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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Das Element wird zersetzt durch unvollständiges, halbes Bewußtsein. Der
Mensch aus dem Volke, der zu einem halbbewußten, "halbintelligenten" wird,
verläßt sein volkstümliches Element. So verließ es Gorki. jener Erste, dessen
"Ende" bereits eingetreten ist. Aber dieser Zweite, "im Entstehen Begriffene",
kehrt zu ihm zurück oder will zurückkehren. Man kann jedoch zum Element
nicht zurückkehren, ohne durch das Ganze des Bewußtseins hindurchzukommen,
und dieses Ganze muß religiös sein, denn die Religion ist die absolute Grenze,
Vollendung. Ergebnis des Bewußtseins, die absolute Vereinigung aller Teile
des Bewußtseins in ein einziges Ganzes. Deshalb sucht Gorki ein religiöses
Bewußtsein, vorläufig vielleicht noch unbewußt. (So seltsam dies auch er¬
scheint, ein Bewußtsein unbewußt zu suchen --, so geschieht es doch häufig mit
solchen halbbewußten Menschen.)

Und daß dem so ist, daß es für Gorki keinen anderen Weg zum Volks¬
element gibt als durch das religiöse Bewußtsein --, ist aus seinem letzten
Buche: "Die Kindheit" ersichtlich.

Nicht nur in künstlerischem Sinne ist dies eins der besten, eins der ewigen
russischen Bücher (das zurzeit vielleicht gerade deshalb so wenig geschätzt wird,
weil es einen zu ewig bleibenden Wert hat), sondern auch in religiösem Sinne
eins der bedeutendsten. Auf die Frage, wie sucht der einfache russische Mann
Gott, antwortet die "Kindheit" Gorkis wie kein einziges von den russischen
Büchern, nicht ausgenommen Tolstoj und Dostojewski.

Von Tolstoj und Dostojewski ist unser religiöses Bewußtsein angefüllt,
nirgends können wir uns ihnen entziehen. Gorki aber hat sich von ihnen
entfernt. Er hat als erster und einziger begonnen, von einem religiösen Leben
des Volkes unter Umgehung Tolstojs und Dostojewskis und sogar gegen sie zu
reden. Bei Gorki ist auf diesem Gebiete alles neu, unerwartet, unvorher¬
gesehen, unerprobt, ein ganz neuer unbekannter religiöser Weltteil.

Konnte ein der Religion fremd gegenüberstehender Mensch so etwas tun?
Ist es nur Zufall, daß das wahrheitsgetreueste, stärkste, ewigste von allem, was
Gorki geschrieben hat, auch am meisten religiös ist?

In seinem intelligenten Bewußtsein oder Halbbewußtsein verneint er die
Religion. Aber zwischen seinem intelligenten Bewußtsein und seiner volks¬
tümlichen Wesenheit besteht ein unlösbarer Widerspruch. Gerade hier in der
Religion verneint er, bekämpft sich selbst mit größter Macht, mit größter Pein.
Gerade hier fragt es sich, ob Gorki ein wahrer Prophet dessen, wohin Ru߬
land geht, sein soll oder nicht --, nämlich des Volksbewußtseins, der Volksmacht,
der "Volksherrschaft", der "Demokratie" im wahren religösen Sinne dieses Wortes.

"Religion ist unnötig, Gott ist unnötig". -- so sagt das intelligente
Bewußtsein Gorkis, seine Volkswesenheit aber sagt folgendes:

"In jenen Tagen (der Kindheit) waren Gedanken und Gefühle über Gott
die Hauptsache meiner Seele -- . . . Gott war das beste, das hellste von
allem, was mich umgab" . . .


Wohin geht Rußland?

Das Element wird zersetzt durch unvollständiges, halbes Bewußtsein. Der
Mensch aus dem Volke, der zu einem halbbewußten, „halbintelligenten" wird,
verläßt sein volkstümliches Element. So verließ es Gorki. jener Erste, dessen
„Ende" bereits eingetreten ist. Aber dieser Zweite, „im Entstehen Begriffene",
kehrt zu ihm zurück oder will zurückkehren. Man kann jedoch zum Element
nicht zurückkehren, ohne durch das Ganze des Bewußtseins hindurchzukommen,
und dieses Ganze muß religiös sein, denn die Religion ist die absolute Grenze,
Vollendung. Ergebnis des Bewußtseins, die absolute Vereinigung aller Teile
des Bewußtseins in ein einziges Ganzes. Deshalb sucht Gorki ein religiöses
Bewußtsein, vorläufig vielleicht noch unbewußt. (So seltsam dies auch er¬
scheint, ein Bewußtsein unbewußt zu suchen —, so geschieht es doch häufig mit
solchen halbbewußten Menschen.)

Und daß dem so ist, daß es für Gorki keinen anderen Weg zum Volks¬
element gibt als durch das religiöse Bewußtsein —, ist aus seinem letzten
Buche: „Die Kindheit" ersichtlich.

Nicht nur in künstlerischem Sinne ist dies eins der besten, eins der ewigen
russischen Bücher (das zurzeit vielleicht gerade deshalb so wenig geschätzt wird,
weil es einen zu ewig bleibenden Wert hat), sondern auch in religiösem Sinne
eins der bedeutendsten. Auf die Frage, wie sucht der einfache russische Mann
Gott, antwortet die „Kindheit" Gorkis wie kein einziges von den russischen
Büchern, nicht ausgenommen Tolstoj und Dostojewski.

Von Tolstoj und Dostojewski ist unser religiöses Bewußtsein angefüllt,
nirgends können wir uns ihnen entziehen. Gorki aber hat sich von ihnen
entfernt. Er hat als erster und einziger begonnen, von einem religiösen Leben
des Volkes unter Umgehung Tolstojs und Dostojewskis und sogar gegen sie zu
reden. Bei Gorki ist auf diesem Gebiete alles neu, unerwartet, unvorher¬
gesehen, unerprobt, ein ganz neuer unbekannter religiöser Weltteil.

Konnte ein der Religion fremd gegenüberstehender Mensch so etwas tun?
Ist es nur Zufall, daß das wahrheitsgetreueste, stärkste, ewigste von allem, was
Gorki geschrieben hat, auch am meisten religiös ist?

In seinem intelligenten Bewußtsein oder Halbbewußtsein verneint er die
Religion. Aber zwischen seinem intelligenten Bewußtsein und seiner volks¬
tümlichen Wesenheit besteht ein unlösbarer Widerspruch. Gerade hier in der
Religion verneint er, bekämpft sich selbst mit größter Macht, mit größter Pein.
Gerade hier fragt es sich, ob Gorki ein wahrer Prophet dessen, wohin Ru߬
land geht, sein soll oder nicht —, nämlich des Volksbewußtseins, der Volksmacht,
der „Volksherrschaft", der „Demokratie" im wahren religösen Sinne dieses Wortes.

„Religion ist unnötig, Gott ist unnötig". — so sagt das intelligente
Bewußtsein Gorkis, seine Volkswesenheit aber sagt folgendes:

„In jenen Tagen (der Kindheit) waren Gedanken und Gefühle über Gott
die Hauptsache meiner Seele — . . . Gott war das beste, das hellste von
allem, was mich umgab" . . .


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[0123] Wohin geht Rußland? Das Element wird zersetzt durch unvollständiges, halbes Bewußtsein. Der Mensch aus dem Volke, der zu einem halbbewußten, „halbintelligenten" wird, verläßt sein volkstümliches Element. So verließ es Gorki. jener Erste, dessen „Ende" bereits eingetreten ist. Aber dieser Zweite, „im Entstehen Begriffene", kehrt zu ihm zurück oder will zurückkehren. Man kann jedoch zum Element nicht zurückkehren, ohne durch das Ganze des Bewußtseins hindurchzukommen, und dieses Ganze muß religiös sein, denn die Religion ist die absolute Grenze, Vollendung. Ergebnis des Bewußtseins, die absolute Vereinigung aller Teile des Bewußtseins in ein einziges Ganzes. Deshalb sucht Gorki ein religiöses Bewußtsein, vorläufig vielleicht noch unbewußt. (So seltsam dies auch er¬ scheint, ein Bewußtsein unbewußt zu suchen —, so geschieht es doch häufig mit solchen halbbewußten Menschen.) Und daß dem so ist, daß es für Gorki keinen anderen Weg zum Volks¬ element gibt als durch das religiöse Bewußtsein —, ist aus seinem letzten Buche: „Die Kindheit" ersichtlich. Nicht nur in künstlerischem Sinne ist dies eins der besten, eins der ewigen russischen Bücher (das zurzeit vielleicht gerade deshalb so wenig geschätzt wird, weil es einen zu ewig bleibenden Wert hat), sondern auch in religiösem Sinne eins der bedeutendsten. Auf die Frage, wie sucht der einfache russische Mann Gott, antwortet die „Kindheit" Gorkis wie kein einziges von den russischen Büchern, nicht ausgenommen Tolstoj und Dostojewski. Von Tolstoj und Dostojewski ist unser religiöses Bewußtsein angefüllt, nirgends können wir uns ihnen entziehen. Gorki aber hat sich von ihnen entfernt. Er hat als erster und einziger begonnen, von einem religiösen Leben des Volkes unter Umgehung Tolstojs und Dostojewskis und sogar gegen sie zu reden. Bei Gorki ist auf diesem Gebiete alles neu, unerwartet, unvorher¬ gesehen, unerprobt, ein ganz neuer unbekannter religiöser Weltteil. Konnte ein der Religion fremd gegenüberstehender Mensch so etwas tun? Ist es nur Zufall, daß das wahrheitsgetreueste, stärkste, ewigste von allem, was Gorki geschrieben hat, auch am meisten religiös ist? In seinem intelligenten Bewußtsein oder Halbbewußtsein verneint er die Religion. Aber zwischen seinem intelligenten Bewußtsein und seiner volks¬ tümlichen Wesenheit besteht ein unlösbarer Widerspruch. Gerade hier in der Religion verneint er, bekämpft sich selbst mit größter Macht, mit größter Pein. Gerade hier fragt es sich, ob Gorki ein wahrer Prophet dessen, wohin Ru߬ land geht, sein soll oder nicht —, nämlich des Volksbewußtseins, der Volksmacht, der „Volksherrschaft", der „Demokratie" im wahren religösen Sinne dieses Wortes. „Religion ist unnötig, Gott ist unnötig". — so sagt das intelligente Bewußtsein Gorkis, seine Volkswesenheit aber sagt folgendes: „In jenen Tagen (der Kindheit) waren Gedanken und Gefühle über Gott die Hauptsache meiner Seele — . . . Gott war das beste, das hellste von allem, was mich umgab" . . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/123>, abgerufen am 23.07.2024.