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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Leibniz und der deutsche Geist

schlechthin geworden ist. Auch wer heute als Vertreter des kritischen Realis¬
mus die deduktive Metaphysik grundsätzlich ablehnt, kann doch ihre überragende
Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Weltanschauungswissenschaft nicht
leugnen. Von Leibniz zieht sich hier eine große Linie über Schellin g, Hegel,
Lotze bis auf Wundt, sie alle sind metaphysische Systematiker der deutschen
Weltanschauung. Leibniz großes Verdienst war es, in seiner Monadologie
die untrennbare Einheit von Welt, Menschheit und Dasein als den ver¬
schiedenen Übergangsstufen des einen Geistes festgelegt und so stark ausgeprägt
zu haben, daß jeder Umsturzversuch dieser Weltbetrachtungsmaxime durch die
Jahrhunderte hindurch bei uns als nationalfremd erschienen ist. Vielleicht ist
es Leibniz zum allergrößten Teile mit zu verdanken, daß wir im neunzehnten
Jahrhundert dem englischen und französischen Positivismus gegenüber so zu¬
rückhaltend blieben. Selbst der in engster Beziehung zu den Naturwissen¬
schaften stehende Lotze besann sich auf Leibnizens Monaden zurück und prägte sich
aus der Lehre von ihrem Sein und Wirken die Grundsätze seiner Metaphysik.

Wir müssen den eigenartigen Gedankengang der Leibnizschen Monaden¬
lehre in kurzen Zügen wiedergeben, um eine Vorstellung von der geschlossenen
Methodik dieses ersten deutschen Idealismus zu vermitteln. Für Spinoza war
die Substanz noch etwas bestimmungslos Allgemeines, Leibniz faßt sie als ein
Tätiges, als eine geistig wirkende Kraft auf, er vergleicht sie einem gespannten
Bogen, der sich, sobald der Widerhalt weggenommen ist, aus eigener Energie
bewegt und ausdehnt. Die eine Kraft löst sich in eine Reihe von Kraft-
momeuten auf, das sind die lebendigen Einzelwesen, die Monaden. Es
gibt somit eine Vielheit substantieller Einzelheiten, eine Vielheit von Mo¬
naden, die gleichzeitg den Kern des physischen wie des geistigen Universums
bilden. Diese Monaden sind daher auch keine Atome, sondern ideale punktuelle
Einheiten, die sich voneinander qualitativ unterscheiden. Sie sind als "meta¬
physische Punkte" nichts Reales, sondern seelische Wesen. Jede aus der un¬
endlichen Vielzahl ist in ihrem Mikrokosmos zugleich ein Spiegel des Universums.
Von einem Geiste, der alldurchdringend wäre, könnte daher gleichsam aus einer
einzigen Monade alles gelesen werden, was auf der Welt geschieht. Die Mo¬
naden haben eine Reihe von dunkleren und helleren Vorstellungen über den
Zustand ihrer selbst und aller übrigen Monaden.

Darüber baut nun Leibniz die kühne und neue Welidarstellung auf, die
den Idealismus der Neuzeit begründete und dem deutschen Denken im europä¬
ischen Kulturkreis zum Siege verhalf. Die Welt ist die Summe aller Monaden,
also aller geistigen Kräfte, jedes Ding, jeder Körper ist ein Monadenorganismus.
Damit ist die vulgäre, im Denken der Neuzeit bis auf Leibniz geübte Welt-
betrachtung auf den Kopf gestellt: das Wesen der Dinge liegt nicht in den
Körpern und dem, was wir an diesen Körpern psychologisch wahrnehmen, sondern
in deren geistigen Urbeftandteilen, der Geist baut im einfachsten Sinne des
Worts den Körper als solchen auf, das bekannte Wort aus Schillers "Wallen-


Leibniz und der deutsche Geist

schlechthin geworden ist. Auch wer heute als Vertreter des kritischen Realis¬
mus die deduktive Metaphysik grundsätzlich ablehnt, kann doch ihre überragende
Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Weltanschauungswissenschaft nicht
leugnen. Von Leibniz zieht sich hier eine große Linie über Schellin g, Hegel,
Lotze bis auf Wundt, sie alle sind metaphysische Systematiker der deutschen
Weltanschauung. Leibniz großes Verdienst war es, in seiner Monadologie
die untrennbare Einheit von Welt, Menschheit und Dasein als den ver¬
schiedenen Übergangsstufen des einen Geistes festgelegt und so stark ausgeprägt
zu haben, daß jeder Umsturzversuch dieser Weltbetrachtungsmaxime durch die
Jahrhunderte hindurch bei uns als nationalfremd erschienen ist. Vielleicht ist
es Leibniz zum allergrößten Teile mit zu verdanken, daß wir im neunzehnten
Jahrhundert dem englischen und französischen Positivismus gegenüber so zu¬
rückhaltend blieben. Selbst der in engster Beziehung zu den Naturwissen¬
schaften stehende Lotze besann sich auf Leibnizens Monaden zurück und prägte sich
aus der Lehre von ihrem Sein und Wirken die Grundsätze seiner Metaphysik.

Wir müssen den eigenartigen Gedankengang der Leibnizschen Monaden¬
lehre in kurzen Zügen wiedergeben, um eine Vorstellung von der geschlossenen
Methodik dieses ersten deutschen Idealismus zu vermitteln. Für Spinoza war
die Substanz noch etwas bestimmungslos Allgemeines, Leibniz faßt sie als ein
Tätiges, als eine geistig wirkende Kraft auf, er vergleicht sie einem gespannten
Bogen, der sich, sobald der Widerhalt weggenommen ist, aus eigener Energie
bewegt und ausdehnt. Die eine Kraft löst sich in eine Reihe von Kraft-
momeuten auf, das sind die lebendigen Einzelwesen, die Monaden. Es
gibt somit eine Vielheit substantieller Einzelheiten, eine Vielheit von Mo¬
naden, die gleichzeitg den Kern des physischen wie des geistigen Universums
bilden. Diese Monaden sind daher auch keine Atome, sondern ideale punktuelle
Einheiten, die sich voneinander qualitativ unterscheiden. Sie sind als „meta¬
physische Punkte" nichts Reales, sondern seelische Wesen. Jede aus der un¬
endlichen Vielzahl ist in ihrem Mikrokosmos zugleich ein Spiegel des Universums.
Von einem Geiste, der alldurchdringend wäre, könnte daher gleichsam aus einer
einzigen Monade alles gelesen werden, was auf der Welt geschieht. Die Mo¬
naden haben eine Reihe von dunkleren und helleren Vorstellungen über den
Zustand ihrer selbst und aller übrigen Monaden.

Darüber baut nun Leibniz die kühne und neue Welidarstellung auf, die
den Idealismus der Neuzeit begründete und dem deutschen Denken im europä¬
ischen Kulturkreis zum Siege verhalf. Die Welt ist die Summe aller Monaden,
also aller geistigen Kräfte, jedes Ding, jeder Körper ist ein Monadenorganismus.
Damit ist die vulgäre, im Denken der Neuzeit bis auf Leibniz geübte Welt-
betrachtung auf den Kopf gestellt: das Wesen der Dinge liegt nicht in den
Körpern und dem, was wir an diesen Körpern psychologisch wahrnehmen, sondern
in deren geistigen Urbeftandteilen, der Geist baut im einfachsten Sinne des
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[0187] Leibniz und der deutsche Geist schlechthin geworden ist. Auch wer heute als Vertreter des kritischen Realis¬ mus die deduktive Metaphysik grundsätzlich ablehnt, kann doch ihre überragende Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Weltanschauungswissenschaft nicht leugnen. Von Leibniz zieht sich hier eine große Linie über Schellin g, Hegel, Lotze bis auf Wundt, sie alle sind metaphysische Systematiker der deutschen Weltanschauung. Leibniz großes Verdienst war es, in seiner Monadologie die untrennbare Einheit von Welt, Menschheit und Dasein als den ver¬ schiedenen Übergangsstufen des einen Geistes festgelegt und so stark ausgeprägt zu haben, daß jeder Umsturzversuch dieser Weltbetrachtungsmaxime durch die Jahrhunderte hindurch bei uns als nationalfremd erschienen ist. Vielleicht ist es Leibniz zum allergrößten Teile mit zu verdanken, daß wir im neunzehnten Jahrhundert dem englischen und französischen Positivismus gegenüber so zu¬ rückhaltend blieben. Selbst der in engster Beziehung zu den Naturwissen¬ schaften stehende Lotze besann sich auf Leibnizens Monaden zurück und prägte sich aus der Lehre von ihrem Sein und Wirken die Grundsätze seiner Metaphysik. Wir müssen den eigenartigen Gedankengang der Leibnizschen Monaden¬ lehre in kurzen Zügen wiedergeben, um eine Vorstellung von der geschlossenen Methodik dieses ersten deutschen Idealismus zu vermitteln. Für Spinoza war die Substanz noch etwas bestimmungslos Allgemeines, Leibniz faßt sie als ein Tätiges, als eine geistig wirkende Kraft auf, er vergleicht sie einem gespannten Bogen, der sich, sobald der Widerhalt weggenommen ist, aus eigener Energie bewegt und ausdehnt. Die eine Kraft löst sich in eine Reihe von Kraft- momeuten auf, das sind die lebendigen Einzelwesen, die Monaden. Es gibt somit eine Vielheit substantieller Einzelheiten, eine Vielheit von Mo¬ naden, die gleichzeitg den Kern des physischen wie des geistigen Universums bilden. Diese Monaden sind daher auch keine Atome, sondern ideale punktuelle Einheiten, die sich voneinander qualitativ unterscheiden. Sie sind als „meta¬ physische Punkte" nichts Reales, sondern seelische Wesen. Jede aus der un¬ endlichen Vielzahl ist in ihrem Mikrokosmos zugleich ein Spiegel des Universums. Von einem Geiste, der alldurchdringend wäre, könnte daher gleichsam aus einer einzigen Monade alles gelesen werden, was auf der Welt geschieht. Die Mo¬ naden haben eine Reihe von dunkleren und helleren Vorstellungen über den Zustand ihrer selbst und aller übrigen Monaden. Darüber baut nun Leibniz die kühne und neue Welidarstellung auf, die den Idealismus der Neuzeit begründete und dem deutschen Denken im europä¬ ischen Kulturkreis zum Siege verhalf. Die Welt ist die Summe aller Monaden, also aller geistigen Kräfte, jedes Ding, jeder Körper ist ein Monadenorganismus. Damit ist die vulgäre, im Denken der Neuzeit bis auf Leibniz geübte Welt- betrachtung auf den Kopf gestellt: das Wesen der Dinge liegt nicht in den Körpern und dem, was wir an diesen Körpern psychologisch wahrnehmen, sondern in deren geistigen Urbeftandteilen, der Geist baut im einfachsten Sinne des Worts den Körper als solchen auf, das bekannte Wort aus Schillers „Wallen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/187>, abgerufen am 23.07.2024.