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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Kriegerisches Prophetentum

erwuchs, und die in ihrer zwei Jahrhunderte umfassenden Gesamtheit nicht
anders als ein großes Weltgeschehen genannt werden können. Im Grunde ist
es nur das Ringen zwischen zwei alten Weltreichen, was da vor sich geht:
Ägypten, das große Reich des Südens, kämpft mit Assur, dem großen Reich
des Nordens, um die Vorherrschaft in Vorderasien. Als dann Assur, nachdem
es durch den Skytensturm den ersten Stoß bekommen hatte, unter der Gewalt
des babylonischen Angriffs zusammengebrochen war (606 v. Chr.), da trat
Babylon als der Gegner Ägyptens an seine Stelle und zertrümmerte in wenigen
entscheidenden Schlägen das politische Gebäude, das die Pharaonen in Asien sich
errichtet hatten. Bei Karkemis am oberen Euphrat wurde der Pharao Necho
von dem jungen Nebukadnezar (604) zwei Jahre nach der Zerstörung Niniveh
aufs Haupt geschlagen und in sein Land zurückgejagt. Aber auch dem stolzen
Babel war der Tag des Unterganges nicht fern. Die Meder drängten von Norden
nach und schlugen fünfzig Jahre später auch dieses Weltreich in Trümmer. Mit
einem Worte, die siebzig Jahre von 610 bis 540 v. Chr. haben vier Welt¬
reiche stehen und drei stürzen sehen. Dies sind im engsten Umrisse die
kriegerischen Ereignisse, die Israels Propheten den Mund zu gewaltiger Rede
aufgetan haben.

Es ist leicht begreiflich, daß diese Kriege in keinem Lande so widerhallten
wie in Israel und Juda. Es war, wie- schon gesagt, das Grenzland, das
den Norden vom Süden trennte. Wie oft wurde es von den ägyptischen
Heeren durchpflügt, die sich nach Norden wälzten, und wie oft auch prallten in
den Gefilden Judas die Weltreiche zusammen. Was aber das Wichtigste war:
Weil Kanaan so die Brücke war, die vom Norden zum Süden führte, darum
war es ein heißumstrittener Boden. Wer es hielt, hielt den Riegel des feind¬
lichen Tores. So kam es auch, daß die Reiche Israel und Juda oder
wenigstens ihre Könige sich öfters als das Zünglein an der Wage vorkamen,
das sie in Wirklichkeit niemals waren. Jedenfalls wurden die Erschütterungen
des Weltgeschehens nirgends so stark verspürt wie hier. Aber selbst hier
nirgends so stark, wie im Herzen jener sonderbaren Männer, die wir als
Propheten kennen, und deren kriegerischen Reden uns hier beschäftigen sollen.
Sie standen mitten drin in den Kriegen, denn man muß wissen, daß sie nicht
etwa weltfremde Heilige waren, die vom mystischen Dreifuß aus orakelten,
auch nicht mehr nur die Wahrsager, wie sie früher von den Königen Israels
bei Kriegszügen befragt zu werden pflegten, sondern es waren herzhafte Volks-
münner mit ausgesprochenem politischen Sinn, die aus dem Volk heraus fühlten
und mit der urwüchsigen Sprache des Volkes zu reden wußten. Jesaja und
Jeremia waren jeder zu seiner Zeit eine politische Macht, sie durften Volk,
Fürsten, Priester und Könige zur Rede stellen und standen am Steuer des
Staates. Sie hatten eine kühle, ruhige und abwägende Politik, deren Wirk-
lichkeitssinn überraschend ist, wenn man ihre sonst so leidenschaftlichen Naturen
in Erwägung zieht. Während das ganze Land voll unruhiger Köpfe war,


Kriegerisches Prophetentum

erwuchs, und die in ihrer zwei Jahrhunderte umfassenden Gesamtheit nicht
anders als ein großes Weltgeschehen genannt werden können. Im Grunde ist
es nur das Ringen zwischen zwei alten Weltreichen, was da vor sich geht:
Ägypten, das große Reich des Südens, kämpft mit Assur, dem großen Reich
des Nordens, um die Vorherrschaft in Vorderasien. Als dann Assur, nachdem
es durch den Skytensturm den ersten Stoß bekommen hatte, unter der Gewalt
des babylonischen Angriffs zusammengebrochen war (606 v. Chr.), da trat
Babylon als der Gegner Ägyptens an seine Stelle und zertrümmerte in wenigen
entscheidenden Schlägen das politische Gebäude, das die Pharaonen in Asien sich
errichtet hatten. Bei Karkemis am oberen Euphrat wurde der Pharao Necho
von dem jungen Nebukadnezar (604) zwei Jahre nach der Zerstörung Niniveh
aufs Haupt geschlagen und in sein Land zurückgejagt. Aber auch dem stolzen
Babel war der Tag des Unterganges nicht fern. Die Meder drängten von Norden
nach und schlugen fünfzig Jahre später auch dieses Weltreich in Trümmer. Mit
einem Worte, die siebzig Jahre von 610 bis 540 v. Chr. haben vier Welt¬
reiche stehen und drei stürzen sehen. Dies sind im engsten Umrisse die
kriegerischen Ereignisse, die Israels Propheten den Mund zu gewaltiger Rede
aufgetan haben.

Es ist leicht begreiflich, daß diese Kriege in keinem Lande so widerhallten
wie in Israel und Juda. Es war, wie- schon gesagt, das Grenzland, das
den Norden vom Süden trennte. Wie oft wurde es von den ägyptischen
Heeren durchpflügt, die sich nach Norden wälzten, und wie oft auch prallten in
den Gefilden Judas die Weltreiche zusammen. Was aber das Wichtigste war:
Weil Kanaan so die Brücke war, die vom Norden zum Süden führte, darum
war es ein heißumstrittener Boden. Wer es hielt, hielt den Riegel des feind¬
lichen Tores. So kam es auch, daß die Reiche Israel und Juda oder
wenigstens ihre Könige sich öfters als das Zünglein an der Wage vorkamen,
das sie in Wirklichkeit niemals waren. Jedenfalls wurden die Erschütterungen
des Weltgeschehens nirgends so stark verspürt wie hier. Aber selbst hier
nirgends so stark, wie im Herzen jener sonderbaren Männer, die wir als
Propheten kennen, und deren kriegerischen Reden uns hier beschäftigen sollen.
Sie standen mitten drin in den Kriegen, denn man muß wissen, daß sie nicht
etwa weltfremde Heilige waren, die vom mystischen Dreifuß aus orakelten,
auch nicht mehr nur die Wahrsager, wie sie früher von den Königen Israels
bei Kriegszügen befragt zu werden pflegten, sondern es waren herzhafte Volks-
münner mit ausgesprochenem politischen Sinn, die aus dem Volk heraus fühlten
und mit der urwüchsigen Sprache des Volkes zu reden wußten. Jesaja und
Jeremia waren jeder zu seiner Zeit eine politische Macht, sie durften Volk,
Fürsten, Priester und Könige zur Rede stellen und standen am Steuer des
Staates. Sie hatten eine kühle, ruhige und abwägende Politik, deren Wirk-
lichkeitssinn überraschend ist, wenn man ihre sonst so leidenschaftlichen Naturen
in Erwägung zieht. Während das ganze Land voll unruhiger Köpfe war,


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[0372] Kriegerisches Prophetentum erwuchs, und die in ihrer zwei Jahrhunderte umfassenden Gesamtheit nicht anders als ein großes Weltgeschehen genannt werden können. Im Grunde ist es nur das Ringen zwischen zwei alten Weltreichen, was da vor sich geht: Ägypten, das große Reich des Südens, kämpft mit Assur, dem großen Reich des Nordens, um die Vorherrschaft in Vorderasien. Als dann Assur, nachdem es durch den Skytensturm den ersten Stoß bekommen hatte, unter der Gewalt des babylonischen Angriffs zusammengebrochen war (606 v. Chr.), da trat Babylon als der Gegner Ägyptens an seine Stelle und zertrümmerte in wenigen entscheidenden Schlägen das politische Gebäude, das die Pharaonen in Asien sich errichtet hatten. Bei Karkemis am oberen Euphrat wurde der Pharao Necho von dem jungen Nebukadnezar (604) zwei Jahre nach der Zerstörung Niniveh aufs Haupt geschlagen und in sein Land zurückgejagt. Aber auch dem stolzen Babel war der Tag des Unterganges nicht fern. Die Meder drängten von Norden nach und schlugen fünfzig Jahre später auch dieses Weltreich in Trümmer. Mit einem Worte, die siebzig Jahre von 610 bis 540 v. Chr. haben vier Welt¬ reiche stehen und drei stürzen sehen. Dies sind im engsten Umrisse die kriegerischen Ereignisse, die Israels Propheten den Mund zu gewaltiger Rede aufgetan haben. Es ist leicht begreiflich, daß diese Kriege in keinem Lande so widerhallten wie in Israel und Juda. Es war, wie- schon gesagt, das Grenzland, das den Norden vom Süden trennte. Wie oft wurde es von den ägyptischen Heeren durchpflügt, die sich nach Norden wälzten, und wie oft auch prallten in den Gefilden Judas die Weltreiche zusammen. Was aber das Wichtigste war: Weil Kanaan so die Brücke war, die vom Norden zum Süden führte, darum war es ein heißumstrittener Boden. Wer es hielt, hielt den Riegel des feind¬ lichen Tores. So kam es auch, daß die Reiche Israel und Juda oder wenigstens ihre Könige sich öfters als das Zünglein an der Wage vorkamen, das sie in Wirklichkeit niemals waren. Jedenfalls wurden die Erschütterungen des Weltgeschehens nirgends so stark verspürt wie hier. Aber selbst hier nirgends so stark, wie im Herzen jener sonderbaren Männer, die wir als Propheten kennen, und deren kriegerischen Reden uns hier beschäftigen sollen. Sie standen mitten drin in den Kriegen, denn man muß wissen, daß sie nicht etwa weltfremde Heilige waren, die vom mystischen Dreifuß aus orakelten, auch nicht mehr nur die Wahrsager, wie sie früher von den Königen Israels bei Kriegszügen befragt zu werden pflegten, sondern es waren herzhafte Volks- münner mit ausgesprochenem politischen Sinn, die aus dem Volk heraus fühlten und mit der urwüchsigen Sprache des Volkes zu reden wußten. Jesaja und Jeremia waren jeder zu seiner Zeit eine politische Macht, sie durften Volk, Fürsten, Priester und Könige zur Rede stellen und standen am Steuer des Staates. Sie hatten eine kühle, ruhige und abwägende Politik, deren Wirk- lichkeitssinn überraschend ist, wenn man ihre sonst so leidenschaftlichen Naturen in Erwägung zieht. Während das ganze Land voll unruhiger Köpfe war,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/372>, abgerufen am 27.07.2024.