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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Kriegerisches Prophetentum

ihre Aufhebung, sondern in Wahrheit ihre höchste Erfüllung erfährt. Wenn
deshalb das biblische Volk vor zweitausendfünfhundert Jahren durch den
Schmelztiegel eines hundertjährigen Weltkrieges ging und dabei nichts anderes
lernte, als daß es "eins mit seinem Gotte" sei, so ist das auch Persönlichkeit,
zumal sich dieses Volk mit dem Namen einer Persönlichkeit, seines Stammvaters
Israel, nannte und empfand. Es ist das große nationale lat txvam Ä8i,
dessen Offenbarung wir heute erleben.

Der dritte sittliche Wert, den das kriegerische Prophetentum uns hinter¬
lassen hat, ist die Erkenntnis des einen Gottes, des Herrn aller Reiche und
Völker, des Vaters aller Menschen und Geschöpfe. Es ist eine tragische Ironie,
daß es ein blutiges Völkerringen war, dem wir diese Erkenntnis des Alleinzigen
verdanken. An ihm krampfte sich das im Strudel des Weltgeschehens ver¬
sinkende Israel fest, er war der Strick, den die Propheten ihrem ertrinkenden
Volke zuwarfen.

Indem sie die großen Kriegskatastrophen als "Tag des Herrn" als ihres
Gottes "Völkergericht" kündeten, legten sie in Wirklichkeit diesem Gotte die
ganze Welt zu Füßen:


So sprach der Herr, Gott Israels, zu mir: Nimm diesen Becher mit Wein
aus meiner Hand und laß von ihm all die Böller, zu denen ich dich senden werde,
trinken, daß sie trinken und schwanken und wahnwitzig werden vor dem Schwerte,
daß ich mitten unter sie sende. Da nahm ich den Becher aus Gottes Hand, und ließ
all die Völker trinken, zu denen der Herr mich gesandt hatte: Jerusalem und die
Städte Judas, den Pharao, König von Ägypten, -- Eton und Moab und die
Ammoniter, dazu alle Könige von Tyrus -- und alle Könige Arabiens -- alle Könige
Elams und alle Könige Mediens -- alle, alle Königreiche.

Du sollst aber zu ihnen sprechen: So spricht der Herr der Heerscharen, der
Gott Israels: Trinkt I--

Sollten sie sich aber weigern, den Becher aus deiner Hand zu nehmen, und
zu trinken, so sage ihnen: -- Ihr müßt trinken I Denn fürwahr bei der Stadt, die
nach meinem Namen genannt ist, ich will anheben, Unheil zu wirken -- und ihr
wollt leer ausgehen? Ihr sollt nicht leer ausgehen, denn ein Schwert rufe ich auf
Wider alle Bewohner der Ertel -- ist der Spruch des Herrn der Heerscharen.


(Jer. 26, 1ö ff.)

Hart klingt dieser Spruch, und doch ist in ihm ein gewaltiger Schritt vor¬
wärts getan. Der Prophet, der das kriegerische Weltschicksal mit solchen Augen
sah, hat nicht bloß seinem Volke das Hochgefühl geschenkt, in und mit seinem
Gotte die ganze Welt zu beherrschen, sondern er hat auch der Menschheit ein
Erbe gegeben. Ein Schritt weiter, und wir hören einen anderen Propheten
die Frage stellen: Haben wir nicht alle einen Vater, hat nicht ein Gott uns
geschaffen? Warum handeln wir treulos einer am andern? (Maleachi 2, 10.)

Damit sind wir auf der Höhe der prophetischen Entwicklung angelangt.
Ohne die gewaltigen Kriege jener Zeit kann diese Entwicklung nicht gedacht
werden. Jene hohen prophetischen Menschheitslehren sind alles Kriegslehren


Grenzboten II 1916 24
Kriegerisches Prophetentum

ihre Aufhebung, sondern in Wahrheit ihre höchste Erfüllung erfährt. Wenn
deshalb das biblische Volk vor zweitausendfünfhundert Jahren durch den
Schmelztiegel eines hundertjährigen Weltkrieges ging und dabei nichts anderes
lernte, als daß es „eins mit seinem Gotte" sei, so ist das auch Persönlichkeit,
zumal sich dieses Volk mit dem Namen einer Persönlichkeit, seines Stammvaters
Israel, nannte und empfand. Es ist das große nationale lat txvam Ä8i,
dessen Offenbarung wir heute erleben.

Der dritte sittliche Wert, den das kriegerische Prophetentum uns hinter¬
lassen hat, ist die Erkenntnis des einen Gottes, des Herrn aller Reiche und
Völker, des Vaters aller Menschen und Geschöpfe. Es ist eine tragische Ironie,
daß es ein blutiges Völkerringen war, dem wir diese Erkenntnis des Alleinzigen
verdanken. An ihm krampfte sich das im Strudel des Weltgeschehens ver¬
sinkende Israel fest, er war der Strick, den die Propheten ihrem ertrinkenden
Volke zuwarfen.

Indem sie die großen Kriegskatastrophen als „Tag des Herrn" als ihres
Gottes „Völkergericht" kündeten, legten sie in Wirklichkeit diesem Gotte die
ganze Welt zu Füßen:


So sprach der Herr, Gott Israels, zu mir: Nimm diesen Becher mit Wein
aus meiner Hand und laß von ihm all die Böller, zu denen ich dich senden werde,
trinken, daß sie trinken und schwanken und wahnwitzig werden vor dem Schwerte,
daß ich mitten unter sie sende. Da nahm ich den Becher aus Gottes Hand, und ließ
all die Völker trinken, zu denen der Herr mich gesandt hatte: Jerusalem und die
Städte Judas, den Pharao, König von Ägypten, — Eton und Moab und die
Ammoniter, dazu alle Könige von Tyrus — und alle Könige Arabiens — alle Könige
Elams und alle Könige Mediens — alle, alle Königreiche.

Du sollst aber zu ihnen sprechen: So spricht der Herr der Heerscharen, der
Gott Israels: Trinkt I--

Sollten sie sich aber weigern, den Becher aus deiner Hand zu nehmen, und
zu trinken, so sage ihnen: — Ihr müßt trinken I Denn fürwahr bei der Stadt, die
nach meinem Namen genannt ist, ich will anheben, Unheil zu wirken — und ihr
wollt leer ausgehen? Ihr sollt nicht leer ausgehen, denn ein Schwert rufe ich auf
Wider alle Bewohner der Ertel — ist der Spruch des Herrn der Heerscharen.


(Jer. 26, 1ö ff.)

Hart klingt dieser Spruch, und doch ist in ihm ein gewaltiger Schritt vor¬
wärts getan. Der Prophet, der das kriegerische Weltschicksal mit solchen Augen
sah, hat nicht bloß seinem Volke das Hochgefühl geschenkt, in und mit seinem
Gotte die ganze Welt zu beherrschen, sondern er hat auch der Menschheit ein
Erbe gegeben. Ein Schritt weiter, und wir hören einen anderen Propheten
die Frage stellen: Haben wir nicht alle einen Vater, hat nicht ein Gott uns
geschaffen? Warum handeln wir treulos einer am andern? (Maleachi 2, 10.)

Damit sind wir auf der Höhe der prophetischen Entwicklung angelangt.
Ohne die gewaltigen Kriege jener Zeit kann diese Entwicklung nicht gedacht
werden. Jene hohen prophetischen Menschheitslehren sind alles Kriegslehren


Grenzboten II 1916 24
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[0381] Kriegerisches Prophetentum ihre Aufhebung, sondern in Wahrheit ihre höchste Erfüllung erfährt. Wenn deshalb das biblische Volk vor zweitausendfünfhundert Jahren durch den Schmelztiegel eines hundertjährigen Weltkrieges ging und dabei nichts anderes lernte, als daß es „eins mit seinem Gotte" sei, so ist das auch Persönlichkeit, zumal sich dieses Volk mit dem Namen einer Persönlichkeit, seines Stammvaters Israel, nannte und empfand. Es ist das große nationale lat txvam Ä8i, dessen Offenbarung wir heute erleben. Der dritte sittliche Wert, den das kriegerische Prophetentum uns hinter¬ lassen hat, ist die Erkenntnis des einen Gottes, des Herrn aller Reiche und Völker, des Vaters aller Menschen und Geschöpfe. Es ist eine tragische Ironie, daß es ein blutiges Völkerringen war, dem wir diese Erkenntnis des Alleinzigen verdanken. An ihm krampfte sich das im Strudel des Weltgeschehens ver¬ sinkende Israel fest, er war der Strick, den die Propheten ihrem ertrinkenden Volke zuwarfen. Indem sie die großen Kriegskatastrophen als „Tag des Herrn" als ihres Gottes „Völkergericht" kündeten, legten sie in Wirklichkeit diesem Gotte die ganze Welt zu Füßen: So sprach der Herr, Gott Israels, zu mir: Nimm diesen Becher mit Wein aus meiner Hand und laß von ihm all die Böller, zu denen ich dich senden werde, trinken, daß sie trinken und schwanken und wahnwitzig werden vor dem Schwerte, daß ich mitten unter sie sende. Da nahm ich den Becher aus Gottes Hand, und ließ all die Völker trinken, zu denen der Herr mich gesandt hatte: Jerusalem und die Städte Judas, den Pharao, König von Ägypten, — Eton und Moab und die Ammoniter, dazu alle Könige von Tyrus — und alle Könige Arabiens — alle Könige Elams und alle Könige Mediens — alle, alle Königreiche. Du sollst aber zu ihnen sprechen: So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: Trinkt I-- Sollten sie sich aber weigern, den Becher aus deiner Hand zu nehmen, und zu trinken, so sage ihnen: — Ihr müßt trinken I Denn fürwahr bei der Stadt, die nach meinem Namen genannt ist, ich will anheben, Unheil zu wirken — und ihr wollt leer ausgehen? Ihr sollt nicht leer ausgehen, denn ein Schwert rufe ich auf Wider alle Bewohner der Ertel — ist der Spruch des Herrn der Heerscharen. (Jer. 26, 1ö ff.) Hart klingt dieser Spruch, und doch ist in ihm ein gewaltiger Schritt vor¬ wärts getan. Der Prophet, der das kriegerische Weltschicksal mit solchen Augen sah, hat nicht bloß seinem Volke das Hochgefühl geschenkt, in und mit seinem Gotte die ganze Welt zu beherrschen, sondern er hat auch der Menschheit ein Erbe gegeben. Ein Schritt weiter, und wir hören einen anderen Propheten die Frage stellen: Haben wir nicht alle einen Vater, hat nicht ein Gott uns geschaffen? Warum handeln wir treulos einer am andern? (Maleachi 2, 10.) Damit sind wir auf der Höhe der prophetischen Entwicklung angelangt. Ohne die gewaltigen Kriege jener Zeit kann diese Entwicklung nicht gedacht werden. Jene hohen prophetischen Menschheitslehren sind alles Kriegslehren Grenzboten II 1916 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/381>, abgerufen am 28.07.2024.