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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

sondern zusammenhalten werden, dann aber auch, daß die Differenzierung nach
der Begabung zu einer Zeit eintreten wird, wo diese überhaupt erst erkannt
werden kann. Denn etwa im zwölften Jahre würde dann nach dem gemeinsamen
Unterricht in der Volksschule die große Spaltung eintreten: die Begabten
würden in die höheren Schulen übertreten, die Unbegabten dagegen in der
Volksschule bleiben. Sie versprechen sich außerdem davon mit Notwendigkeit
eine Hebung der Volksschule, da ja nun auch die Begüterten, deren Söhne in
der Volksschule zurückbleiben, sich für sie interessieren werden: so wird also der
Makel, der bis heute noch an der Volksschule hängt, daß sie nämlich eine
Armenschule ist, schwinden.

Es liegt nun auf der Hand, daß die ethische Wirkung der Gemeinschafts¬
erziehung sich durchaus nicht auf der gewünschten Linie bewegen muß, daß
vielmehr bei diesem System auch eine Erweiterung der Kluft zwischen dem
schlecht genährten und gehaltenen Arbeiterkinde und dem verwöhnten Sproß
des reichen Hauses -- der Neid ist bekanntlich eine mächtige Triebfeder! --
die Folge sein könnte. Aber mehr: der Zwang zur gemeinschaftlichen Volks¬
schulerziehung setzt das gesetzliche Verbot der Privatschulen voraus .- diese Ar
des Liberalismus hat etwas durchaus Illiberales an sich/) Mit den Privat-t
Schulen müssen natürlich auch die Vorschulen fallen, d. h. die freie Konkurrenz
muß überhaupt ausgeschaltet werden, womit dann das liberale Prinzip, für
das die Verfechter der Einheitsschule einzutreten glauben, stark durchlöchert wird.

Indessen: auch Owen**) hat den individuellen Liberalismus durchbrochen.
Zu Recht besteht der Satz, daß die Selbstbestimmung des einzelnen vor dem
Schaden, den die Gesamtheit erleiden würde, haltmachen muß. Wenn dieser
Einwand hier zutrifft, so muß zweierlei erweislich sein: der Schaden muß ein
so großer sein, daß er unzweifelhaft für den Gesamtorganismus verhängnisvolle
Folgen hat, und das Heilmittel muß keinerlei Bedenken in bezug auf seine
Durchführbarkeit unterliegen.

Die Vorschulen, sagt man. sind Standesschulen: nach einer privaten
Statistik vom Jahre 1911 lieferte der Mittelstand in Preußen in die Vorschulen
65, die oberen Stände ebenso wie die unteren etwas über 17 °/g Schüler.***)

^ Auch das trifft nicht zu, daß etwa der Zutritt zu den höheren Schulen
den minderbemittelten Klassen nicht offen stehe. Dies ist im Gegenteil nach
den Erklärungen des Ministers in den Verhandlungen des Staatshaushalts¬
ausschusses in weitestgehenden Maß der Fall. Nach einer Ermittlung, die er





*) In Barmer, wo 1895 die allgemeine Volksschule als Vorschule eingeführt wurde,
schössen die Privatschulen wie die Pilze hervor. -- Die Verfechter der Einheitsschule in Ham¬
burg fordern, daß nur die Volksschule berechtigt sein soll, Zeugnisse für den Besuch der
höheren Schulen auszustellen.
**) Der Begründer des sozialen Liberalismus, der den Anstoß zur Fabrikarbeitergesetz¬
gebung in England gab.
*^*) Duisburg hatte 25°/" Vorschüler, deren Eltern noch nicht 3000 M. Einkommen
besaßen, 22°/" von solchen, die über 6000 M. bezogen.
Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

sondern zusammenhalten werden, dann aber auch, daß die Differenzierung nach
der Begabung zu einer Zeit eintreten wird, wo diese überhaupt erst erkannt
werden kann. Denn etwa im zwölften Jahre würde dann nach dem gemeinsamen
Unterricht in der Volksschule die große Spaltung eintreten: die Begabten
würden in die höheren Schulen übertreten, die Unbegabten dagegen in der
Volksschule bleiben. Sie versprechen sich außerdem davon mit Notwendigkeit
eine Hebung der Volksschule, da ja nun auch die Begüterten, deren Söhne in
der Volksschule zurückbleiben, sich für sie interessieren werden: so wird also der
Makel, der bis heute noch an der Volksschule hängt, daß sie nämlich eine
Armenschule ist, schwinden.

Es liegt nun auf der Hand, daß die ethische Wirkung der Gemeinschafts¬
erziehung sich durchaus nicht auf der gewünschten Linie bewegen muß, daß
vielmehr bei diesem System auch eine Erweiterung der Kluft zwischen dem
schlecht genährten und gehaltenen Arbeiterkinde und dem verwöhnten Sproß
des reichen Hauses — der Neid ist bekanntlich eine mächtige Triebfeder! —
die Folge sein könnte. Aber mehr: der Zwang zur gemeinschaftlichen Volks¬
schulerziehung setzt das gesetzliche Verbot der Privatschulen voraus .- diese Ar
des Liberalismus hat etwas durchaus Illiberales an sich/) Mit den Privat-t
Schulen müssen natürlich auch die Vorschulen fallen, d. h. die freie Konkurrenz
muß überhaupt ausgeschaltet werden, womit dann das liberale Prinzip, für
das die Verfechter der Einheitsschule einzutreten glauben, stark durchlöchert wird.

Indessen: auch Owen**) hat den individuellen Liberalismus durchbrochen.
Zu Recht besteht der Satz, daß die Selbstbestimmung des einzelnen vor dem
Schaden, den die Gesamtheit erleiden würde, haltmachen muß. Wenn dieser
Einwand hier zutrifft, so muß zweierlei erweislich sein: der Schaden muß ein
so großer sein, daß er unzweifelhaft für den Gesamtorganismus verhängnisvolle
Folgen hat, und das Heilmittel muß keinerlei Bedenken in bezug auf seine
Durchführbarkeit unterliegen.

Die Vorschulen, sagt man. sind Standesschulen: nach einer privaten
Statistik vom Jahre 1911 lieferte der Mittelstand in Preußen in die Vorschulen
65, die oberen Stände ebenso wie die unteren etwas über 17 °/g Schüler.***)

^ Auch das trifft nicht zu, daß etwa der Zutritt zu den höheren Schulen
den minderbemittelten Klassen nicht offen stehe. Dies ist im Gegenteil nach
den Erklärungen des Ministers in den Verhandlungen des Staatshaushalts¬
ausschusses in weitestgehenden Maß der Fall. Nach einer Ermittlung, die er





*) In Barmer, wo 1895 die allgemeine Volksschule als Vorschule eingeführt wurde,
schössen die Privatschulen wie die Pilze hervor. — Die Verfechter der Einheitsschule in Ham¬
burg fordern, daß nur die Volksschule berechtigt sein soll, Zeugnisse für den Besuch der
höheren Schulen auszustellen.
**) Der Begründer des sozialen Liberalismus, der den Anstoß zur Fabrikarbeitergesetz¬
gebung in England gab.
*^*) Duisburg hatte 25°/» Vorschüler, deren Eltern noch nicht 3000 M. Einkommen
besaßen, 22°/„ von solchen, die über 6000 M. bezogen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/324>, abgerufen am 23.07.2024.