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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Stimmen der Vergangenheit

trotzdem einheitlich, tragen sie doch alle den Stempel vornehmer Ruhe und
Geschlossenheit bei liebevollster Versenkung in den Gegenstand der Betrachtung.
Die Auswahl ist glücklich getroffen worden: nimmt man diese beiden
Bände in die Hand, so legt man sie nicht so bald wieder fort und lebt
schließlich ganz im Geiste Grimms. Um einer Stunde beschaulichen Genusses
willen lese man etwa den Aufsatz "Goethe in Italien", der, getragen von ein¬
fühlendem Verständnis, in Goethes Worten gipfelt: "Wer Rom gesehen hat.
kann nie wieder ganz unglücklich werden". -- In Weltabgeschiedenheit und
Versonnenheit erscheinen uns die Gestalten der Brüder Jakob und Wilhelm
Grimm in der Schilderung des Verfassers, dem die Erinnerung an den Vater
und Onkel gekennzeichnet ist durch die Stille, ihrem eigentlichen Element. "Ich
weiß, wie ich als Kind in ihren Studierstuben leise umhergegangen bin. Nur
das Kratzen der Feder war zu hören, oder bei Jakob manchmal ein leises
Hüsteln. Er beugte sich beim Schreiben dicht auf das Papier, an seinen Federn
war die Fahne tief herunter abgeknappst, und er schrieb rasch und eifrig; mein
Vater ließ die Fahne der Feder bis zur Spitze unvermindert stehen und schrieb
bedächtiger. Die Züge des einen wie des anderen waren immer in leiser Be¬
wegung. Die Brauen hoben und senkten sich; zuweilen blickten sie in die leere
Luft. Manchmal standen sie auf, nahmen ein Buch heraus, schlugen es auf
und blätterten darin. Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß jemand es
wagte, diese heilige Stille zu durchbrechen." Rührend ist es, wenn Jakob und
Wilhelm sich in Göttingen weit fort von ihrer hessischen Heimat fühlen und Jakob
sich damit tröstet, daß an beiden Stellen doch dieselben Sterne am Himmel
stehen. Völlig lebendig werden uns diese Menschen durch die kleinen, feinen
Züge, die Hermann Grimm pietätvoll zu sammeln weiß.

Aber nicht nur die Blutsverwandten erstehen uns lebensvoll im Spiegel
seiner Seele. Wie hübsch ist das Gedenkblatt für Rückert, das er ihm zum
hundertjährigen Geburtstag gewidmet hat! Da sehen wir die ungelenke, hagere
Gestalt des Dichters, der vom Leben nicht mehr verlangte, als den Schatten
der Bäume, die vor seinem Hause standen. Vielleicht ist sein Schaffen nie
besser gekennzeichnet worden als durch die Worte Grimms: "Rückert schrieb
wie die alten Illuminatoren goldene Gedanken in goldene Buchstaben, umrankt
vom Herrlichsten, was die umherschweifende Phantasie zu ersinnen vermag."
In letzter Zeit ist uns durch Neuausgaben seiner Gedichte in Auswahl Ge-
legenheit gegeben worden, dem Dichter wieder näher zu kommen. Erwähnt sei
hier die Rückert-Ausgabe "Haus und Welt" von Stephan List (Verlag von
R. Piper u. Co., München, geb. 3 Mary. Vor wenigen Monaten erst waren
es fünfzig Jahre, daß man den Dichter zu Grabe trug, da sollte er seinem
Volke vertrauter sein, als er es tatsächlich ist. Er bietet ja weit mehr als die
paar Gedichte, die die Schule den Kindern zu übermitteln pflegt, wie z. B. "Vom
Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt", nicht nur die "Geharnischten
Sonette", die Stephan List als kostbare Prunkwaffe in der literarischen Ruhe-


Stimmen der Vergangenheit

trotzdem einheitlich, tragen sie doch alle den Stempel vornehmer Ruhe und
Geschlossenheit bei liebevollster Versenkung in den Gegenstand der Betrachtung.
Die Auswahl ist glücklich getroffen worden: nimmt man diese beiden
Bände in die Hand, so legt man sie nicht so bald wieder fort und lebt
schließlich ganz im Geiste Grimms. Um einer Stunde beschaulichen Genusses
willen lese man etwa den Aufsatz „Goethe in Italien", der, getragen von ein¬
fühlendem Verständnis, in Goethes Worten gipfelt: „Wer Rom gesehen hat.
kann nie wieder ganz unglücklich werden". — In Weltabgeschiedenheit und
Versonnenheit erscheinen uns die Gestalten der Brüder Jakob und Wilhelm
Grimm in der Schilderung des Verfassers, dem die Erinnerung an den Vater
und Onkel gekennzeichnet ist durch die Stille, ihrem eigentlichen Element. „Ich
weiß, wie ich als Kind in ihren Studierstuben leise umhergegangen bin. Nur
das Kratzen der Feder war zu hören, oder bei Jakob manchmal ein leises
Hüsteln. Er beugte sich beim Schreiben dicht auf das Papier, an seinen Federn
war die Fahne tief herunter abgeknappst, und er schrieb rasch und eifrig; mein
Vater ließ die Fahne der Feder bis zur Spitze unvermindert stehen und schrieb
bedächtiger. Die Züge des einen wie des anderen waren immer in leiser Be¬
wegung. Die Brauen hoben und senkten sich; zuweilen blickten sie in die leere
Luft. Manchmal standen sie auf, nahmen ein Buch heraus, schlugen es auf
und blätterten darin. Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß jemand es
wagte, diese heilige Stille zu durchbrechen." Rührend ist es, wenn Jakob und
Wilhelm sich in Göttingen weit fort von ihrer hessischen Heimat fühlen und Jakob
sich damit tröstet, daß an beiden Stellen doch dieselben Sterne am Himmel
stehen. Völlig lebendig werden uns diese Menschen durch die kleinen, feinen
Züge, die Hermann Grimm pietätvoll zu sammeln weiß.

Aber nicht nur die Blutsverwandten erstehen uns lebensvoll im Spiegel
seiner Seele. Wie hübsch ist das Gedenkblatt für Rückert, das er ihm zum
hundertjährigen Geburtstag gewidmet hat! Da sehen wir die ungelenke, hagere
Gestalt des Dichters, der vom Leben nicht mehr verlangte, als den Schatten
der Bäume, die vor seinem Hause standen. Vielleicht ist sein Schaffen nie
besser gekennzeichnet worden als durch die Worte Grimms: „Rückert schrieb
wie die alten Illuminatoren goldene Gedanken in goldene Buchstaben, umrankt
vom Herrlichsten, was die umherschweifende Phantasie zu ersinnen vermag."
In letzter Zeit ist uns durch Neuausgaben seiner Gedichte in Auswahl Ge-
legenheit gegeben worden, dem Dichter wieder näher zu kommen. Erwähnt sei
hier die Rückert-Ausgabe „Haus und Welt" von Stephan List (Verlag von
R. Piper u. Co., München, geb. 3 Mary. Vor wenigen Monaten erst waren
es fünfzig Jahre, daß man den Dichter zu Grabe trug, da sollte er seinem
Volke vertrauter sein, als er es tatsächlich ist. Er bietet ja weit mehr als die
paar Gedichte, die die Schule den Kindern zu übermitteln pflegt, wie z. B. „Vom
Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt", nicht nur die „Geharnischten
Sonette", die Stephan List als kostbare Prunkwaffe in der literarischen Ruhe-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/393>, abgerufen am 22.12.2024.