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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Nordische Volksmärchen

Da hören wir etwa von den merkwürdigen Scharssinnsproben Hamlets am
englischen Königshofe: der Dänenprinz will bei dem fremden Herrscher nicht
essen noch trinken, denn das Brot schmeckt nach Blut, der Speck nach Leichen,
das Getränk nach rostigem Eisen usw. Tatsächlich stellt sich nachher heraus,
daß das Brotkorn auf einem Schlachtfeld gewachsen ist, die Schweine die Leiche
eines Räubers gefressen haben, der Brunnen aber von alten Eisenschwerteru
voll ist. Ähnliches wird heute noch auf Jütland von drei "klugen Studenten"
erzählt (Stroebe, Band I, Seite 168 ff.), während die Geschichte von den
Scharfsinnsprobm sonst bei den germanischen Völkern außerordentlich wenig
bekannt ist. Im Morgenlande dagegen und auch im Osten Europas gehört
sie zu den beliebtesten Märchenstoffen*), muß also von dort aus sehr früh
nach Skandinavien gedrungen sein und sich dann in einem ziemlich mageren
Gerinnsel der Überlieferung erhalten haben. Ebenfalls in die Gegenwart hin¬
ein reicht eine Erzählung der "Prosa-Edda" vom König Frodhi. Der zwang
zwei Riesenmädchen zu Magddiensten, und sie mußten auf seiner Mühle ohne
Unterlaß, Tag und Nacht, Glück und Reichtum mahlen und durften nur so
lange ruhen, als der Gesang eines Liedes dauert. Sie rächten sich aber und
mahlten dem König Unfrieden und Verderben. Das erinnert an das welt¬
bekannte Märchen von der "Mühle auf dem Meeresgrund", das unsere
Sammlung (Band I, Seite 117 ff.) in einer jütischen Fassung mitteilt: Ein
reicher Mann wünscht seinen armen Bruder in die Hölle. Der geht auch wirklich
zum Teufel und erhält von ihm die Mühle, die alles mahlt, Reichtümer und
ein herrliches Schloß. Der Reiche kauft sie ihm ab, läßt sie Brei mahlen,
kann sie aber nicht aufhalten, und muß froh sein, als der Arme ihn aus der
Bretmasse erlöst und die Mühle wieder an sich nimmt. Wem fiele nicht
Goethes Gedicht vom Zauberlehrling ein, dessen Stoff uns zuerst bei dem
Griechen Lukian überliefert istl Aber unser Märchen geht weiter: die Mühle
kommt in den Besitz eines Schiffers, der sie auch nicht zum Stehen bringen
kann und nun mahlt sie Salz, bis er mit allem, was er hat, untergeht -- und
seitdem ist das Meer salzig. Das Märchen hat hier, wie so häufig, eine
"ätiologische Schlußwendung" bekommen.

Wissenschaftlich ist das Märchen in Skandinavien frühzeitig beachtet worden.
In Dänemark haben Grnndtvig und Kristensen (letzterer besonders in Jütland)
nach dem Vorbild der Brüder Grimm wortgetreue Aufzeichnungen gemacht,
während in Schweden, wo zunächst pietistische Richtungen der Freude am alten
Volkstum in den Weg traten, HMn-Cavallinus mit einem englischen Freunde
Stephen in den vierziger Jahren eine Sammlung zustande brachte, die freilich
nur zu sehr die romantischen Neigungen der Verfasser verrät, Dagegen hat
Norwegen in dem unvergeßlichen P. C. Asbjörnsen und in Jörgen Moe pictae-



*) Die reichsten Nachweise gibt Johannes Bolle in seiner Ausgabe der "Reise der
Söhne Giaffers" im 208. Bande der Bibliothek des Literarischen Vereins zu Stuttgart
(1896, S 198 ff.).
Nordische Volksmärchen

Da hören wir etwa von den merkwürdigen Scharssinnsproben Hamlets am
englischen Königshofe: der Dänenprinz will bei dem fremden Herrscher nicht
essen noch trinken, denn das Brot schmeckt nach Blut, der Speck nach Leichen,
das Getränk nach rostigem Eisen usw. Tatsächlich stellt sich nachher heraus,
daß das Brotkorn auf einem Schlachtfeld gewachsen ist, die Schweine die Leiche
eines Räubers gefressen haben, der Brunnen aber von alten Eisenschwerteru
voll ist. Ähnliches wird heute noch auf Jütland von drei „klugen Studenten"
erzählt (Stroebe, Band I, Seite 168 ff.), während die Geschichte von den
Scharfsinnsprobm sonst bei den germanischen Völkern außerordentlich wenig
bekannt ist. Im Morgenlande dagegen und auch im Osten Europas gehört
sie zu den beliebtesten Märchenstoffen*), muß also von dort aus sehr früh
nach Skandinavien gedrungen sein und sich dann in einem ziemlich mageren
Gerinnsel der Überlieferung erhalten haben. Ebenfalls in die Gegenwart hin¬
ein reicht eine Erzählung der „Prosa-Edda" vom König Frodhi. Der zwang
zwei Riesenmädchen zu Magddiensten, und sie mußten auf seiner Mühle ohne
Unterlaß, Tag und Nacht, Glück und Reichtum mahlen und durften nur so
lange ruhen, als der Gesang eines Liedes dauert. Sie rächten sich aber und
mahlten dem König Unfrieden und Verderben. Das erinnert an das welt¬
bekannte Märchen von der „Mühle auf dem Meeresgrund", das unsere
Sammlung (Band I, Seite 117 ff.) in einer jütischen Fassung mitteilt: Ein
reicher Mann wünscht seinen armen Bruder in die Hölle. Der geht auch wirklich
zum Teufel und erhält von ihm die Mühle, die alles mahlt, Reichtümer und
ein herrliches Schloß. Der Reiche kauft sie ihm ab, läßt sie Brei mahlen,
kann sie aber nicht aufhalten, und muß froh sein, als der Arme ihn aus der
Bretmasse erlöst und die Mühle wieder an sich nimmt. Wem fiele nicht
Goethes Gedicht vom Zauberlehrling ein, dessen Stoff uns zuerst bei dem
Griechen Lukian überliefert istl Aber unser Märchen geht weiter: die Mühle
kommt in den Besitz eines Schiffers, der sie auch nicht zum Stehen bringen
kann und nun mahlt sie Salz, bis er mit allem, was er hat, untergeht — und
seitdem ist das Meer salzig. Das Märchen hat hier, wie so häufig, eine
„ätiologische Schlußwendung" bekommen.

Wissenschaftlich ist das Märchen in Skandinavien frühzeitig beachtet worden.
In Dänemark haben Grnndtvig und Kristensen (letzterer besonders in Jütland)
nach dem Vorbild der Brüder Grimm wortgetreue Aufzeichnungen gemacht,
während in Schweden, wo zunächst pietistische Richtungen der Freude am alten
Volkstum in den Weg traten, HMn-Cavallinus mit einem englischen Freunde
Stephen in den vierziger Jahren eine Sammlung zustande brachte, die freilich
nur zu sehr die romantischen Neigungen der Verfasser verrät, Dagegen hat
Norwegen in dem unvergeßlichen P. C. Asbjörnsen und in Jörgen Moe pictae-



*) Die reichsten Nachweise gibt Johannes Bolle in seiner Ausgabe der „Reise der
Söhne Giaffers" im 208. Bande der Bibliothek des Literarischen Vereins zu Stuttgart
(1896, S 198 ff.).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/40>, abgerufen am 27.07.2024.