Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.Um "die öffentliche Meinung" der Harmonie unseres Volkscharakters mit der Doppelseitigkeit von Hingabe Die Verhandlungen im Reichstag sind aufzufassen als der Ausdruck eines Um „die öffentliche Meinung" der Harmonie unseres Volkscharakters mit der Doppelseitigkeit von Hingabe Die Verhandlungen im Reichstag sind aufzufassen als der Ausdruck eines <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330487"/> <fw type="header" place="top"> Um „die öffentliche Meinung"</fw><lb/> <p xml:id="ID_1624" prev="#ID_1623"> der Harmonie unseres Volkscharakters mit der Doppelseitigkeit von Hingabe<lb/> an das staatliche Volksganze und der freien individuellen wissenschaftlichen<lb/> Bildung und geistigen Innerlichkeit. Die Ursachen, die jene Amtsstellen zu<lb/> diesen Übertreibungen geführt haben mögen, liegen wohl zum großen Teil in<lb/> dem noch eingewurzelten, vom alten Polizeistaat herstammenden bürokratischen<lb/> Mißtrauen gegen staatsgefährliche Gesinnung. Wir meinen, daß die Ansichten<lb/> sich an diesen Stellen getrost etwas schneller zur Zeitgemäßheit wandeln<lb/> könnten. Denn: der Riesenkampf heute wird nicht geführt aus Kabinetts¬<lb/> oder Fürsteninteressen. Er ist kein diplomatischer, sondern ein rechter, echter<lb/> Volkskrieg. Wenn Millionen, ja das ganze Volk aufgeboten wird zur Vater¬<lb/> landsverteidigung, so wäre es eine Dummheit zu schelten, wollte man nicht<lb/> einsehen, daß die so geübte patriotische Tat als dem inneren Pflichtgefühl des<lb/> Deutschen entsprechend, wiederum Rechte für das Volk auslösen muß.</p><lb/> <p xml:id="ID_1625" next="#ID_1626"> Die Verhandlungen im Reichstag sind aufzufassen als der Ausdruck eines<lb/> innigen Bedürfnisses, die großen Fragen von Gegenwart und Zukunft zu<lb/> erörtern. Der Krieg hat seinen ursprünglichen Charakter als Abwehr verloren,<lb/> indem er für uns politisch geworden ist. Ohne Kriegsziele unsererseits hat er<lb/> begonnen, aber nun sind mit den heldenhaften Leistungen unserer Heere unsere<lb/> großen Aufgaben gewachsen, die nach Klärung und Verarbeitung verlangen.<lb/> In demselben Maße, wie die Feinde ihre Absichten Stück für Stück zurück¬<lb/> pflöcken müssen, müssen wir wachsen mit den größeren Zielen. Kommt hinzu<lb/> ein weiteres psychologisches Moment, das man nicht übersehen soll! Die<lb/> öffentliche Meinung als Vielheit bedarf dringend einer Aufmunterung, wenn<lb/> nicht Wille und Sinn erlahmen sollen. Die Tageszeitungen empfinden dies<lb/> geminderte Interesse wohl ohne Ausnahme. Es heißt also, von vornherein<lb/> dafür sorgen, daß nicht jener politische Erbfehler des Deutschen die Kluft<lb/> zwischen politischem Können und Wollen, wieder in unsere Zukunft eintritt,<lb/> weil wir zur rechten Zeit den Wert der Heranziehung des Volkes zu den<lb/> neuen weltgeschichtlichen Ideen verkannt haben. Aus all diesen Gründen ist<lb/> die Freigabe der Erörterung der Kriegsziele in den Zeitungen zu fordern.<lb/> Es will uns dünken, daß auch der Generalstabschef von Falkenhayn bei feinem<lb/> Eintreten für die Pressefreiheit von der Front aus diese Gründe als bestimmend<lb/> für sein Verhalten angesehen hat. Die Erfahrung lehrt hier auch, daß eine<lb/> öffentliche Meinung in irgendeiner Angelegenheit nicht totgeschlagen werden<lb/> kann durch das Verbot. Sie sucht dann eben andere Wege und es entsteht<lb/> daraus jenes „Piratentum der öffentlichen Meinung", von dem der Kanzler<lb/> gesprochen hat. Freilich findet dieses Gewährenlassen von Fall zu Fall ihre<lb/> nötige Grenze. Wir erinnern an die Krise mit Nordamerika und stehen auf<lb/> dem Standpunkt, daß die Einheitlichkeit der Politik der obersten Reichsstellen<lb/> gewahrt bleiben muß. Aber die Unlogik, der „Kreuzzeitung" einen scharfen<lb/> Artikel des Herrn v. Hevdebrand zu verbieten und wenige Tage zuvor dem<lb/> „Berliner Tageblatt" einen abwiegelnden Aufsatz des Herrn Professor Delbrück</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0387]
Um „die öffentliche Meinung"
der Harmonie unseres Volkscharakters mit der Doppelseitigkeit von Hingabe
an das staatliche Volksganze und der freien individuellen wissenschaftlichen
Bildung und geistigen Innerlichkeit. Die Ursachen, die jene Amtsstellen zu
diesen Übertreibungen geführt haben mögen, liegen wohl zum großen Teil in
dem noch eingewurzelten, vom alten Polizeistaat herstammenden bürokratischen
Mißtrauen gegen staatsgefährliche Gesinnung. Wir meinen, daß die Ansichten
sich an diesen Stellen getrost etwas schneller zur Zeitgemäßheit wandeln
könnten. Denn: der Riesenkampf heute wird nicht geführt aus Kabinetts¬
oder Fürsteninteressen. Er ist kein diplomatischer, sondern ein rechter, echter
Volkskrieg. Wenn Millionen, ja das ganze Volk aufgeboten wird zur Vater¬
landsverteidigung, so wäre es eine Dummheit zu schelten, wollte man nicht
einsehen, daß die so geübte patriotische Tat als dem inneren Pflichtgefühl des
Deutschen entsprechend, wiederum Rechte für das Volk auslösen muß.
Die Verhandlungen im Reichstag sind aufzufassen als der Ausdruck eines
innigen Bedürfnisses, die großen Fragen von Gegenwart und Zukunft zu
erörtern. Der Krieg hat seinen ursprünglichen Charakter als Abwehr verloren,
indem er für uns politisch geworden ist. Ohne Kriegsziele unsererseits hat er
begonnen, aber nun sind mit den heldenhaften Leistungen unserer Heere unsere
großen Aufgaben gewachsen, die nach Klärung und Verarbeitung verlangen.
In demselben Maße, wie die Feinde ihre Absichten Stück für Stück zurück¬
pflöcken müssen, müssen wir wachsen mit den größeren Zielen. Kommt hinzu
ein weiteres psychologisches Moment, das man nicht übersehen soll! Die
öffentliche Meinung als Vielheit bedarf dringend einer Aufmunterung, wenn
nicht Wille und Sinn erlahmen sollen. Die Tageszeitungen empfinden dies
geminderte Interesse wohl ohne Ausnahme. Es heißt also, von vornherein
dafür sorgen, daß nicht jener politische Erbfehler des Deutschen die Kluft
zwischen politischem Können und Wollen, wieder in unsere Zukunft eintritt,
weil wir zur rechten Zeit den Wert der Heranziehung des Volkes zu den
neuen weltgeschichtlichen Ideen verkannt haben. Aus all diesen Gründen ist
die Freigabe der Erörterung der Kriegsziele in den Zeitungen zu fordern.
Es will uns dünken, daß auch der Generalstabschef von Falkenhayn bei feinem
Eintreten für die Pressefreiheit von der Front aus diese Gründe als bestimmend
für sein Verhalten angesehen hat. Die Erfahrung lehrt hier auch, daß eine
öffentliche Meinung in irgendeiner Angelegenheit nicht totgeschlagen werden
kann durch das Verbot. Sie sucht dann eben andere Wege und es entsteht
daraus jenes „Piratentum der öffentlichen Meinung", von dem der Kanzler
gesprochen hat. Freilich findet dieses Gewährenlassen von Fall zu Fall ihre
nötige Grenze. Wir erinnern an die Krise mit Nordamerika und stehen auf
dem Standpunkt, daß die Einheitlichkeit der Politik der obersten Reichsstellen
gewahrt bleiben muß. Aber die Unlogik, der „Kreuzzeitung" einen scharfen
Artikel des Herrn v. Hevdebrand zu verbieten und wenige Tage zuvor dem
„Berliner Tageblatt" einen abwiegelnden Aufsatz des Herrn Professor Delbrück
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