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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

ebenfalls in höherem Sinne) ist erst im Entstehen begriffen, soll erst erreicht
werden. Die letzte größte Erscheinung der Persönlichkeit stellt sich in jenen Großen,
die kleinste Erscheinung der allgemeinen Volkstümlichkeit -- in Gorki dar.

Wir schrecken vor der Unpersönlichkeit der Mehrheit zurück. Aber jeder
Keim ist unpersönlich, jeder Same gestaltlos; dennoch birgt er in sich die Mög¬
lichkeit einer neuen schönen Gestalt, einer neuen vollendeten Persönlichkeit.
Wenn der Same nicht abstirbt, dann lebt er auch nicht wieder auf: der einzelne
muß sterben, damit alle aufleben können; die Persönlichkeit muß sterben, damit
die Allgemeinheit auflebt.

Jene Großen sind zu kompliziert; deshalb streben sie zur Einfachheit, zum
allgemeinen oder einfach volkstümlichen Element. Gorki ist zu einfach, deshalb
strebt er zur bewußten oder nur halbbewußten Kompliziertheit.

AIs Erscheinung künstlerischer Schöpferkraft sind Tolstoj und Dostojewski
unendlich bedeutender als Gorki. Über sie kann man nach dem urteilen, was
sie reden; über Gorki dagegen nicht. Mächtiger als seine Worte ist das, was
er ist. Schon die Möglichkeit einer solchen Erscheinung wie er, wie sie, denn
er sind viele oder werden viele sein --. schon diese Möglichkeit ist in vitalen
Sinne nicht weniger bedeutungsvoll als die ganze künstlerische Schöpferkraft
Tolstojs und Dostojewskis.

In demselben vitalen Sinne ist er, der "Kleine", ein nicht geringeres
Zeichen der Zeit als jene Großen. Und möglicherweise müssen wir zurzeit
nicht auf jene, sondern auf diesen sehen, um unsere Zeit zu verstehen und auf
die Frage zu antworten, wohin geht Rußland?

Vor einigen Jahren prophezeite man das "Ende Gorkis". In dieser
Prophezeihung war Wahrheit und Lüge enthalten. Als Prophet eines "über¬
menschlichen Barfüßertums" ist Gorki tatsächlich abgetan. Aber es ist ein Gorki
zu Ende gegangen, ein anderer hat begonnen.

Die furchtbare Feuerprobe durch falschen Ruhm hat er bestanden, wie
wenige. Auf eine Höhe erhoben, fiel er von ihr herab, zerschlug aber nicht.
Er tat, wenn auch unbewußt, das, was nur die stärksten Russen zu tun im¬
stande sind: "er verbrannte alles, was er verehrte, und er verehrte alles, was
er verbrannte." Gerade das, was er einst als äußerste Wahrheit behauptete:
"Der Mensch ist der Hochmut selbst", der Mensch ist gegen die Menschheit,
einer gegen alle --, dies verneint er jetzt als Lüge. Er verneint sich selbst,
bekämpft sich. Wird er sich besiegen? Aber schon der Umstand, daß er sich
bekämpft, ist ein Zeichen der Kraft. Um auf diese Weise zweierlei Leben durch-
zuleben, zu Ende zu gehen und von neuem anzufangen, bedarf es einer großen
Kraft. Jetzt sind ihm keine Feuerproben mehr furchtbar: in das Feuer ging
Eisen --, Stahl kam heraus.

Die fremde Gestalt --, die üppige Maske des "Übermenschen", "Aus¬
erwählten", "Einzigen" -- ist an ihm vermodert, und seine einfache Gestalt,
die Gestalt aller, die Gestalt des ganzen Volkes, ist zum Vorschein gekommen.


Wohin geht Rußland?

ebenfalls in höherem Sinne) ist erst im Entstehen begriffen, soll erst erreicht
werden. Die letzte größte Erscheinung der Persönlichkeit stellt sich in jenen Großen,
die kleinste Erscheinung der allgemeinen Volkstümlichkeit — in Gorki dar.

Wir schrecken vor der Unpersönlichkeit der Mehrheit zurück. Aber jeder
Keim ist unpersönlich, jeder Same gestaltlos; dennoch birgt er in sich die Mög¬
lichkeit einer neuen schönen Gestalt, einer neuen vollendeten Persönlichkeit.
Wenn der Same nicht abstirbt, dann lebt er auch nicht wieder auf: der einzelne
muß sterben, damit alle aufleben können; die Persönlichkeit muß sterben, damit
die Allgemeinheit auflebt.

Jene Großen sind zu kompliziert; deshalb streben sie zur Einfachheit, zum
allgemeinen oder einfach volkstümlichen Element. Gorki ist zu einfach, deshalb
strebt er zur bewußten oder nur halbbewußten Kompliziertheit.

AIs Erscheinung künstlerischer Schöpferkraft sind Tolstoj und Dostojewski
unendlich bedeutender als Gorki. Über sie kann man nach dem urteilen, was
sie reden; über Gorki dagegen nicht. Mächtiger als seine Worte ist das, was
er ist. Schon die Möglichkeit einer solchen Erscheinung wie er, wie sie, denn
er sind viele oder werden viele sein —. schon diese Möglichkeit ist in vitalen
Sinne nicht weniger bedeutungsvoll als die ganze künstlerische Schöpferkraft
Tolstojs und Dostojewskis.

In demselben vitalen Sinne ist er, der „Kleine", ein nicht geringeres
Zeichen der Zeit als jene Großen. Und möglicherweise müssen wir zurzeit
nicht auf jene, sondern auf diesen sehen, um unsere Zeit zu verstehen und auf
die Frage zu antworten, wohin geht Rußland?

Vor einigen Jahren prophezeite man das „Ende Gorkis". In dieser
Prophezeihung war Wahrheit und Lüge enthalten. Als Prophet eines „über¬
menschlichen Barfüßertums" ist Gorki tatsächlich abgetan. Aber es ist ein Gorki
zu Ende gegangen, ein anderer hat begonnen.

Die furchtbare Feuerprobe durch falschen Ruhm hat er bestanden, wie
wenige. Auf eine Höhe erhoben, fiel er von ihr herab, zerschlug aber nicht.
Er tat, wenn auch unbewußt, das, was nur die stärksten Russen zu tun im¬
stande sind: „er verbrannte alles, was er verehrte, und er verehrte alles, was
er verbrannte." Gerade das, was er einst als äußerste Wahrheit behauptete:
„Der Mensch ist der Hochmut selbst", der Mensch ist gegen die Menschheit,
einer gegen alle —, dies verneint er jetzt als Lüge. Er verneint sich selbst,
bekämpft sich. Wird er sich besiegen? Aber schon der Umstand, daß er sich
bekämpft, ist ein Zeichen der Kraft. Um auf diese Weise zweierlei Leben durch-
zuleben, zu Ende zu gehen und von neuem anzufangen, bedarf es einer großen
Kraft. Jetzt sind ihm keine Feuerproben mehr furchtbar: in das Feuer ging
Eisen —, Stahl kam heraus.

Die fremde Gestalt —, die üppige Maske des „Übermenschen", „Aus¬
erwählten", „Einzigen" — ist an ihm vermodert, und seine einfache Gestalt,
die Gestalt aller, die Gestalt des ganzen Volkes, ist zum Vorschein gekommen.


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[0122] Wohin geht Rußland? ebenfalls in höherem Sinne) ist erst im Entstehen begriffen, soll erst erreicht werden. Die letzte größte Erscheinung der Persönlichkeit stellt sich in jenen Großen, die kleinste Erscheinung der allgemeinen Volkstümlichkeit — in Gorki dar. Wir schrecken vor der Unpersönlichkeit der Mehrheit zurück. Aber jeder Keim ist unpersönlich, jeder Same gestaltlos; dennoch birgt er in sich die Mög¬ lichkeit einer neuen schönen Gestalt, einer neuen vollendeten Persönlichkeit. Wenn der Same nicht abstirbt, dann lebt er auch nicht wieder auf: der einzelne muß sterben, damit alle aufleben können; die Persönlichkeit muß sterben, damit die Allgemeinheit auflebt. Jene Großen sind zu kompliziert; deshalb streben sie zur Einfachheit, zum allgemeinen oder einfach volkstümlichen Element. Gorki ist zu einfach, deshalb strebt er zur bewußten oder nur halbbewußten Kompliziertheit. AIs Erscheinung künstlerischer Schöpferkraft sind Tolstoj und Dostojewski unendlich bedeutender als Gorki. Über sie kann man nach dem urteilen, was sie reden; über Gorki dagegen nicht. Mächtiger als seine Worte ist das, was er ist. Schon die Möglichkeit einer solchen Erscheinung wie er, wie sie, denn er sind viele oder werden viele sein —. schon diese Möglichkeit ist in vitalen Sinne nicht weniger bedeutungsvoll als die ganze künstlerische Schöpferkraft Tolstojs und Dostojewskis. In demselben vitalen Sinne ist er, der „Kleine", ein nicht geringeres Zeichen der Zeit als jene Großen. Und möglicherweise müssen wir zurzeit nicht auf jene, sondern auf diesen sehen, um unsere Zeit zu verstehen und auf die Frage zu antworten, wohin geht Rußland? Vor einigen Jahren prophezeite man das „Ende Gorkis". In dieser Prophezeihung war Wahrheit und Lüge enthalten. Als Prophet eines „über¬ menschlichen Barfüßertums" ist Gorki tatsächlich abgetan. Aber es ist ein Gorki zu Ende gegangen, ein anderer hat begonnen. Die furchtbare Feuerprobe durch falschen Ruhm hat er bestanden, wie wenige. Auf eine Höhe erhoben, fiel er von ihr herab, zerschlug aber nicht. Er tat, wenn auch unbewußt, das, was nur die stärksten Russen zu tun im¬ stande sind: „er verbrannte alles, was er verehrte, und er verehrte alles, was er verbrannte." Gerade das, was er einst als äußerste Wahrheit behauptete: „Der Mensch ist der Hochmut selbst", der Mensch ist gegen die Menschheit, einer gegen alle —, dies verneint er jetzt als Lüge. Er verneint sich selbst, bekämpft sich. Wird er sich besiegen? Aber schon der Umstand, daß er sich bekämpft, ist ein Zeichen der Kraft. Um auf diese Weise zweierlei Leben durch- zuleben, zu Ende zu gehen und von neuem anzufangen, bedarf es einer großen Kraft. Jetzt sind ihm keine Feuerproben mehr furchtbar: in das Feuer ging Eisen —, Stahl kam heraus. Die fremde Gestalt —, die üppige Maske des „Übermenschen", „Aus¬ erwählten", „Einzigen" — ist an ihm vermodert, und seine einfache Gestalt, die Gestalt aller, die Gestalt des ganzen Volkes, ist zum Vorschein gekommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/122>, abgerufen am 23.07.2024.