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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Stimmen der Vergangenheit

kammer bezeichnet, da sie bei ihrer ungewöhnlichen Form und ihrem etwas
späten Erscheinen (im Jahre 1814) in den Befreiungskriegen nicht mehr zur
lebendigen Wirkung kamen. Völlig über der Zeit steht manches innige und
träumerische Verslein, das dem starkknochigen Haupt entsprungen ist und keins
vielleicht ist für Rückert menschlich so bezeichnend wie der

Friede der Welt.
Lebe von der Welt geschieden,
Und du lebst mit ihr in Frieden.
Willst du dich mit ihr befassen,
Höre, was dir widerfährt!
Du mußt lieben oder hassen;
Keines ist der Mühe wert.

Neben diesem alten Sänger aus unserer Väter Zeit treten uns zwei
Dichter entgegen, die uns noch völlig Gegenwart bedeuten: Storm und Fontane,

Der Verlag von Georg Westermann in Braunschweig und Berlin bietet
den ganzen Storm in fünf hübschen Bänden zum geringen Preise von 15 Mark.
Als Storm selbst zum erstenmal seine "gesammelten Werke" in die Welt
schickte, nannte er sie "Zeugnisse seines Lebens" und gab ihnen den Wunsch
auf den Weg, "daß sie den Platz, welchen sie für sich in Anspruch nehmen,
solange behaupten mögen, bis das, was sie etwa Eigentümliches von Bedeutung
enthalten, von Nachkommenden übertroffen oder in das Allgemeinleben der
Nation aufgegangen sein wird." Wir können heute sagen, daß vorläufig weder
das eine noch das andere geschehen ist: Storm ist in der Stimmungsnovelle
nicht oft übertroffen worden, auch fordert sein Werk noch selbständiges Existenz¬
recht. Mehr denn je bedeutet er uns heute einen Spender: die zarte Ver¬
träumtheit seiner Kunst wirkt Ruhe und Lösung, seine schöne, sanft gleitende
Sprache fördert und bereichert jeden, dem die atemlose Hast des modernen Aus¬
drucks den Gehalt des Wortes nicht ausschöpfen läßt.

Zu einer besonderen Freude wird uns auch die vom Verlage S. Fischer
in Berlin dargebotene schön ausgestattete Auswahl der Werke von Theodor
Fontane in fünf Bänden. (In Leinen geb. 20 Mark.). Der erste Band enthält
außer einer großen Anzahl von Gedichten märkische Novellistik, der zweite die
Eheromane, der dritte die Erzählungen aus dem Berliner Kleinleben, der vierte
die Adelsgeschichten, der fünfte den Stechlin. Wem die Irrungen und Wirrungen
der Gegenwart Kopf und Herz benehmen, wird bei Fontane den Schutz und
den Trost einer alten Freundschaft finden. "Er suchte sich in der bestehenden
Welt, so gut es geht, einzurichten. Er hielt sich im freien Gleichgewicht einer
Lage, die zwischen Weltfröhlichkeit und Weltverzicht schwebt..." sagt Paul
Schlenther in seinem prächtigen, von herzlicher Zuneigung durchsonnten Vorwort
zu der neuen Ausgabe, und kennzeichnet damit die Stimmung, die uns so ganz
gar abhanden gekommen ist und nach der wir sehnend ausschauen. Man greife
nach welchem Fontane-Band man mag, stets tritt uns der ganze Mensch ent-


Stimmen der Vergangenheit

kammer bezeichnet, da sie bei ihrer ungewöhnlichen Form und ihrem etwas
späten Erscheinen (im Jahre 1814) in den Befreiungskriegen nicht mehr zur
lebendigen Wirkung kamen. Völlig über der Zeit steht manches innige und
träumerische Verslein, das dem starkknochigen Haupt entsprungen ist und keins
vielleicht ist für Rückert menschlich so bezeichnend wie der

Friede der Welt.
Lebe von der Welt geschieden,
Und du lebst mit ihr in Frieden.
Willst du dich mit ihr befassen,
Höre, was dir widerfährt!
Du mußt lieben oder hassen;
Keines ist der Mühe wert.

Neben diesem alten Sänger aus unserer Väter Zeit treten uns zwei
Dichter entgegen, die uns noch völlig Gegenwart bedeuten: Storm und Fontane,

Der Verlag von Georg Westermann in Braunschweig und Berlin bietet
den ganzen Storm in fünf hübschen Bänden zum geringen Preise von 15 Mark.
Als Storm selbst zum erstenmal seine „gesammelten Werke" in die Welt
schickte, nannte er sie „Zeugnisse seines Lebens" und gab ihnen den Wunsch
auf den Weg, „daß sie den Platz, welchen sie für sich in Anspruch nehmen,
solange behaupten mögen, bis das, was sie etwa Eigentümliches von Bedeutung
enthalten, von Nachkommenden übertroffen oder in das Allgemeinleben der
Nation aufgegangen sein wird." Wir können heute sagen, daß vorläufig weder
das eine noch das andere geschehen ist: Storm ist in der Stimmungsnovelle
nicht oft übertroffen worden, auch fordert sein Werk noch selbständiges Existenz¬
recht. Mehr denn je bedeutet er uns heute einen Spender: die zarte Ver¬
träumtheit seiner Kunst wirkt Ruhe und Lösung, seine schöne, sanft gleitende
Sprache fördert und bereichert jeden, dem die atemlose Hast des modernen Aus¬
drucks den Gehalt des Wortes nicht ausschöpfen läßt.

Zu einer besonderen Freude wird uns auch die vom Verlage S. Fischer
in Berlin dargebotene schön ausgestattete Auswahl der Werke von Theodor
Fontane in fünf Bänden. (In Leinen geb. 20 Mark.). Der erste Band enthält
außer einer großen Anzahl von Gedichten märkische Novellistik, der zweite die
Eheromane, der dritte die Erzählungen aus dem Berliner Kleinleben, der vierte
die Adelsgeschichten, der fünfte den Stechlin. Wem die Irrungen und Wirrungen
der Gegenwart Kopf und Herz benehmen, wird bei Fontane den Schutz und
den Trost einer alten Freundschaft finden. „Er suchte sich in der bestehenden
Welt, so gut es geht, einzurichten. Er hielt sich im freien Gleichgewicht einer
Lage, die zwischen Weltfröhlichkeit und Weltverzicht schwebt..." sagt Paul
Schlenther in seinem prächtigen, von herzlicher Zuneigung durchsonnten Vorwort
zu der neuen Ausgabe, und kennzeichnet damit die Stimmung, die uns so ganz
gar abhanden gekommen ist und nach der wir sehnend ausschauen. Man greife
nach welchem Fontane-Band man mag, stets tritt uns der ganze Mensch ent-


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[0394] Stimmen der Vergangenheit kammer bezeichnet, da sie bei ihrer ungewöhnlichen Form und ihrem etwas späten Erscheinen (im Jahre 1814) in den Befreiungskriegen nicht mehr zur lebendigen Wirkung kamen. Völlig über der Zeit steht manches innige und träumerische Verslein, das dem starkknochigen Haupt entsprungen ist und keins vielleicht ist für Rückert menschlich so bezeichnend wie der Friede der Welt. Lebe von der Welt geschieden, Und du lebst mit ihr in Frieden. Willst du dich mit ihr befassen, Höre, was dir widerfährt! Du mußt lieben oder hassen; Keines ist der Mühe wert. Neben diesem alten Sänger aus unserer Väter Zeit treten uns zwei Dichter entgegen, die uns noch völlig Gegenwart bedeuten: Storm und Fontane, Der Verlag von Georg Westermann in Braunschweig und Berlin bietet den ganzen Storm in fünf hübschen Bänden zum geringen Preise von 15 Mark. Als Storm selbst zum erstenmal seine „gesammelten Werke" in die Welt schickte, nannte er sie „Zeugnisse seines Lebens" und gab ihnen den Wunsch auf den Weg, „daß sie den Platz, welchen sie für sich in Anspruch nehmen, solange behaupten mögen, bis das, was sie etwa Eigentümliches von Bedeutung enthalten, von Nachkommenden übertroffen oder in das Allgemeinleben der Nation aufgegangen sein wird." Wir können heute sagen, daß vorläufig weder das eine noch das andere geschehen ist: Storm ist in der Stimmungsnovelle nicht oft übertroffen worden, auch fordert sein Werk noch selbständiges Existenz¬ recht. Mehr denn je bedeutet er uns heute einen Spender: die zarte Ver¬ träumtheit seiner Kunst wirkt Ruhe und Lösung, seine schöne, sanft gleitende Sprache fördert und bereichert jeden, dem die atemlose Hast des modernen Aus¬ drucks den Gehalt des Wortes nicht ausschöpfen läßt. Zu einer besonderen Freude wird uns auch die vom Verlage S. Fischer in Berlin dargebotene schön ausgestattete Auswahl der Werke von Theodor Fontane in fünf Bänden. (In Leinen geb. 20 Mark.). Der erste Band enthält außer einer großen Anzahl von Gedichten märkische Novellistik, der zweite die Eheromane, der dritte die Erzählungen aus dem Berliner Kleinleben, der vierte die Adelsgeschichten, der fünfte den Stechlin. Wem die Irrungen und Wirrungen der Gegenwart Kopf und Herz benehmen, wird bei Fontane den Schutz und den Trost einer alten Freundschaft finden. „Er suchte sich in der bestehenden Welt, so gut es geht, einzurichten. Er hielt sich im freien Gleichgewicht einer Lage, die zwischen Weltfröhlichkeit und Weltverzicht schwebt..." sagt Paul Schlenther in seinem prächtigen, von herzlicher Zuneigung durchsonnten Vorwort zu der neuen Ausgabe, und kennzeichnet damit die Stimmung, die uns so ganz gar abhanden gekommen ist und nach der wir sehnend ausschauen. Man greife nach welchem Fontane-Band man mag, stets tritt uns der ganze Mensch ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/394>, abgerufen am 28.07.2024.