Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Liberale Sammlung

und offenbar das Gefühl, es möchte dringend wünschenswert sein, den un¬
geheuren Aufgaben der kommenden Friedenszeit mit einer möglichst großen und
starken Partei entgegenzutreten. Ob aber das Programm und die Partei¬
geschichte die Einigung wirklich als notwendig und fruchtbar erscheinen lassen,
steht auf einem ganz anderen Blatte. Man ist zwar gewohnt, die National¬
liberalen und die Fortschrittliche Volkspartei unter der gemeinsamen Firma
"Liberale Parteien" zusammenzufassen. -- Eine geschichtliche Prüfung dürfte es
aber zweifelhaft erscheinen lassen, ob die beiden Parteien heute noch auf dem
Boden einer gleichen politischen Grundanschauung stehen.

Der deutsche Liberalismus ist in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts entstanden, aus einer bestimmten und zwar zunächst negativen Dis¬
position des politischen Willens, nämlich der Überzeugung, daß die überlieferte
absolutistische oder landständische Staatsordnung zu beseitigen oder wenigstens
fortzubilden sei. Erst in zweiter Linie meldete sich das Bedürfnis, an die
leere Stelle ein neues politisches Ideal zu setzen. Dieses sah von vornherein
nicht bei allen Liberalen gleich aus. Einige bauten es sich aus den Gedanken
der Romantik und des historischen deutschen Rechtes auf, aber die meisten
gingen bei den westeuropäischen Staatsphilosophen in die Schule und über¬
nahmen die Ideen des Parlamentarismus. Bekanntlich ist der parlamentarische
Gedanke nach schweren Kämpfen bei uns nicht durchgedrungen, sondern der be¬
stehende deutsche Staat repräsentiert eine besondere Form des Konstitution alismus
ohne parlamentarische Regierungsweise. Die Vorfahren der heutigen National¬
liberalen und Fortschrittler haben in erster Linie deshalb getrennte Wege ein¬
geschlagen, weil die einen mit der Realität des Bestehenden frühzeitig Frieden
machten, während die anderen ihrem theoretischen Gewissen folgten und in
Opposition blieben. Heute haben derartige staatsrechtlich begründete Gegen¬
sätze stark an Bedeutung verloren, weil statt dessen wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Fragen den breiten Raum des politischen Lebens beherrschen. So¬
lange nur staatsrechtliche Meinungsverschiedenheiten die Liberalen spalteten,
konnte man immerhin, trotz der vorhin angedeuteten, bereits von Anfang an
nicht ganz einheitlichen geistesgeschichtlichen Herkunft der liberalen Ideen, beiden
Richtungen die gleiche Grundanschauung zubilligen. Das ist aber im Laufe
der letzten zwanzig Jahre anders geworden, und zwar insbesondere durch die
Entwicklung der alten Freisinnigen Partei zur heutigen Fortschrittlichen Volks¬
partei. Wenn jemand vor zwanzig oder noch besser vor fünfundzwanzig
Jahren nach dem leitenden Geist in dieser Parteigemeinde gefragt hätte, so
batie man ihm nur einen Namen nennen dürfen: Eugen Richter. Wird aber
heute diese Frage gestellt, so kann man mit gutem Grund auch fast nur einen
nennen: nämlich Friedrich Naumann. In diesen beiden Namen spricht sich der
ganze große Gegensatz aus. Eine Partei, die sich heute von Friedrich Naumann
ihr geistiges Rüstzeug schmieden läßt, muß eine ganz andere geworden sein als
die, die einst von Eugen Richter beherrscht wurde.


Liberale Sammlung

und offenbar das Gefühl, es möchte dringend wünschenswert sein, den un¬
geheuren Aufgaben der kommenden Friedenszeit mit einer möglichst großen und
starken Partei entgegenzutreten. Ob aber das Programm und die Partei¬
geschichte die Einigung wirklich als notwendig und fruchtbar erscheinen lassen,
steht auf einem ganz anderen Blatte. Man ist zwar gewohnt, die National¬
liberalen und die Fortschrittliche Volkspartei unter der gemeinsamen Firma
„Liberale Parteien" zusammenzufassen. — Eine geschichtliche Prüfung dürfte es
aber zweifelhaft erscheinen lassen, ob die beiden Parteien heute noch auf dem
Boden einer gleichen politischen Grundanschauung stehen.

Der deutsche Liberalismus ist in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts entstanden, aus einer bestimmten und zwar zunächst negativen Dis¬
position des politischen Willens, nämlich der Überzeugung, daß die überlieferte
absolutistische oder landständische Staatsordnung zu beseitigen oder wenigstens
fortzubilden sei. Erst in zweiter Linie meldete sich das Bedürfnis, an die
leere Stelle ein neues politisches Ideal zu setzen. Dieses sah von vornherein
nicht bei allen Liberalen gleich aus. Einige bauten es sich aus den Gedanken
der Romantik und des historischen deutschen Rechtes auf, aber die meisten
gingen bei den westeuropäischen Staatsphilosophen in die Schule und über¬
nahmen die Ideen des Parlamentarismus. Bekanntlich ist der parlamentarische
Gedanke nach schweren Kämpfen bei uns nicht durchgedrungen, sondern der be¬
stehende deutsche Staat repräsentiert eine besondere Form des Konstitution alismus
ohne parlamentarische Regierungsweise. Die Vorfahren der heutigen National¬
liberalen und Fortschrittler haben in erster Linie deshalb getrennte Wege ein¬
geschlagen, weil die einen mit der Realität des Bestehenden frühzeitig Frieden
machten, während die anderen ihrem theoretischen Gewissen folgten und in
Opposition blieben. Heute haben derartige staatsrechtlich begründete Gegen¬
sätze stark an Bedeutung verloren, weil statt dessen wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Fragen den breiten Raum des politischen Lebens beherrschen. So¬
lange nur staatsrechtliche Meinungsverschiedenheiten die Liberalen spalteten,
konnte man immerhin, trotz der vorhin angedeuteten, bereits von Anfang an
nicht ganz einheitlichen geistesgeschichtlichen Herkunft der liberalen Ideen, beiden
Richtungen die gleiche Grundanschauung zubilligen. Das ist aber im Laufe
der letzten zwanzig Jahre anders geworden, und zwar insbesondere durch die
Entwicklung der alten Freisinnigen Partei zur heutigen Fortschrittlichen Volks¬
partei. Wenn jemand vor zwanzig oder noch besser vor fünfundzwanzig
Jahren nach dem leitenden Geist in dieser Parteigemeinde gefragt hätte, so
batie man ihm nur einen Namen nennen dürfen: Eugen Richter. Wird aber
heute diese Frage gestellt, so kann man mit gutem Grund auch fast nur einen
nennen: nämlich Friedrich Naumann. In diesen beiden Namen spricht sich der
ganze große Gegensatz aus. Eine Partei, die sich heute von Friedrich Naumann
ihr geistiges Rüstzeug schmieden läßt, muß eine ganz andere geworden sein als
die, die einst von Eugen Richter beherrscht wurde.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0366" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330466"/>
          <fw type="header" place="top"> Liberale Sammlung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1541" prev="#ID_1540"> und offenbar das Gefühl, es möchte dringend wünschenswert sein, den un¬<lb/>
geheuren Aufgaben der kommenden Friedenszeit mit einer möglichst großen und<lb/>
starken Partei entgegenzutreten. Ob aber das Programm und die Partei¬<lb/>
geschichte die Einigung wirklich als notwendig und fruchtbar erscheinen lassen,<lb/>
steht auf einem ganz anderen Blatte. Man ist zwar gewohnt, die National¬<lb/>
liberalen und die Fortschrittliche Volkspartei unter der gemeinsamen Firma<lb/>
&#x201E;Liberale Parteien" zusammenzufassen. &#x2014; Eine geschichtliche Prüfung dürfte es<lb/>
aber zweifelhaft erscheinen lassen, ob die beiden Parteien heute noch auf dem<lb/>
Boden einer gleichen politischen Grundanschauung stehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1542"> Der deutsche Liberalismus ist in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts entstanden, aus einer bestimmten und zwar zunächst negativen Dis¬<lb/>
position des politischen Willens, nämlich der Überzeugung, daß die überlieferte<lb/>
absolutistische oder landständische Staatsordnung zu beseitigen oder wenigstens<lb/>
fortzubilden sei. Erst in zweiter Linie meldete sich das Bedürfnis, an die<lb/>
leere Stelle ein neues politisches Ideal zu setzen. Dieses sah von vornherein<lb/>
nicht bei allen Liberalen gleich aus. Einige bauten es sich aus den Gedanken<lb/>
der Romantik und des historischen deutschen Rechtes auf, aber die meisten<lb/>
gingen bei den westeuropäischen Staatsphilosophen in die Schule und über¬<lb/>
nahmen die Ideen des Parlamentarismus. Bekanntlich ist der parlamentarische<lb/>
Gedanke nach schweren Kämpfen bei uns nicht durchgedrungen, sondern der be¬<lb/>
stehende deutsche Staat repräsentiert eine besondere Form des Konstitution alismus<lb/>
ohne parlamentarische Regierungsweise. Die Vorfahren der heutigen National¬<lb/>
liberalen und Fortschrittler haben in erster Linie deshalb getrennte Wege ein¬<lb/>
geschlagen, weil die einen mit der Realität des Bestehenden frühzeitig Frieden<lb/>
machten, während die anderen ihrem theoretischen Gewissen folgten und in<lb/>
Opposition blieben. Heute haben derartige staatsrechtlich begründete Gegen¬<lb/>
sätze stark an Bedeutung verloren, weil statt dessen wirtschaftliche, soziale und<lb/>
kulturelle Fragen den breiten Raum des politischen Lebens beherrschen. So¬<lb/>
lange nur staatsrechtliche Meinungsverschiedenheiten die Liberalen spalteten,<lb/>
konnte man immerhin, trotz der vorhin angedeuteten, bereits von Anfang an<lb/>
nicht ganz einheitlichen geistesgeschichtlichen Herkunft der liberalen Ideen, beiden<lb/>
Richtungen die gleiche Grundanschauung zubilligen. Das ist aber im Laufe<lb/>
der letzten zwanzig Jahre anders geworden, und zwar insbesondere durch die<lb/>
Entwicklung der alten Freisinnigen Partei zur heutigen Fortschrittlichen Volks¬<lb/>
partei. Wenn jemand vor zwanzig oder noch besser vor fünfundzwanzig<lb/>
Jahren nach dem leitenden Geist in dieser Parteigemeinde gefragt hätte, so<lb/>
batie man ihm nur einen Namen nennen dürfen: Eugen Richter. Wird aber<lb/>
heute diese Frage gestellt, so kann man mit gutem Grund auch fast nur einen<lb/>
nennen: nämlich Friedrich Naumann. In diesen beiden Namen spricht sich der<lb/>
ganze große Gegensatz aus. Eine Partei, die sich heute von Friedrich Naumann<lb/>
ihr geistiges Rüstzeug schmieden läßt, muß eine ganz andere geworden sein als<lb/>
die, die einst von Eugen Richter beherrscht wurde.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0366] Liberale Sammlung und offenbar das Gefühl, es möchte dringend wünschenswert sein, den un¬ geheuren Aufgaben der kommenden Friedenszeit mit einer möglichst großen und starken Partei entgegenzutreten. Ob aber das Programm und die Partei¬ geschichte die Einigung wirklich als notwendig und fruchtbar erscheinen lassen, steht auf einem ganz anderen Blatte. Man ist zwar gewohnt, die National¬ liberalen und die Fortschrittliche Volkspartei unter der gemeinsamen Firma „Liberale Parteien" zusammenzufassen. — Eine geschichtliche Prüfung dürfte es aber zweifelhaft erscheinen lassen, ob die beiden Parteien heute noch auf dem Boden einer gleichen politischen Grundanschauung stehen. Der deutsche Liberalismus ist in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬ hunderts entstanden, aus einer bestimmten und zwar zunächst negativen Dis¬ position des politischen Willens, nämlich der Überzeugung, daß die überlieferte absolutistische oder landständische Staatsordnung zu beseitigen oder wenigstens fortzubilden sei. Erst in zweiter Linie meldete sich das Bedürfnis, an die leere Stelle ein neues politisches Ideal zu setzen. Dieses sah von vornherein nicht bei allen Liberalen gleich aus. Einige bauten es sich aus den Gedanken der Romantik und des historischen deutschen Rechtes auf, aber die meisten gingen bei den westeuropäischen Staatsphilosophen in die Schule und über¬ nahmen die Ideen des Parlamentarismus. Bekanntlich ist der parlamentarische Gedanke nach schweren Kämpfen bei uns nicht durchgedrungen, sondern der be¬ stehende deutsche Staat repräsentiert eine besondere Form des Konstitution alismus ohne parlamentarische Regierungsweise. Die Vorfahren der heutigen National¬ liberalen und Fortschrittler haben in erster Linie deshalb getrennte Wege ein¬ geschlagen, weil die einen mit der Realität des Bestehenden frühzeitig Frieden machten, während die anderen ihrem theoretischen Gewissen folgten und in Opposition blieben. Heute haben derartige staatsrechtlich begründete Gegen¬ sätze stark an Bedeutung verloren, weil statt dessen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen den breiten Raum des politischen Lebens beherrschen. So¬ lange nur staatsrechtliche Meinungsverschiedenheiten die Liberalen spalteten, konnte man immerhin, trotz der vorhin angedeuteten, bereits von Anfang an nicht ganz einheitlichen geistesgeschichtlichen Herkunft der liberalen Ideen, beiden Richtungen die gleiche Grundanschauung zubilligen. Das ist aber im Laufe der letzten zwanzig Jahre anders geworden, und zwar insbesondere durch die Entwicklung der alten Freisinnigen Partei zur heutigen Fortschrittlichen Volks¬ partei. Wenn jemand vor zwanzig oder noch besser vor fünfundzwanzig Jahren nach dem leitenden Geist in dieser Parteigemeinde gefragt hätte, so batie man ihm nur einen Namen nennen dürfen: Eugen Richter. Wird aber heute diese Frage gestellt, so kann man mit gutem Grund auch fast nur einen nennen: nämlich Friedrich Naumann. In diesen beiden Namen spricht sich der ganze große Gegensatz aus. Eine Partei, die sich heute von Friedrich Naumann ihr geistiges Rüstzeug schmieden läßt, muß eine ganz andere geworden sein als die, die einst von Eugen Richter beherrscht wurde.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/366
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/366>, abgerufen am 27.07.2024.