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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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lande, zeigt, wie unter den Produktions¬
faktoren die beiden für die Großindustrie
charakteristischen: das Unternehmergenie und
das Unternehmerkapital, auch bei uns an
Wichtigkeit stetig gewinnen, beschreibt die Lage
vor Ausbruch des Krieges und die Störung
durch den Krieg, berichtet über die letzte
Periode der deutschen Handelspolitik, wobei
Cciprivi einer glänzenden Rechtfertigung teil¬
haft wird, und gibt Winke für die in nächster
Zukunft einzuschlagenden Wege.

Jedes statistische Ergebnis des Verfassers
und jede der Folgerungen, die er daraus
zieht, ladet zur Erörterung heut brennender
Fragen ein. So z, B. lehnt er das Ideal
des geschlossenen Handelsstaates ab. Den
erstrebt Wohl auch kein Praktischer Politiker
im Ernste. Aber daß wir nach möglichster
Unabhängigkeit unserer Ernährung vom Aus¬
lande streben müssen, sagt doch anno 1916
jedem Deutschen sein Magen, sein Gaumen
und sein Geldtäschchen. Nimmt man nun
die Zoll-, Kornpreis- und Düngemittel¬
statistik zusammen, so überzeugt man sich,
daß unsere Landwirtschaft, deren großartige
Leistungen vollauf gewürdigt werden, mit
der Intensivizierung an der Grenze -- zwar
nicht des technisch, aber -- des ökonomisch
Möglichen angelangt ist, und daß sie uns mit
Getreide (von Fleisch, Milch und Butter gar
nicht zu reden) ausreichend nur dann ver¬
sorgen könnte, wenn exorbitante Agrarzölle
den landwirtschaftlichen Erzeugnissen dauernd
einen unerträglich hohen Preis sicherten. Das
mahnt uns, in der Begeisterung für unsere
industrielle Blüte den Produktionsfaktor
"Boden", "Land", nicht zu vergessen, dessen
genauere Betrachtung uns in die verbotene
Erörterung der Kriegsziele hineinlocken würde.
Aus dem Gange unserer wirtschaftlichen
Entwicklung folgert Harms, daß wir auf
Steigerung unserer überseeischen Ausfuhr be¬
dacht sein müssen, weil wir sonst auf die
Dauer die über See zu beziehenden Roh¬
stoffe nicht bezahlen könnten. Da wäre denn
zu untersuchen, ob in der Tat die Schafzucht
mit intensiver Landwirtschaft so unverträglich
ist, wie ziemlich allgemein geglaubt wird;
es gibt erfahrene Landwirte, die es ver¬
neinen. Jedenfalls ist der rasche Zusammen¬

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bruch der heimischen Wollproduktion nicht
durch Plötzliche Verbesserung der Landwirt¬
schaft verursacht worden, sondern war die
Folge davon, daß die schlesischen Schafzüchter
durch den Verkauf von teuren Zuchtböcken
nach Australien eine Zeitlang glänzende Ge¬
schäfte machten. Die australischen Herden¬
besitzer, die den Boden umsonst haben, konnten
dann die Wolle ihrer veredelten Schafe frei¬
lich wohlfeiler verkaufen als die schlesischen.
Und in Beziehung auf die Baumwolle wäre
zu erwägen, ob wir nicht zu stärkerem
Leinengebrauch zurückkehren und den da¬
durch verminderten Baumwollenbedarf aus
der asiatischen Türkei decken können.

Harms warnt davor, sich durch Ein¬
mischung gefühlsmäßiger Ideale in die
Handels- und wirtschaftspolitischen Be¬
rechnungen zur Überschätzung des gehofften
mitteleuropäischen Wirtschastsbundes und der
Einbeziehung der Balkanstaaten in ihn ver¬
leiten zu lassen. Diese Warnung will ich
mir zu Herzen nehmen, da ich sie als auch
an mich gerichtet ansehen darf. Aber er hat
doch auch einen Trost für uns Schwärmer
übrig: "Andererseits ist es vermutlich richtig,
daß das deutsche Wirtschaftsleben vom nahen
Orient künftig viel Großes erwarten darf.
Hierfür müssen aber zunächst mancherlei
Boraussetzungen geschaffen werden, die vor
allem Zeit erfordern." Sollte nicht bei
weiter nordwärts gerichtetem Blick vielleicht
auch noch manches Tröstliche zu entdecken
Dr. Carl Ientsch sein?

Die Bagdadbahn.

Ein eigenartiger Reiz
liegt in dem Rückblick auf eine Strecke langer
mühevoller Arbeit. Dieses Genusses wegen
macht der Wanderer gerne halt, wenn er einen
Punkt erreicht hat, der ihm einen Über- und
Rückblick auf die hinter ihm liegende schwere
Wegestrecke gestattet.

Ein ähnliches Gefühl muß Dr. Mehrmann-
Koblenz gehabt haben, als er die letzte Zeile
zu seinem kürzlich erschienenen Buche "Der
diplomatische Krieg in Vorderasien", unter
besonderer Berücksichtigung der Geschichte der
Bagdadbahn (Verlag: Das größere Deutsch¬
land, Dresden) geschrieben hatte.

Seit fünfzehn Jahren hat er mit bewun-
dernswertem Fleiß alle Nachrichten gesammelt,

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lande, zeigt, wie unter den Produktions¬
faktoren die beiden für die Großindustrie
charakteristischen: das Unternehmergenie und
das Unternehmerkapital, auch bei uns an
Wichtigkeit stetig gewinnen, beschreibt die Lage
vor Ausbruch des Krieges und die Störung
durch den Krieg, berichtet über die letzte
Periode der deutschen Handelspolitik, wobei
Cciprivi einer glänzenden Rechtfertigung teil¬
haft wird, und gibt Winke für die in nächster
Zukunft einzuschlagenden Wege.

Jedes statistische Ergebnis des Verfassers
und jede der Folgerungen, die er daraus
zieht, ladet zur Erörterung heut brennender
Fragen ein. So z, B. lehnt er das Ideal
des geschlossenen Handelsstaates ab. Den
erstrebt Wohl auch kein Praktischer Politiker
im Ernste. Aber daß wir nach möglichster
Unabhängigkeit unserer Ernährung vom Aus¬
lande streben müssen, sagt doch anno 1916
jedem Deutschen sein Magen, sein Gaumen
und sein Geldtäschchen. Nimmt man nun
die Zoll-, Kornpreis- und Düngemittel¬
statistik zusammen, so überzeugt man sich,
daß unsere Landwirtschaft, deren großartige
Leistungen vollauf gewürdigt werden, mit
der Intensivizierung an der Grenze — zwar
nicht des technisch, aber — des ökonomisch
Möglichen angelangt ist, und daß sie uns mit
Getreide (von Fleisch, Milch und Butter gar
nicht zu reden) ausreichend nur dann ver¬
sorgen könnte, wenn exorbitante Agrarzölle
den landwirtschaftlichen Erzeugnissen dauernd
einen unerträglich hohen Preis sicherten. Das
mahnt uns, in der Begeisterung für unsere
industrielle Blüte den Produktionsfaktor
„Boden", „Land", nicht zu vergessen, dessen
genauere Betrachtung uns in die verbotene
Erörterung der Kriegsziele hineinlocken würde.
Aus dem Gange unserer wirtschaftlichen
Entwicklung folgert Harms, daß wir auf
Steigerung unserer überseeischen Ausfuhr be¬
dacht sein müssen, weil wir sonst auf die
Dauer die über See zu beziehenden Roh¬
stoffe nicht bezahlen könnten. Da wäre denn
zu untersuchen, ob in der Tat die Schafzucht
mit intensiver Landwirtschaft so unverträglich
ist, wie ziemlich allgemein geglaubt wird;
es gibt erfahrene Landwirte, die es ver¬
neinen. Jedenfalls ist der rasche Zusammen¬

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bruch der heimischen Wollproduktion nicht
durch Plötzliche Verbesserung der Landwirt¬
schaft verursacht worden, sondern war die
Folge davon, daß die schlesischen Schafzüchter
durch den Verkauf von teuren Zuchtböcken
nach Australien eine Zeitlang glänzende Ge¬
schäfte machten. Die australischen Herden¬
besitzer, die den Boden umsonst haben, konnten
dann die Wolle ihrer veredelten Schafe frei¬
lich wohlfeiler verkaufen als die schlesischen.
Und in Beziehung auf die Baumwolle wäre
zu erwägen, ob wir nicht zu stärkerem
Leinengebrauch zurückkehren und den da¬
durch verminderten Baumwollenbedarf aus
der asiatischen Türkei decken können.

Harms warnt davor, sich durch Ein¬
mischung gefühlsmäßiger Ideale in die
Handels- und wirtschaftspolitischen Be¬
rechnungen zur Überschätzung des gehofften
mitteleuropäischen Wirtschastsbundes und der
Einbeziehung der Balkanstaaten in ihn ver¬
leiten zu lassen. Diese Warnung will ich
mir zu Herzen nehmen, da ich sie als auch
an mich gerichtet ansehen darf. Aber er hat
doch auch einen Trost für uns Schwärmer
übrig: „Andererseits ist es vermutlich richtig,
daß das deutsche Wirtschaftsleben vom nahen
Orient künftig viel Großes erwarten darf.
Hierfür müssen aber zunächst mancherlei
Boraussetzungen geschaffen werden, die vor
allem Zeit erfordern." Sollte nicht bei
weiter nordwärts gerichtetem Blick vielleicht
auch noch manches Tröstliche zu entdecken
Dr. Carl Ientsch sein?

Die Bagdadbahn.

Ein eigenartiger Reiz
liegt in dem Rückblick auf eine Strecke langer
mühevoller Arbeit. Dieses Genusses wegen
macht der Wanderer gerne halt, wenn er einen
Punkt erreicht hat, der ihm einen Über- und
Rückblick auf die hinter ihm liegende schwere
Wegestrecke gestattet.

Ein ähnliches Gefühl muß Dr. Mehrmann-
Koblenz gehabt haben, als er die letzte Zeile
zu seinem kürzlich erschienenen Buche „Der
diplomatische Krieg in Vorderasien", unter
besonderer Berücksichtigung der Geschichte der
Bagdadbahn (Verlag: Das größere Deutsch¬
land, Dresden) geschrieben hatte.

Seit fünfzehn Jahren hat er mit bewun-
dernswertem Fleiß alle Nachrichten gesammelt,

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[0392] Maßgebliches und Unmaßgebliches lande, zeigt, wie unter den Produktions¬ faktoren die beiden für die Großindustrie charakteristischen: das Unternehmergenie und das Unternehmerkapital, auch bei uns an Wichtigkeit stetig gewinnen, beschreibt die Lage vor Ausbruch des Krieges und die Störung durch den Krieg, berichtet über die letzte Periode der deutschen Handelspolitik, wobei Cciprivi einer glänzenden Rechtfertigung teil¬ haft wird, und gibt Winke für die in nächster Zukunft einzuschlagenden Wege. Jedes statistische Ergebnis des Verfassers und jede der Folgerungen, die er daraus zieht, ladet zur Erörterung heut brennender Fragen ein. So z, B. lehnt er das Ideal des geschlossenen Handelsstaates ab. Den erstrebt Wohl auch kein Praktischer Politiker im Ernste. Aber daß wir nach möglichster Unabhängigkeit unserer Ernährung vom Aus¬ lande streben müssen, sagt doch anno 1916 jedem Deutschen sein Magen, sein Gaumen und sein Geldtäschchen. Nimmt man nun die Zoll-, Kornpreis- und Düngemittel¬ statistik zusammen, so überzeugt man sich, daß unsere Landwirtschaft, deren großartige Leistungen vollauf gewürdigt werden, mit der Intensivizierung an der Grenze — zwar nicht des technisch, aber — des ökonomisch Möglichen angelangt ist, und daß sie uns mit Getreide (von Fleisch, Milch und Butter gar nicht zu reden) ausreichend nur dann ver¬ sorgen könnte, wenn exorbitante Agrarzölle den landwirtschaftlichen Erzeugnissen dauernd einen unerträglich hohen Preis sicherten. Das mahnt uns, in der Begeisterung für unsere industrielle Blüte den Produktionsfaktor „Boden", „Land", nicht zu vergessen, dessen genauere Betrachtung uns in die verbotene Erörterung der Kriegsziele hineinlocken würde. Aus dem Gange unserer wirtschaftlichen Entwicklung folgert Harms, daß wir auf Steigerung unserer überseeischen Ausfuhr be¬ dacht sein müssen, weil wir sonst auf die Dauer die über See zu beziehenden Roh¬ stoffe nicht bezahlen könnten. Da wäre denn zu untersuchen, ob in der Tat die Schafzucht mit intensiver Landwirtschaft so unverträglich ist, wie ziemlich allgemein geglaubt wird; es gibt erfahrene Landwirte, die es ver¬ neinen. Jedenfalls ist der rasche Zusammen¬ bruch der heimischen Wollproduktion nicht durch Plötzliche Verbesserung der Landwirt¬ schaft verursacht worden, sondern war die Folge davon, daß die schlesischen Schafzüchter durch den Verkauf von teuren Zuchtböcken nach Australien eine Zeitlang glänzende Ge¬ schäfte machten. Die australischen Herden¬ besitzer, die den Boden umsonst haben, konnten dann die Wolle ihrer veredelten Schafe frei¬ lich wohlfeiler verkaufen als die schlesischen. Und in Beziehung auf die Baumwolle wäre zu erwägen, ob wir nicht zu stärkerem Leinengebrauch zurückkehren und den da¬ durch verminderten Baumwollenbedarf aus der asiatischen Türkei decken können. Harms warnt davor, sich durch Ein¬ mischung gefühlsmäßiger Ideale in die Handels- und wirtschaftspolitischen Be¬ rechnungen zur Überschätzung des gehofften mitteleuropäischen Wirtschastsbundes und der Einbeziehung der Balkanstaaten in ihn ver¬ leiten zu lassen. Diese Warnung will ich mir zu Herzen nehmen, da ich sie als auch an mich gerichtet ansehen darf. Aber er hat doch auch einen Trost für uns Schwärmer übrig: „Andererseits ist es vermutlich richtig, daß das deutsche Wirtschaftsleben vom nahen Orient künftig viel Großes erwarten darf. Hierfür müssen aber zunächst mancherlei Boraussetzungen geschaffen werden, die vor allem Zeit erfordern." Sollte nicht bei weiter nordwärts gerichtetem Blick vielleicht auch noch manches Tröstliche zu entdecken Dr. Carl Ientsch sein? Die Bagdadbahn. Ein eigenartiger Reiz liegt in dem Rückblick auf eine Strecke langer mühevoller Arbeit. Dieses Genusses wegen macht der Wanderer gerne halt, wenn er einen Punkt erreicht hat, der ihm einen Über- und Rückblick auf die hinter ihm liegende schwere Wegestrecke gestattet. Ein ähnliches Gefühl muß Dr. Mehrmann- Koblenz gehabt haben, als er die letzte Zeile zu seinem kürzlich erschienenen Buche „Der diplomatische Krieg in Vorderasien", unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Bagdadbahn (Verlag: Das größere Deutsch¬ land, Dresden) geschrieben hatte. Seit fünfzehn Jahren hat er mit bewun- dernswertem Fleiß alle Nachrichten gesammelt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/392>, abgerufen am 03.07.2024.