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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die Verlängerung der Legislaturperiode des Reichstages

Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden". Der prinzipiengemäße Widerspruch blieb denn auch erfolglos.

Das letzte große Werk dieses verlängerten Reichstages war die Annahme
der Versailler Verträge über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund.
Damit waren Neuwahlen im ganzen nunmehrigen Reiche von selbst geboten.
Sie erfolgten nach Beendigung des Krieges am 3. März 1871.

Dagegen hatte die Regierung bei dem günstigen Verlaufe des Krieges
keine Bedenken getragen, die Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause
noch während der Kriegsdauer zur gewöhnlichen Zeit, Mitte November 1870,
vornehmen zu lassen.

Auch sonst hat man durch Verfassungsgesetze für den einzelnen Fall in den
gewöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen.

Eine verfassungsmäßige Vertagung oder Schließung des Reichstages unter¬
bricht wie die Wirksamkeit des Reichstages überhaupt, so auch die seiner Aus¬
schüsse (Kommisstonen). Nun schien es aber mehrfach wünschenswert, davon
abzusehen und für größere Gesetzgebungszwecke den betreffenden Ausschuß weiter
tagen zu lassen, während der Reichstag vertagt oder geschlossen wurde.
Mindestens im Falle der Schließung erschien dies verfassungswidrig, während
es im Falle der Vertagung bestritten ist.

Durch Ausnahmegesetz vom 23. Dezember 1874 wurde daher bestimmt,
daß die vom Reichstage zur Vorberatung der Entwürfe eines Gerichtsverfassungs¬
gesetzes, einer Strafprozeßordnung und einer Zivilprozeßordnung eingesetzte
Kommission ihre Verhandlungen nach dem Schlüsse der Reichstagssession bis
zum Beginn der nächsten ordentlichen Session fortsetzen dürfe, und daß die
weitere Beratung vom Reichstage auch nach seiner Schließung in einer folgenden
Sitzungsperiode der Legislaturperiode erfolgen könne.

Ein weiteres Gesetz vom 20. Juni 1902 betreffend die geschäftliche Be¬
handlung des Entwurfes eines Zolltarifgesetzes gewährte den Mitgliedern der
betreffenden Kommisston für die Teilnahme an den Sitzungen während der
Unterbrechung der Plenarverhandlungen des Reichstages je 2000 Mark be¬
sondere Tagegelder. Ebenso erhielten Iraft Sondergesetzes vom 2. Juni 1910
die Mitglieder der Kommisston für die Gesetzentwürfe betreffend Änderungen
des Gerichtsverfafsungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wie der Reichs¬
versicherungsordnung für die Dauer der Unterbrechung der Plenarverhandlungen
des Reichstages je 30 Mark Anwesenheitsgelder täglich. In beiden Fällen er¬
schien es nicht erforderlich, die Kommissionen ausdrücklich zur Fortarbeit zu
ermächtigen, da der Reichstag nicht geschlossen, sondern nur vertagt war.

An Vorgängen der verschiedensten Art, daß man durch Ausnahmegesetze,
die sämtlich eine Verfassungsänderung für den einzelnen Fall bedeuten, in den ge¬
wöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen hätte, fehlt es also nicht.

Da weder die Bevölkerung im allgemeinen noch die Parteien ein Interesse
daran haben, während des Krieges in eine Wahlbewegung einzutreten, dürfte


Die Verlängerung der Legislaturperiode des Reichstages

Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden". Der prinzipiengemäße Widerspruch blieb denn auch erfolglos.

Das letzte große Werk dieses verlängerten Reichstages war die Annahme
der Versailler Verträge über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund.
Damit waren Neuwahlen im ganzen nunmehrigen Reiche von selbst geboten.
Sie erfolgten nach Beendigung des Krieges am 3. März 1871.

Dagegen hatte die Regierung bei dem günstigen Verlaufe des Krieges
keine Bedenken getragen, die Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause
noch während der Kriegsdauer zur gewöhnlichen Zeit, Mitte November 1870,
vornehmen zu lassen.

Auch sonst hat man durch Verfassungsgesetze für den einzelnen Fall in den
gewöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen.

Eine verfassungsmäßige Vertagung oder Schließung des Reichstages unter¬
bricht wie die Wirksamkeit des Reichstages überhaupt, so auch die seiner Aus¬
schüsse (Kommisstonen). Nun schien es aber mehrfach wünschenswert, davon
abzusehen und für größere Gesetzgebungszwecke den betreffenden Ausschuß weiter
tagen zu lassen, während der Reichstag vertagt oder geschlossen wurde.
Mindestens im Falle der Schließung erschien dies verfassungswidrig, während
es im Falle der Vertagung bestritten ist.

Durch Ausnahmegesetz vom 23. Dezember 1874 wurde daher bestimmt,
daß die vom Reichstage zur Vorberatung der Entwürfe eines Gerichtsverfassungs¬
gesetzes, einer Strafprozeßordnung und einer Zivilprozeßordnung eingesetzte
Kommission ihre Verhandlungen nach dem Schlüsse der Reichstagssession bis
zum Beginn der nächsten ordentlichen Session fortsetzen dürfe, und daß die
weitere Beratung vom Reichstage auch nach seiner Schließung in einer folgenden
Sitzungsperiode der Legislaturperiode erfolgen könne.

Ein weiteres Gesetz vom 20. Juni 1902 betreffend die geschäftliche Be¬
handlung des Entwurfes eines Zolltarifgesetzes gewährte den Mitgliedern der
betreffenden Kommisston für die Teilnahme an den Sitzungen während der
Unterbrechung der Plenarverhandlungen des Reichstages je 2000 Mark be¬
sondere Tagegelder. Ebenso erhielten Iraft Sondergesetzes vom 2. Juni 1910
die Mitglieder der Kommisston für die Gesetzentwürfe betreffend Änderungen
des Gerichtsverfafsungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wie der Reichs¬
versicherungsordnung für die Dauer der Unterbrechung der Plenarverhandlungen
des Reichstages je 30 Mark Anwesenheitsgelder täglich. In beiden Fällen er¬
schien es nicht erforderlich, die Kommissionen ausdrücklich zur Fortarbeit zu
ermächtigen, da der Reichstag nicht geschlossen, sondern nur vertagt war.

An Vorgängen der verschiedensten Art, daß man durch Ausnahmegesetze,
die sämtlich eine Verfassungsänderung für den einzelnen Fall bedeuten, in den ge¬
wöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen hätte, fehlt es also nicht.

Da weder die Bevölkerung im allgemeinen noch die Parteien ein Interesse
daran haben, während des Krieges in eine Wahlbewegung einzutreten, dürfte


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[0034] Die Verlängerung der Legislaturperiode des Reichstages Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden". Der prinzipiengemäße Widerspruch blieb denn auch erfolglos. Das letzte große Werk dieses verlängerten Reichstages war die Annahme der Versailler Verträge über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund. Damit waren Neuwahlen im ganzen nunmehrigen Reiche von selbst geboten. Sie erfolgten nach Beendigung des Krieges am 3. März 1871. Dagegen hatte die Regierung bei dem günstigen Verlaufe des Krieges keine Bedenken getragen, die Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause noch während der Kriegsdauer zur gewöhnlichen Zeit, Mitte November 1870, vornehmen zu lassen. Auch sonst hat man durch Verfassungsgesetze für den einzelnen Fall in den gewöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen. Eine verfassungsmäßige Vertagung oder Schließung des Reichstages unter¬ bricht wie die Wirksamkeit des Reichstages überhaupt, so auch die seiner Aus¬ schüsse (Kommisstonen). Nun schien es aber mehrfach wünschenswert, davon abzusehen und für größere Gesetzgebungszwecke den betreffenden Ausschuß weiter tagen zu lassen, während der Reichstag vertagt oder geschlossen wurde. Mindestens im Falle der Schließung erschien dies verfassungswidrig, während es im Falle der Vertagung bestritten ist. Durch Ausnahmegesetz vom 23. Dezember 1874 wurde daher bestimmt, daß die vom Reichstage zur Vorberatung der Entwürfe eines Gerichtsverfassungs¬ gesetzes, einer Strafprozeßordnung und einer Zivilprozeßordnung eingesetzte Kommission ihre Verhandlungen nach dem Schlüsse der Reichstagssession bis zum Beginn der nächsten ordentlichen Session fortsetzen dürfe, und daß die weitere Beratung vom Reichstage auch nach seiner Schließung in einer folgenden Sitzungsperiode der Legislaturperiode erfolgen könne. Ein weiteres Gesetz vom 20. Juni 1902 betreffend die geschäftliche Be¬ handlung des Entwurfes eines Zolltarifgesetzes gewährte den Mitgliedern der betreffenden Kommisston für die Teilnahme an den Sitzungen während der Unterbrechung der Plenarverhandlungen des Reichstages je 2000 Mark be¬ sondere Tagegelder. Ebenso erhielten Iraft Sondergesetzes vom 2. Juni 1910 die Mitglieder der Kommisston für die Gesetzentwürfe betreffend Änderungen des Gerichtsverfafsungsgesetzes und der Strafprozeßordnung wie der Reichs¬ versicherungsordnung für die Dauer der Unterbrechung der Plenarverhandlungen des Reichstages je 30 Mark Anwesenheitsgelder täglich. In beiden Fällen er¬ schien es nicht erforderlich, die Kommissionen ausdrücklich zur Fortarbeit zu ermächtigen, da der Reichstag nicht geschlossen, sondern nur vertagt war. An Vorgängen der verschiedensten Art, daß man durch Ausnahmegesetze, die sämtlich eine Verfassungsänderung für den einzelnen Fall bedeuten, in den ge¬ wöhnlichen Betrieb der Reichstagsgeschäfte eingegriffen hätte, fehlt es also nicht. Da weder die Bevölkerung im allgemeinen noch die Parteien ein Interesse daran haben, während des Krieges in eine Wahlbewegung einzutreten, dürfte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/34>, abgerufen am 26.06.2024.