutschland nicht die Rede sein kann. Noch viel weniger, wenn wir nur das
Verhältnis der Stimmen zu Grunde legen, das in Deutschland eins zu drei,
in Frankreich aber im günstigsten Falle eins zu neun beträgt. Dieser aber
immerhin nicht ganz unbedeutenden äußeren Macht entspricht in keiner Weise
die Organisation, das heißt also die innere Kraft. Spricht es nicht Bände,
daß diese Emmillionpartei bis zum Kriege nur ein einziges täglich, er¬
scheinendes Parteiblatt, die ttumanitö, aufwies! Verrat es große Kraft, wenn


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[0271] vom französischen Sozialismus achtet wurden. Sie waren auch die natürliche Zuflucht aller jener Elemente, die mit den unifizierten Sozialisten aus irgendeinem Grunde zerfallen waren. Bei ihnen landeten — fürs Auge wenigstens, als Güste — ein Briand, ein Millerand, ein Viviani und mit ihnen auch ein Teil von deren ehemals unfizierter Wählerschaft. Sie waren, mittels ihrer Deckmarke und jener freilich bald durchaus eigenwegigen Hospitanten, Rivalen, die zum mindesten geistige und moralische Verwirrung anrichten konnten, wenn sie nicht gar bei der Masse der Nichtorganisierten Proletarier Gefolgschaft fanden. Aus diesem Grunde interessieren sie uns. Vom internationalen Standpunkte bieten sie kein Interesse. Wäre eine Partei nur nach ihrer Bedeutung als geistige Strömung zu beurteilen, dann käme von den sozialistischen Fraktionen als einzig selbständige nur die der Unifizierten in Betracht. Sie nennen sich selbst internationaux. Sie sind die einzigen Vertreter eines sozialistischen Systems, die einzigen Vertreter des inter¬ nationalen und marxistischen Sozialismus. Sie haben als einzige den Inter¬ nationalismus als Prinzip angenommen, bekämpften seit Jahren die Revanche¬ idee und den französischen Nationalismus und spielten mit dem Gedanken des Generalsstreiks als Mittel zur Verhinderung jedes, insbesondere jedes deutsch¬ französischen Krieges. Sie genossen internationale Achtung und galten neben der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie als die bedeutendsten Ver¬ treter der Internationale. Ihr Einfluß auf die Masse galt der deutschen Sozialdemokratie durchaus als gleichwertig dem ihrigen, ihr Dasein für den Fall internationaler Verwicklungen als ausschlaggebend und unschätzbar. In jedem parlamentarisch regierten Lande ist zwischen der parlamentarischen und der realen Bedeutung einer Partei streng zu scheiden. An jener fehlte es der französischen Internationale tatsächlich nicht. Diese möchte ich zum guten Teile schreiten. Der Einfluß und die Kraft einer Partei mißt sich an der Zahl ihrer Wähler, an ihrer Organisation, an der Einheitlichkeit ihrer Wähler¬ schaft und an der Geschlossenheit und Wucht ihrer Gedanken. Die Zahl der sozialistischen Wähler wuchs allerdings bei den letzten Wahlen 1914 auf über eine Million, und dementsprechend war die Partei mit einigen achtzig Abgeordneten im Parlament vertreten. Wir sind geneigt, solche Ziffern nach deutschen Maßstäben zu beurteilen. Wir vergessen zumeist, daß die französische Volksvertretung gegen sechshundert Deputierte zählt, daß also von einem ähnlichen Verhältnis von Sozialisten und Nichtsozialisten wie in Deutschland nicht die Rede sein kann. Noch viel weniger, wenn wir nur das Verhältnis der Stimmen zu Grunde legen, das in Deutschland eins zu drei, in Frankreich aber im günstigsten Falle eins zu neun beträgt. Dieser aber immerhin nicht ganz unbedeutenden äußeren Macht entspricht in keiner Weise die Organisation, das heißt also die innere Kraft. Spricht es nicht Bände, daß diese Emmillionpartei bis zum Kriege nur ein einziges täglich, er¬ scheinendes Parteiblatt, die ttumanitö, aufwies! Verrat es große Kraft, wenn 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/271>, abgerufen am 23.07.2024.