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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Die Erneuerung der Menschheit vollzieht sich "nur durch den russischen Gedanken,
den russischen Gott und Christus". "Gerade in Rußland wird die Wiederkunft
Christi erfolgen. Das russische Volk ist auf der ganzen Erde das einzige Volk,
das Gottes Träger ist, das die Welt durch den Namen des neuen Gottes zu
erneuern und zu retten berufen ist" -- "ihm sind die Schlüssel des Lebens und
des neuen Wortes gegeben".*)

Solowjow hat im Anfang des Türkenkrieges eine berühmte Rede gehalten
über die "drei Kräfte". Es sind dies die Ideen des Ostens und des Westens
und die Idee der Vermittlung, die Rußland berufen ist, zwischen beiden einmal
zu spielen.

"Die erste strebt danach, die Menschheit in allen ihren Sphären und in
allen ihren Lebensstufen einem höchsten Lebensprinzip in ausschließlicher Einheit
unterzuordnen, sie strebt danach, die Vielheit der Einzelformen zu vermischen
und zusammenzugießen, die Selbständigkeit der Person und die Freiheit des
persönlichen Lebens zu erdrücken. Ein Herr und eine tote Masse von Sklaven --
das ist die letzte Verwirklichung jener Kraft. Wenn sie die ausschließliche Vor¬
herrschaft erhielte, so würde die Welt in toter Einseitigkeit und Unbeweglichkeit
versteinern. Aber zusammen mit dieser Kraft wirkt eine andere, gerade ent¬
gegengesetzte, sie strebt danach, die Härte der toten Einheit zu zerschlagen, den
einzelnen Formen des Lebens überall die Freiheit zu geben, Freiheit zu geben
der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit. Unter ihrem Einfluß werden die ein¬
zelnen Elemente der Menschheit die Ausgangspunkte des Lebens. Sie handeln
ausschließlich aus sich und für sich, das Allgemeine verliert die Bedeutung des
realen wirklichen Seins, verwandelt sich in irgendetwas Entferntes, Leeres, in
ein formelles Gesetz und verliert endlich jeden Sinn. Der allgemeine Egoismus
und die Anarchie, die Vielheit der einzelnen Einheiten ohne jedes innere
Band -- das ist der äußerste Ausdruck jener Kraft. Wenn sie die ausgesprochene
Vorherrschaft erhielte, dann würde die Menschheit in ihre Elemente zerfallen,
das Band des Lebens würde zerreißen, und die Geschichte würde im Kriege
aller gegen alle endigen."

Die eine Kraft ist nach Solowjow im Osten verkörpert mit seiner alles
verschlingenden Einheit, die andere im Westen mit seinem alles zerreißenden
Egoismus. "Der Osten vernichtet gänzlich den Menschen in Gott und ver¬
körpert den Gott ohne Menschen, umgekehrt strebt die westliche Zivilisation
zum Menschen ohne Gott."**) Die Geschichte hat aber eine dritte Kraft gegeben,
die "über den beiden anderen steht", "die sie von jeder Ausschließlichkeit befreit,
die die Einheit des höchsten Prinzips mit der freien Vielheit der Einzelformen
und der Elemente versöhnt, auf diese Weise eine Ganzheit des allgemein
menschlichen Organismus bildet und ihm inneres stilles Leben gibt".




*) Vgl. Trubetzkoj. die Weltanschauung v. Solowjow, S. 62.
Trubetzkoj a. a. O. S. 67.
Wohin geht Rußland?

Die Erneuerung der Menschheit vollzieht sich „nur durch den russischen Gedanken,
den russischen Gott und Christus". „Gerade in Rußland wird die Wiederkunft
Christi erfolgen. Das russische Volk ist auf der ganzen Erde das einzige Volk,
das Gottes Träger ist, das die Welt durch den Namen des neuen Gottes zu
erneuern und zu retten berufen ist" — „ihm sind die Schlüssel des Lebens und
des neuen Wortes gegeben".*)

Solowjow hat im Anfang des Türkenkrieges eine berühmte Rede gehalten
über die „drei Kräfte". Es sind dies die Ideen des Ostens und des Westens
und die Idee der Vermittlung, die Rußland berufen ist, zwischen beiden einmal
zu spielen.

„Die erste strebt danach, die Menschheit in allen ihren Sphären und in
allen ihren Lebensstufen einem höchsten Lebensprinzip in ausschließlicher Einheit
unterzuordnen, sie strebt danach, die Vielheit der Einzelformen zu vermischen
und zusammenzugießen, die Selbständigkeit der Person und die Freiheit des
persönlichen Lebens zu erdrücken. Ein Herr und eine tote Masse von Sklaven —
das ist die letzte Verwirklichung jener Kraft. Wenn sie die ausschließliche Vor¬
herrschaft erhielte, so würde die Welt in toter Einseitigkeit und Unbeweglichkeit
versteinern. Aber zusammen mit dieser Kraft wirkt eine andere, gerade ent¬
gegengesetzte, sie strebt danach, die Härte der toten Einheit zu zerschlagen, den
einzelnen Formen des Lebens überall die Freiheit zu geben, Freiheit zu geben
der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit. Unter ihrem Einfluß werden die ein¬
zelnen Elemente der Menschheit die Ausgangspunkte des Lebens. Sie handeln
ausschließlich aus sich und für sich, das Allgemeine verliert die Bedeutung des
realen wirklichen Seins, verwandelt sich in irgendetwas Entferntes, Leeres, in
ein formelles Gesetz und verliert endlich jeden Sinn. Der allgemeine Egoismus
und die Anarchie, die Vielheit der einzelnen Einheiten ohne jedes innere
Band — das ist der äußerste Ausdruck jener Kraft. Wenn sie die ausgesprochene
Vorherrschaft erhielte, dann würde die Menschheit in ihre Elemente zerfallen,
das Band des Lebens würde zerreißen, und die Geschichte würde im Kriege
aller gegen alle endigen."

Die eine Kraft ist nach Solowjow im Osten verkörpert mit seiner alles
verschlingenden Einheit, die andere im Westen mit seinem alles zerreißenden
Egoismus. „Der Osten vernichtet gänzlich den Menschen in Gott und ver¬
körpert den Gott ohne Menschen, umgekehrt strebt die westliche Zivilisation
zum Menschen ohne Gott."**) Die Geschichte hat aber eine dritte Kraft gegeben,
die „über den beiden anderen steht", „die sie von jeder Ausschließlichkeit befreit,
die die Einheit des höchsten Prinzips mit der freien Vielheit der Einzelformen
und der Elemente versöhnt, auf diese Weise eine Ganzheit des allgemein
menschlichen Organismus bildet und ihm inneres stilles Leben gibt".




*) Vgl. Trubetzkoj. die Weltanschauung v. Solowjow, S. 62.
Trubetzkoj a. a. O. S. 67.
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[0116] Wohin geht Rußland? Die Erneuerung der Menschheit vollzieht sich „nur durch den russischen Gedanken, den russischen Gott und Christus". „Gerade in Rußland wird die Wiederkunft Christi erfolgen. Das russische Volk ist auf der ganzen Erde das einzige Volk, das Gottes Träger ist, das die Welt durch den Namen des neuen Gottes zu erneuern und zu retten berufen ist" — „ihm sind die Schlüssel des Lebens und des neuen Wortes gegeben".*) Solowjow hat im Anfang des Türkenkrieges eine berühmte Rede gehalten über die „drei Kräfte". Es sind dies die Ideen des Ostens und des Westens und die Idee der Vermittlung, die Rußland berufen ist, zwischen beiden einmal zu spielen. „Die erste strebt danach, die Menschheit in allen ihren Sphären und in allen ihren Lebensstufen einem höchsten Lebensprinzip in ausschließlicher Einheit unterzuordnen, sie strebt danach, die Vielheit der Einzelformen zu vermischen und zusammenzugießen, die Selbständigkeit der Person und die Freiheit des persönlichen Lebens zu erdrücken. Ein Herr und eine tote Masse von Sklaven — das ist die letzte Verwirklichung jener Kraft. Wenn sie die ausschließliche Vor¬ herrschaft erhielte, so würde die Welt in toter Einseitigkeit und Unbeweglichkeit versteinern. Aber zusammen mit dieser Kraft wirkt eine andere, gerade ent¬ gegengesetzte, sie strebt danach, die Härte der toten Einheit zu zerschlagen, den einzelnen Formen des Lebens überall die Freiheit zu geben, Freiheit zu geben der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit. Unter ihrem Einfluß werden die ein¬ zelnen Elemente der Menschheit die Ausgangspunkte des Lebens. Sie handeln ausschließlich aus sich und für sich, das Allgemeine verliert die Bedeutung des realen wirklichen Seins, verwandelt sich in irgendetwas Entferntes, Leeres, in ein formelles Gesetz und verliert endlich jeden Sinn. Der allgemeine Egoismus und die Anarchie, die Vielheit der einzelnen Einheiten ohne jedes innere Band — das ist der äußerste Ausdruck jener Kraft. Wenn sie die ausgesprochene Vorherrschaft erhielte, dann würde die Menschheit in ihre Elemente zerfallen, das Band des Lebens würde zerreißen, und die Geschichte würde im Kriege aller gegen alle endigen." Die eine Kraft ist nach Solowjow im Osten verkörpert mit seiner alles verschlingenden Einheit, die andere im Westen mit seinem alles zerreißenden Egoismus. „Der Osten vernichtet gänzlich den Menschen in Gott und ver¬ körpert den Gott ohne Menschen, umgekehrt strebt die westliche Zivilisation zum Menschen ohne Gott."**) Die Geschichte hat aber eine dritte Kraft gegeben, die „über den beiden anderen steht", „die sie von jeder Ausschließlichkeit befreit, die die Einheit des höchsten Prinzips mit der freien Vielheit der Einzelformen und der Elemente versöhnt, auf diese Weise eine Ganzheit des allgemein menschlichen Organismus bildet und ihm inneres stilles Leben gibt". *) Vgl. Trubetzkoj. die Weltanschauung v. Solowjow, S. 62. Trubetzkoj a. a. O. S. 67.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/116>, abgerufen am 23.07.2024.