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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Alte und neue deutsche Politik

Frymannsche "Reichsreform" in diesem Kriege wirklich bewährt? Nutze
nicht die Mitarbeit vieler sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Organi¬
sationen jetzt viel mehr, als wenn wir ihren bösen Willen und ihre Verbitterung
zwingen müßten? So verkehrtes Urteil über Millionen deutscher Mitbürger,
wie es sich Frymann geleistet hat, darf in unserer inneren Politik nach dem
Kriege niemals wiederkehren. Auch eine solche angeblich "nationale" Recht¬
haberei gegenüber den Elsaß-Lothringern nicht mehr, die soweit ging, daß sie
behauptete, der Reichskanzler von Bethmann Hollweg gehöre vor einen Staats¬
gerichtshof, bloß weil er den Versuch gemacht hatte, im Reichslande mit einer
Verfassung zu regieren (Frymann S. 18).

Wir wollen nicht billige Kritik üben gegen ein Buch, das unter ganz
anderen Voraussetzungen geschrieben ist. Deswegen lasse ich das meiste, vor
allem auch die antisemitischen Tendenzen des Verfassers ganz beiseite. Es
handelt sich ja hier nicht um eine verspätete Würdigung des Buches, fondern
ich möchte zeigen, wie anders unser Standpunkt in Fragen der inneren und
auswärtigen Politik geworden ist, wie weit wir von den politischen Leiden¬
schaften der Zeit vor dem Kriege entfernt sind. In dem Tone Frymanns
kann heute niemand mehr unter uns reden. Der Verfasser selbst ist einsichtig
genug gewesen, um wenigstens nebenher anzudeuten, daß ein großer Krieg die
Voraussetzungen seines Buches beseitigen könne. Die große Leidenschaft des
Krieges hat die kleinen Leidenschaften voraugustlicher Polemik ausgelöscht. Die
deutsche Politik bis 1914 ist trotz ihrer zeitlichen Nähe für uns Geschichte ge¬
worden.

Das Auge des Historikers sieht aber denn doch die Linien der nachbis-
marckischen Politik klarer als das des Polemikers und des zu recht oder unrecht
besorgten Patrioten. Mit gutem Grunde hat einer der Hauptträger der nach-
bismarckischen Politik, unser Altreichskanzler Fürst Bülow, den jetzigen Zeit¬
punkt benutzt, um als Historiker über seine eigene Regierungstätigkeit Bericht
zu erstatten. Ein Wort zur rechten Stunde von den Lippen eines Berufenen
an uns ist dies in diesem Jahre erschienene Buch des Fürsten über "Deutsche
Politik". Wir schwer es dem deutschen Volke in Wirklichkeit gemacht wird,
sich in der Welt durchzusetzen, das spürt das ganze Volk erst heute am eignen
Leibe, wo der Krieg ihm seine Lehren aufzwingt. Vorher haben wir die Auf¬
gabe oft für zu leicht gehalten, sonst hätten nicht Bücher im Tone des Fry-
mannschen bei uns geschrieben werden können. Offenbar gewinnt man aber
von der Regierung den Eindruck, daß sie doch, wie es ihr ja auch zukommt,
ein richtigeres Augenmaß gehabt hat. Das Deutsche Reich ist nach seiner
Gründung und Befestigung nicht aus eignem freien Willen in die Weltpolitik
hineingegangen, sondern es ist den wirtschaftlichen Eroberungen seines Handels
und seiner Industrie gefolgt. Bismarck ging nur ganz zögernd über die ge¬
wohnte europäische Kontinentalpolitik hinaus. Er hat die Zeit reif werden
lassen und seinen Nachfolgern die großen neuen Aufgaben vorbehalten. Fürst


Alte und neue deutsche Politik

Frymannsche „Reichsreform" in diesem Kriege wirklich bewährt? Nutze
nicht die Mitarbeit vieler sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Organi¬
sationen jetzt viel mehr, als wenn wir ihren bösen Willen und ihre Verbitterung
zwingen müßten? So verkehrtes Urteil über Millionen deutscher Mitbürger,
wie es sich Frymann geleistet hat, darf in unserer inneren Politik nach dem
Kriege niemals wiederkehren. Auch eine solche angeblich „nationale" Recht¬
haberei gegenüber den Elsaß-Lothringern nicht mehr, die soweit ging, daß sie
behauptete, der Reichskanzler von Bethmann Hollweg gehöre vor einen Staats¬
gerichtshof, bloß weil er den Versuch gemacht hatte, im Reichslande mit einer
Verfassung zu regieren (Frymann S. 18).

Wir wollen nicht billige Kritik üben gegen ein Buch, das unter ganz
anderen Voraussetzungen geschrieben ist. Deswegen lasse ich das meiste, vor
allem auch die antisemitischen Tendenzen des Verfassers ganz beiseite. Es
handelt sich ja hier nicht um eine verspätete Würdigung des Buches, fondern
ich möchte zeigen, wie anders unser Standpunkt in Fragen der inneren und
auswärtigen Politik geworden ist, wie weit wir von den politischen Leiden¬
schaften der Zeit vor dem Kriege entfernt sind. In dem Tone Frymanns
kann heute niemand mehr unter uns reden. Der Verfasser selbst ist einsichtig
genug gewesen, um wenigstens nebenher anzudeuten, daß ein großer Krieg die
Voraussetzungen seines Buches beseitigen könne. Die große Leidenschaft des
Krieges hat die kleinen Leidenschaften voraugustlicher Polemik ausgelöscht. Die
deutsche Politik bis 1914 ist trotz ihrer zeitlichen Nähe für uns Geschichte ge¬
worden.

Das Auge des Historikers sieht aber denn doch die Linien der nachbis-
marckischen Politik klarer als das des Polemikers und des zu recht oder unrecht
besorgten Patrioten. Mit gutem Grunde hat einer der Hauptträger der nach-
bismarckischen Politik, unser Altreichskanzler Fürst Bülow, den jetzigen Zeit¬
punkt benutzt, um als Historiker über seine eigene Regierungstätigkeit Bericht
zu erstatten. Ein Wort zur rechten Stunde von den Lippen eines Berufenen
an uns ist dies in diesem Jahre erschienene Buch des Fürsten über „Deutsche
Politik". Wir schwer es dem deutschen Volke in Wirklichkeit gemacht wird,
sich in der Welt durchzusetzen, das spürt das ganze Volk erst heute am eignen
Leibe, wo der Krieg ihm seine Lehren aufzwingt. Vorher haben wir die Auf¬
gabe oft für zu leicht gehalten, sonst hätten nicht Bücher im Tone des Fry-
mannschen bei uns geschrieben werden können. Offenbar gewinnt man aber
von der Regierung den Eindruck, daß sie doch, wie es ihr ja auch zukommt,
ein richtigeres Augenmaß gehabt hat. Das Deutsche Reich ist nach seiner
Gründung und Befestigung nicht aus eignem freien Willen in die Weltpolitik
hineingegangen, sondern es ist den wirtschaftlichen Eroberungen seines Handels
und seiner Industrie gefolgt. Bismarck ging nur ganz zögernd über die ge¬
wohnte europäische Kontinentalpolitik hinaus. Er hat die Zeit reif werden
lassen und seinen Nachfolgern die großen neuen Aufgaben vorbehalten. Fürst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/401>, abgerufen am 29.06.2024.