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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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vom französischen Sozialismus

und den Begriff LZsUte erfunden. Kein Franzose läßt sich den Glauben nehmen,
daß sein Land sich mit starken Schritten dem Ideal wenigstens nähere. Man
huldigt der Idee, man verehrt und bejubelt sie, ist freilich in der Praxis weit
davon entfernt, sie in die Wirklichkeit umzusetzen oder es auch nur ernstlich zu
wollen. Aber man bestaunt und schätzt sich schon darum, daß man es wagt,
an solche Gedanken heranzutreten. Es ist jener Zug des französischen Geistes,
mit allem Neuen und Modernen zu spielen, immer wenigstens dem Worte nach
vornean zu sein und für fortschrittlich zu gelten, jener Drang nach schönem
Schein, letzten Grundes eine gewisse Eitelkeit, andererseits auch wieder der
Ausfluß des französischen Formgefühls, des Dranges, überall die Fassade zu
zu wahren.

So nimmt denn die sozialistische Diskussion breiten Raum ein. So beugen
sich vor dem Worte Sozialismus auch weite Kreise der radikalen Bourgeoisie
-- schon aus politischer Klugheit und Wahltaktik. Es ist eins ihrer Schlagworte
für die breite Masse. Wie wenig das für die praktische Politik bedeutet, zeigt
die Tatsache, daß schon die Forderung nach Verstaatlichung der Eisenbahnen,
die unserem Empfinden ganz selbstverständlich ist, in Frankreich als eminent
sozialistisch betrachtet wird und z. B. einen Hauptprogrammpunkt derlrMpen-^
klares darstellt. Augagneur, einer ihrer Führer, der als Minister die West¬
bahn in staatlichem Besitz überführte, wurde dafür zum Teil von eigener
Parteiseite aufs heftigste angegriffen. Was sonst von dieser Partei als sozialistische
Forderung aufgestellt wird, könnte gerade so gut in irgendeinem anderen
Parteiprogramm stehen. Es kommt äußerlich den Bedürfnissen der Masse ent
gegen, läuft aber meist indirekt auf eine Stärkung des Großkapitals hinaus.
So z. B. die Forderung nach möglichster Verbilligung der Lebensmittel und
Materialien, die folgerichtig zur Unterstützung der Großbetriebe. Waren¬
häuser usw. führt, allerdings aber die Masse zunächst blendet durch die offen¬
sichtliche Wendung gegen Handwerk und Kleingewerbe.

Von Revolutiomsmus ist bei ihnen nichts zu spüren, ein wissenschaftliches
System, wissenschaftliche Theorien sind nicht zu finden. Sie sind Opportunisten,
vertreten im übrigen die üblichen demokratisch-antiklerikalen Forderungen der
Radikalen und haben nationalpolitisch ebensosehr den nationalistischen Strö¬
mungen nachgegeben wie jene. Sie sind im Grunde eine Bourgeoispartei,
allerdings mit stark Humanitären und kosmopolitischen Interessen ganz im Sinne
der Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts. Sie spielen wohl mit Völker¬
frieden, internationalen Verständigungen und anderen:, ähnlich etwa wie ein
Llond George, ohne aber auch nur im entferntesten die Wucht der Beweis¬
führung des marxistischen Sozialismus aufweisen zu können.

Von den Unifizierten (80Liali3te3 uniüe8) wurden sie seit langem aufs
leidenschaftlichste bekämpft. Nicht nur aus theoretischer Gegensätzlichkeit, nicht
nur weil sie nach der Ansicht jener ihre sozialistische Aufschrift zu Unrecht
führten und als unehrlich, halb, prinzipienlos entsprechend verhöhnt und ver-


vom französischen Sozialismus

und den Begriff LZsUte erfunden. Kein Franzose läßt sich den Glauben nehmen,
daß sein Land sich mit starken Schritten dem Ideal wenigstens nähere. Man
huldigt der Idee, man verehrt und bejubelt sie, ist freilich in der Praxis weit
davon entfernt, sie in die Wirklichkeit umzusetzen oder es auch nur ernstlich zu
wollen. Aber man bestaunt und schätzt sich schon darum, daß man es wagt,
an solche Gedanken heranzutreten. Es ist jener Zug des französischen Geistes,
mit allem Neuen und Modernen zu spielen, immer wenigstens dem Worte nach
vornean zu sein und für fortschrittlich zu gelten, jener Drang nach schönem
Schein, letzten Grundes eine gewisse Eitelkeit, andererseits auch wieder der
Ausfluß des französischen Formgefühls, des Dranges, überall die Fassade zu
zu wahren.

So nimmt denn die sozialistische Diskussion breiten Raum ein. So beugen
sich vor dem Worte Sozialismus auch weite Kreise der radikalen Bourgeoisie
— schon aus politischer Klugheit und Wahltaktik. Es ist eins ihrer Schlagworte
für die breite Masse. Wie wenig das für die praktische Politik bedeutet, zeigt
die Tatsache, daß schon die Forderung nach Verstaatlichung der Eisenbahnen,
die unserem Empfinden ganz selbstverständlich ist, in Frankreich als eminent
sozialistisch betrachtet wird und z. B. einen Hauptprogrammpunkt derlrMpen-^
klares darstellt. Augagneur, einer ihrer Führer, der als Minister die West¬
bahn in staatlichem Besitz überführte, wurde dafür zum Teil von eigener
Parteiseite aufs heftigste angegriffen. Was sonst von dieser Partei als sozialistische
Forderung aufgestellt wird, könnte gerade so gut in irgendeinem anderen
Parteiprogramm stehen. Es kommt äußerlich den Bedürfnissen der Masse ent
gegen, läuft aber meist indirekt auf eine Stärkung des Großkapitals hinaus.
So z. B. die Forderung nach möglichster Verbilligung der Lebensmittel und
Materialien, die folgerichtig zur Unterstützung der Großbetriebe. Waren¬
häuser usw. führt, allerdings aber die Masse zunächst blendet durch die offen¬
sichtliche Wendung gegen Handwerk und Kleingewerbe.

Von Revolutiomsmus ist bei ihnen nichts zu spüren, ein wissenschaftliches
System, wissenschaftliche Theorien sind nicht zu finden. Sie sind Opportunisten,
vertreten im übrigen die üblichen demokratisch-antiklerikalen Forderungen der
Radikalen und haben nationalpolitisch ebensosehr den nationalistischen Strö¬
mungen nachgegeben wie jene. Sie sind im Grunde eine Bourgeoispartei,
allerdings mit stark Humanitären und kosmopolitischen Interessen ganz im Sinne
der Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts. Sie spielen wohl mit Völker¬
frieden, internationalen Verständigungen und anderen:, ähnlich etwa wie ein
Llond George, ohne aber auch nur im entferntesten die Wucht der Beweis¬
führung des marxistischen Sozialismus aufweisen zu können.

Von den Unifizierten (80Liali3te3 uniüe8) wurden sie seit langem aufs
leidenschaftlichste bekämpft. Nicht nur aus theoretischer Gegensätzlichkeit, nicht
nur weil sie nach der Ansicht jener ihre sozialistische Aufschrift zu Unrecht
führten und als unehrlich, halb, prinzipienlos entsprechend verhöhnt und ver-


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[0270] vom französischen Sozialismus und den Begriff LZsUte erfunden. Kein Franzose läßt sich den Glauben nehmen, daß sein Land sich mit starken Schritten dem Ideal wenigstens nähere. Man huldigt der Idee, man verehrt und bejubelt sie, ist freilich in der Praxis weit davon entfernt, sie in die Wirklichkeit umzusetzen oder es auch nur ernstlich zu wollen. Aber man bestaunt und schätzt sich schon darum, daß man es wagt, an solche Gedanken heranzutreten. Es ist jener Zug des französischen Geistes, mit allem Neuen und Modernen zu spielen, immer wenigstens dem Worte nach vornean zu sein und für fortschrittlich zu gelten, jener Drang nach schönem Schein, letzten Grundes eine gewisse Eitelkeit, andererseits auch wieder der Ausfluß des französischen Formgefühls, des Dranges, überall die Fassade zu zu wahren. So nimmt denn die sozialistische Diskussion breiten Raum ein. So beugen sich vor dem Worte Sozialismus auch weite Kreise der radikalen Bourgeoisie — schon aus politischer Klugheit und Wahltaktik. Es ist eins ihrer Schlagworte für die breite Masse. Wie wenig das für die praktische Politik bedeutet, zeigt die Tatsache, daß schon die Forderung nach Verstaatlichung der Eisenbahnen, die unserem Empfinden ganz selbstverständlich ist, in Frankreich als eminent sozialistisch betrachtet wird und z. B. einen Hauptprogrammpunkt derlrMpen-^ klares darstellt. Augagneur, einer ihrer Führer, der als Minister die West¬ bahn in staatlichem Besitz überführte, wurde dafür zum Teil von eigener Parteiseite aufs heftigste angegriffen. Was sonst von dieser Partei als sozialistische Forderung aufgestellt wird, könnte gerade so gut in irgendeinem anderen Parteiprogramm stehen. Es kommt äußerlich den Bedürfnissen der Masse ent gegen, läuft aber meist indirekt auf eine Stärkung des Großkapitals hinaus. So z. B. die Forderung nach möglichster Verbilligung der Lebensmittel und Materialien, die folgerichtig zur Unterstützung der Großbetriebe. Waren¬ häuser usw. führt, allerdings aber die Masse zunächst blendet durch die offen¬ sichtliche Wendung gegen Handwerk und Kleingewerbe. Von Revolutiomsmus ist bei ihnen nichts zu spüren, ein wissenschaftliches System, wissenschaftliche Theorien sind nicht zu finden. Sie sind Opportunisten, vertreten im übrigen die üblichen demokratisch-antiklerikalen Forderungen der Radikalen und haben nationalpolitisch ebensosehr den nationalistischen Strö¬ mungen nachgegeben wie jene. Sie sind im Grunde eine Bourgeoispartei, allerdings mit stark Humanitären und kosmopolitischen Interessen ganz im Sinne der Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts. Sie spielen wohl mit Völker¬ frieden, internationalen Verständigungen und anderen:, ähnlich etwa wie ein Llond George, ohne aber auch nur im entferntesten die Wucht der Beweis¬ führung des marxistischen Sozialismus aufweisen zu können. Von den Unifizierten (80Liali3te3 uniüe8) wurden sie seit langem aufs leidenschaftlichste bekämpft. Nicht nur aus theoretischer Gegensätzlichkeit, nicht nur weil sie nach der Ansicht jener ihre sozialistische Aufschrift zu Unrecht führten und als unehrlich, halb, prinzipienlos entsprechend verhöhnt und ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/270>, abgerufen am 23.07.2024.