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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

schule, wodurch dieser dann ein- für allemal als zur misera pied8 auch in geistiger
Beziehung gehörig gebrandmarkt wird, oder in die höhere Schule. Die erste
Eventualität wird ziemlich sicher nicht eintreffen; einseitige Begabungen (wie z. B.
für die Dichtkunst, wofür Gerhart Hauptmanns Abgang aus Quarta ein klassisches
Beispiel ist) treten oft erst später auf, unsere allgemeinen psychologischen Kenntnisse
vom Kindesalter aber, so respektabel sie auch erscheinen mögen, sind doch noch
minimal und sicher nicht ausreichend für zweifellose Feststellungen. Dem Volksschul¬
lehrer aber diese Verantwortung aufbürden, hieße von ihm Unmögliches verlangen.

Die Begabung einzig und allein soll zu ihrem Recht kommen: dann dürfen
die Schüler natürlich nicht mehr so milde wie heutzutage geprüft werden.
Schon heute aber rufen die Reformer dreimal wehe über die höhere Schule,
die gegen das Staatsinteresse handelt, wenn sie die Schwächeren unterdrückt.
Dafür gibt es dann allerdings in der Einheitsschule die Gabelungen, die die
Einseitigkeit zum Prinzip erheben werden. Wie aber diejenigen, die bei stren¬
gerer Handhabung ihren Weg nicht machen können, zu einer abgeschlossenen
Bildung gelangen sollen, wird nicht gesagt.

Schon jetzt aber beginnt sich die Einsicht sogar in sozialdemokratischen
Kreisen zu regen, daß die so entstehende, von Begabungen völlig freie Volks¬
schule den Interessen der Arbeiterklasse durchaus nicht entspricht. Die geistigen
Führer, die Bahnbrecher, würden ja der Arbeiterklasse völlig mangeln, wenn
die Volksschule in der Weise, wie es die Einheitsschulschwärmer wünschen,
"ausgepowert" würde; alle diejenigen, die. wie die Höherbegabten nun an das
Staatsinteresse durch die Gewährung des freien Schulbesuches, der Stipendien usw.
gebunden würden, werden sich natürlich hüten, ihre Laufbahn durch Hinneigung
zur arbeitenden Klasse zu kompromittieren. So hat denn auch neulich die
"Bremer Bürgerzeitung" sich offen gegen die Einheitsschule erklärt.

Und damit komme ich auf die sozial-ethische Forderung zurück, die uns
im Anfang beschäftigte: untere und obere Stände sollen wieder Fühlung
gewinnen. Und das will die Einheitsschule erreichen, wenn sie nach abge-
geschlossenem Unterbau die Unbegabten durch eine viel tiefere Kluft als sie
heute besteht, von den Begabten trennt! Denn es ist klar, daß die auf der
Volksschule Verbleibenden nun auch in keiner Weise das Interesse der höheren
Stände wecken können: ist doch unter ihnen nach amtlicher Bescheinigung auch
nicht ein einziger mehr, der fähig wäre, etwas aus sich zu machen!

Es ist begreiflich, daß bei diesem Stande der Dinge der philosophisch
geschulte Pädagoge tiefer zu schürfen versucht und die Ursachen des eigentüm¬
lichen Irrtums der Einheitsschulschwärmer aufdecken will. So hat denn der
hervorragende Pädagoge der Berliner Universität, Ferdinand Jakob Schmidt
vor einiger Zeit einen vielbeachteten Vortrag*) in der Comenius-Gesellschaft



*) Auch gedruckt als Broschüre in den Vorträgen und Aufsätzen aus der Comenius-
Gesellschaft. XXV. Jahrgang. 1 Stück. "Das Problem der nationalen Einheitsschule."
Verlag von E. Diederichs. Jena. 1916.
Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

schule, wodurch dieser dann ein- für allemal als zur misera pied8 auch in geistiger
Beziehung gehörig gebrandmarkt wird, oder in die höhere Schule. Die erste
Eventualität wird ziemlich sicher nicht eintreffen; einseitige Begabungen (wie z. B.
für die Dichtkunst, wofür Gerhart Hauptmanns Abgang aus Quarta ein klassisches
Beispiel ist) treten oft erst später auf, unsere allgemeinen psychologischen Kenntnisse
vom Kindesalter aber, so respektabel sie auch erscheinen mögen, sind doch noch
minimal und sicher nicht ausreichend für zweifellose Feststellungen. Dem Volksschul¬
lehrer aber diese Verantwortung aufbürden, hieße von ihm Unmögliches verlangen.

Die Begabung einzig und allein soll zu ihrem Recht kommen: dann dürfen
die Schüler natürlich nicht mehr so milde wie heutzutage geprüft werden.
Schon heute aber rufen die Reformer dreimal wehe über die höhere Schule,
die gegen das Staatsinteresse handelt, wenn sie die Schwächeren unterdrückt.
Dafür gibt es dann allerdings in der Einheitsschule die Gabelungen, die die
Einseitigkeit zum Prinzip erheben werden. Wie aber diejenigen, die bei stren¬
gerer Handhabung ihren Weg nicht machen können, zu einer abgeschlossenen
Bildung gelangen sollen, wird nicht gesagt.

Schon jetzt aber beginnt sich die Einsicht sogar in sozialdemokratischen
Kreisen zu regen, daß die so entstehende, von Begabungen völlig freie Volks¬
schule den Interessen der Arbeiterklasse durchaus nicht entspricht. Die geistigen
Führer, die Bahnbrecher, würden ja der Arbeiterklasse völlig mangeln, wenn
die Volksschule in der Weise, wie es die Einheitsschulschwärmer wünschen,
„ausgepowert" würde; alle diejenigen, die. wie die Höherbegabten nun an das
Staatsinteresse durch die Gewährung des freien Schulbesuches, der Stipendien usw.
gebunden würden, werden sich natürlich hüten, ihre Laufbahn durch Hinneigung
zur arbeitenden Klasse zu kompromittieren. So hat denn auch neulich die
„Bremer Bürgerzeitung" sich offen gegen die Einheitsschule erklärt.

Und damit komme ich auf die sozial-ethische Forderung zurück, die uns
im Anfang beschäftigte: untere und obere Stände sollen wieder Fühlung
gewinnen. Und das will die Einheitsschule erreichen, wenn sie nach abge-
geschlossenem Unterbau die Unbegabten durch eine viel tiefere Kluft als sie
heute besteht, von den Begabten trennt! Denn es ist klar, daß die auf der
Volksschule Verbleibenden nun auch in keiner Weise das Interesse der höheren
Stände wecken können: ist doch unter ihnen nach amtlicher Bescheinigung auch
nicht ein einziger mehr, der fähig wäre, etwas aus sich zu machen!

Es ist begreiflich, daß bei diesem Stande der Dinge der philosophisch
geschulte Pädagoge tiefer zu schürfen versucht und die Ursachen des eigentüm¬
lichen Irrtums der Einheitsschulschwärmer aufdecken will. So hat denn der
hervorragende Pädagoge der Berliner Universität, Ferdinand Jakob Schmidt
vor einiger Zeit einen vielbeachteten Vortrag*) in der Comenius-Gesellschaft



*) Auch gedruckt als Broschüre in den Vorträgen und Aufsätzen aus der Comenius-
Gesellschaft. XXV. Jahrgang. 1 Stück. „Das Problem der nationalen Einheitsschule."
Verlag von E. Diederichs. Jena. 1916.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/328>, abgerufen am 23.07.2024.